Am 19. März (Josefstag) 1972 erschien die erste Nummer der „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche". Zehn Jahre später, in Nr. 51 vom 19. März 1982, berichