Gelockerte Fesseln

Das zweite Halbjahr verlief für die litauische katholische Kirche verhältnis­mäßig ruhig; ein spürbares Nachlassen der groben Verfolgungen der Gläubigen und Priester war zu verzeichnen. Kein Priester mußte sich vor Gericht wegen der sogenannten „gesetzwidrigen" Unterweisung der Kinder in den Religions­wahrheiten verantworten, obwohl die Regierungsvertreter der SU, unter Anwendung ihrer „juridischen" Methoden, ohne weiteres so manchen Geistlichen hätten verurteilen können.

Die aus dem Lager entlassenen Priester Juozas Zdebskis und Prosperas Bubnys wurden von den Regierungsfunktionären verhältnismäßig höflich behandelt, man erlaubte ihnen sogar eine Zeitlang in ihren früheren Pfarrgemeinden tätig zu sein.

Ganz anders verhielt es sich vor einem Jahr. Im Herbst 1971 erklärte man dem aus dem Lager Alytus entlassene Pfarrer A. Šeškevičius, daß man ihm, als Rechtsbrecher gegenüber dem Staat, nicht zugestehen könne, als Priester zu arbeiten, folglich müsse er sich einen anderen Beruf suchen. Erst nach großen Anstrengungen von Seiten Pf. A.Šeškevičius, erlaubte ihm Rugienis eine Vikarstelle in der Gemeinde Šilalė, Bistum Telšiai, anzunehmen. Zum ersten Mal in der Geschichte der litauischen katholischen Kirche tolerierte 1972 die Sowjetregierung dekanale Priesterexerzitien. Rugienis erlaubte sogar S.E. Bischof J. Labukas und S.E. Bischof J. Pletkus daran teilzunehmen und zum Thema Geistesleben der Priester zu sprechen. Einige Bischöfe ließen sogar verlauten, daß in Zukunft auch dekanale Seelsorgekonferrenzen genehmigt werden würden.

Anfang Advent sollte die erste Ausgabe der neuen Übersetztung des Neuen Testamentes erscheinen und etwas später der Katechismus. Die Sicherheitsorgane zeigten mehr Zurückhaltung bei ihrer Agentenanwerbung in den Klerikerkreisen.

Worte über die Toleranz

Die Propaganda scheute keine Mühe, um die Humanität der Sowjetregierung gegenüber den Gläubigen und der Religion zu beweisen. „Die Sowjetunion und ihre Regierungsorgane mischen sich nicht ein in die inneren Angelegen­heiten der Kirche, d.h. in ihre kanonische und dogmatische Funktion... wichtig ist die Einhaltung der Sowjetgesetze, die den Religionsgemeinschaften und den Gläubigen ihre Rechte sichern." (Interview von J. Rugienis mit der Redaktion von Tarybų darbas (Sowjetarbeit), 1972, Nr. 9, S. 17-18;. „Die Rechte der Gläubigen zu verteidigen — dies fordert die sozialistische Gerechtigkeit... Personen, die eine Diskriminierung der Gläubigen betreiben, sind zweifellos streng zu bestrafen," schrieb etwas früher der Vorsitzende des Rates für Religionsangelegenheiten V.Kurojedov. Religija ir įstatymai (Religion und Gesetze) 1971. S. 24 — 25.

Den Schülern wird der Atheismus aufoktroyiert

Alle Lehrer jeglicher Fachgebiete sind gezwungen, während ihres Unterrichts, z.B. auch in Physik und Astronomie, den Atheismus zu verkünden. Sogar die Mathematikstunde muß atheistische Elemente aufweisen. In dem für Lehrer bestimmten Büchlein von A. Gulbinskienė und V. Petronis Mokslinis ateistinis auklejimas mokykloje (wissenschaftlich-atheistische Erziehung in der Schule), heißt es: „In der II. - IV. Klasse z.B. sollen die Kinder die überflüssigen Aus­gaben für den Unterhalt der Kirchen und Geistlichen berechnen... Dabei muß unbedingt dargelegt werden, wie man dieses Geld anderweitig zur Verbesserung der Lebensbedingungen der arbeitenden Menschen verwenden könnte" (Kaunas, 1959, S. 33). Besonders die Geschichts-, Literatur- und Sozialkunde­lehrer müssen den Glauben bekämpfen. Die Klassenleiter sind angehalten, atheistische Referate unbedingt im voraus zu planen und sie bei den Klassen­versammlungen zu halten oder halten zu lassen. In den Schulen werden athei­stische Vorträge, atheistische Buchbesprechungen, Frage- und Antwort-Stunden und demonstrative „Wunder"-Abende organisiert. Die atheistischen Propagandisten fragen weder die Eltern noch die Kinder, ob sie atheistisch sein wollen, sondern drängen sich gewaltsam ins Gewissen und erdreisten sich, zu behaupten: „In der Sowjetunion ist die vollkommene Gewissensfreiheit verwirklicht" (J. Anicas und J. Rimaitis,Tarybiniai istatymai apie religinius kultus ir sqzinės laisvę (Sowjetgesetze über die Religionskulte und die Gewissens­freiheit, 1970, S. 17).

Die gläubigen Schüler werden gezwungen, den Organisationen der Pioniere und des Komsomol beizutreten

Die Schüler der ersten Klassen werden eigenmächtig, ohne Einverständnis der Kinder selbst oder der Eltern, in die Pioniere oder in die Organisation der Oktoberrevolution eingeschrieben. Die Kinder werden lediglich angewiesen, sich ein Sternabzeichen oder ein rotes Halstuch zu kaufen. Viele Lehrer besorgen selbst die Sternabzeichen und das Halstuch und gebieten den Kindern, das Geld mitzubringen. Nach der unfreiwilligen Einschreibung wird den Kindern verboten, zu heucheln und in die Kirche zu gehen, da ja ein wahrer Pionier keinen Gott habe. Dies alles tun die Lehrer meist nicht aus eigener

Initiative, sondern auf Befehl des Kultusministeriums. In den meisten litaui­schen Schulen ist das Tragen der roten Halstücher unpopulär und die Kinder vermeiden dies möglichst.

„Die Religiosität der Eltern und der Kinder selbst ist die grundlegende, wenn nicht die einzige treibende Kraft, warum die Kinder sich weigern, in die Organisationen der Pioniere einzutreten. Man kann deshalb in solchen Fällen, wenn das Kind sich weigert einzutreten, schlußfolgern, daß es in einer reli­giösen Familie erzogen wird und auch selber mehr oder weniger religiös ist", so argumentiert B. Bitinas, Spezialist für Schüleratheismus (Religingi mokiniai ir jų perauklėjimas — Religiöse Schüler und dren Umerziehung, 1969, S. 128).

Anläßlich des 50-jährigen Staatsjubiläums der UdSSR 1972-73, wurden die Schüler der höheren Klassen in besonderem Maße angehalten, dem Komsomol beizutreten. Man überzeugte sie davon, daß es viel schwieriger sei, als Nicht­Komsomolze in die höhere Schule zu gelangen. In der Tat werden viele Bewerber abgewiesen, die nicht dem Komsomol angehören. In einigen Schulen behielten 1972 die Erzieher die Schüler 3 - 4 Stunden nach dem Unter­richt zurück und versuchten, sie zum Beitritt zu bewegen. Zur Zeit wird ein immer größerer Unwille der Schüler, diesen Organisationen anzugehören, verzeichnet. Die einen tun dies aus patriotischen, die anderen aus religiösen Überlegungen und wollen nicht wider ihre Überzeugung handeln, die Mehr­heit aber sieht keinen Nutzen darin.

ERZDIÖZESE VILNIUS

Eingabe von 1709 Gläubigen an Breznev betreffend eines Gemeindegebäudes

Ceikiniai

Am 5. September 1972 schrieben die Gläubigen der Gemeinde Ceikiniai, Rayon Ignalia, folgende Eingabe an den Generalsekretär des ZK der KP der UdSSR, L. Breznev:

„Wir bedauern es sehr, wegen solch einer Banalität, wie der Instandsetzung des Pfarrlagerhauses uns sogar an Moskau wenden zu müssen. Dies Vorgehen ruft uns eine Reihe anderer schmerzlicher Begebenheiten ins Gedächtnis, die wir gerne vergessen würden.

In Ceikiniai, unweit des Kirchplatzes, steht ein schadhaftes Pfarrholzlager und ein zerfallenes Wirtschaftsgebäude. An deren Stelle würden wir gerne ein ordentliches Wirtschaftsgebäude aufstellen. Anfang 1971 baten wir um eine Renovierungsgenchmigung. Nach vielen Vorsprachen und Bitten, sagte uns am 27. Mai 1971 der Stellvertretende Vorsitzende des Exekutivkomitees des Rayons Vaitonis, daß wir uns in dieser Angelegenheit an den Bevollmäch­tigten des Religionsrates in Vilnius wenden sollten. Wir befolgten den Rat. Der Bevollmächtigte des Rates aber verwies uns wieder an die Rayonverwaltung. Und so fort — dies dauert bereits 2 Jahre an. Unzählige Male sind wir wegen der Genehmigung herumgefahren und ebenso oft suchten uns die Rayon­funktionäre auf. Darunter der Stellvertretende Vorsitzende des Exekutiv­komitees des Rayon mit einem Untersuchungsrichter, der Finanzabteilungs­leiter, die Miliz, der Rayonarchitekt (sogar 4 mal), einige Male der Ortsvor­sitzende, der Parteisekretär... Sogar drei mal wurden die Dokumente für das gekaufte Renovierungsmaterial überprüft — als ob es sich in der Zwischenzeit vermehrt haben könnte.

Einweisung in Psychiatrische Klinik wegen Aufstellen eines Kreuzes Naujoji Vilnia

In das psycho-neurologische Krankenhaus von N. Vilnia wurde gemäß Befehl des Leiters der Untersuchungsabteilung des Innenministeriums, Laurinaitis, vom 15. Oktober 1972, Vytautas Lažinskas eingeliefert. In der Nacht des 21. Juli 1972 hatte er neben der Straße in Richtung Klaipėda (Memel) hinter Ariogala ein 5,5 m hohes Metallkreuz aufgestellt. Die Regierungsfunktionäre rissen am nächsten Tag das Kreuz nieder und der „Täter" wurde vernommen.

Die Gerichtspsychiatrische Kommission unter der Leitung von Hrn. Glauberzon konstatierte, daß V.Lažinskas bei klarem Bewußtsein sei, keine Abweichungen in physischer und neurologischer Hinsicht bestünden, er sei in guter emouonaier Verfassung, nur das Gedächtnis sei etwas geschwächt. Der Intellekt entspreche der Ausbildung sowie der Lebenserfahrung.

ERZBISTUM KAUNAS

Pfarrer Bubnys nach dem Gefängnis

Girkalnis

Am 10. November 1972 wurde gegen 15.00 Uhr der vor einem Jahr wegen Katechese der Kinder verurteilte Pfarrer Prosperas Bubnys aus dem Straflager in Kaunas entlassen. Der Gefangene wurde von mehreren Priestern und einem Grüppchen Gläubigen empfangen. Einige Angestellte der Lagerverwaltung sahen hierbei ein für diesen Ort ungewöhnliches Bild — ein Rosenstrauß in den Händen des priesterlichen Sträflings.

Am 15. November bereiteten die Choristen in Girkalnis Pfarrer P. Bubnys einen feierlichen Empfang. Der Chor sang während des Gottesdienstes und die Kirche war überfüllt, obwohl der Empfang den Gläubigen nicht bekannt­gegeben worden war. Alle fühlten, daß das im Lager zugebrachte Jahr nicht nur für Pfarrer Bubnys, sondern für die ganze Kirche Litauens einen Gewinn bedeutete.

Rugienis degradiert Pfarrer Pesliakas zum Vikar Juodaičiai

Der Gemeindepfarrer von Juodaičiai, V. Pesliakas, war Juni 1972 zur Kur. Bei seiner Rückkehr erfuhr er, daß die Rayonregierung in Raseiniai ihn bereits ab Mitte Juni suche mit dem Befehl, seine Anmeldepapiere abzuholen und schnellstens die Vikarstelle in Viduklė einzunehmen. S.E. Bischof Labukas erklärte, daß Rugienis die Versetzung verlange und S.E. Bischof Krikščiūnas sagte: „Du hast gut gearbeitet, doch wisse, Bischof Labukas wird nicht wegen Dir zwei Bistümer verlassen und nach Žagarė gehen." (Žagarė ist der Verbannungsort S.E. Bischof Steponavičius. — Red.)

S.E. Bischof Labukas befahl Pfarrer V. Pesliakas die Vikarstelle anzunehmen, ansonsten werde er suspendiert: „Wenn Sie bis einschließlich 20. September 1972 nicht das Amt des Vikars in Viduklė übernehmen, sind sie ipso facto suspensus a divinis." (Verbot, das Priesteramt auszuüben. — Red.) Da Pf. Pesliakas wußte, daß der Bischof nur unter Zwang von Rugienis ihn nach Viduklė versetzte und degradierte, weigerte er sich, an den neuen Bestimmungsort zu reisen.

BISTUM TELŠIAI

Kampf einer Sibirienverbannten um ein Grabdenkmal

Palanga

Familie Astrauskas aus Palanga wurde in den Nachkriegsjahren für 11 qual­volle Jahre nach Sibirien verbannt. Nach Litauen zurückgekehrt fand sie ihr Heim zerstört und die Eltern verstorben. Ende 1971 errichtete sie auf deren Grab auf dem Friedhof von Palanga einen Gedenkstein. Neben dem Eiterngrab reservierte das Ehepaar Astrauskas zwei Plätze für sich und ließ sogleich seine eigenen Geburtsdaten auf dem Stein anbringen. Der wertvolle Gedenkstein war das Werk eines begabten Künstlers. Nur die Stadtverwaltung von Palanga war davon nicht begeistert; die Darstellung auf dem Grabstein erinnerte sie zu sehr an ihre Taten: eine kunstvolle Christusstatue aus Bronze, die mit dem Traktor im Stadtpark niedergerissen und zur Metallverarbeitung gegeben wurde, zwei zerstörte Marienstatuen auf dem Berg Birute, u.s.w. Auf dem Gedenkstein von Astrauskas sah man zerbrochene Kreuze und ein litauisches Mädchen, das betend die Hände faltet — Rette uns, o Herr! Sofija Astrauskas erhielt einen schriftlichen Bescheid, daß gemäß dem Beschluße des Exekutivkomitees vom 13. April 1972 das Gemeindebetriebs­kombinat verpflichtet wurde, den Stein niederzureissen. Die Frau wandte sich an das Exekutivkomitee und an die Miliz, allein man sagte ihr, daß der Gedenkstein schlecht bearbeitet sei, man müsse die Worte „Rette uns, o Herr" auslassen, sowie ihre und ihres Gatten Inschriften vernichten. Frau Astrauskas war damit nicht einverstanden:

·     Ohne das Wort Gottes paßt der Gedenkstein nur vor eine Kneipe, aber nicht auf einen Friedhof. Ich bin katholisch. Ich lebe und werde sterben im Namen Gottes. Ihr seid Atheisten, glaubt nicht an Gott, warum fürchtet ihr dann seinen Namen?

BISTUM PANEVĖŽYS

Verbot des Grabgeleits

Saločiai

Im Dezember 1972 stattete der Stellvertretende Vorsitzende des Exekutiv­komitees in Pasvalis, Stapulionis, der Gemeinde Saločiai einen Besuch ab. Als er den Pfarrer nicht vorfand, begann er selbständig in der Kirche zu „wirtschaften" und entnahm aus der Aushängevitrine die Erklärungen zum Advent.

Später machte er dem Gemeindepfarrer Balaišis Vorhaltungen, er versuche den Leuten Angst und Schrecken einzujagen mit seiner Weltuntergangs­vorhersage zum Jahresende. In dem gestohlenen Aushang war erwähnt, daß die zweite Ankunft Christi beim Weltuntergang erfolgen werde. Stapulionis verbot dem Gemeindepfarrer von Saločiai, die Toten auf den Friedhof zu geleiten.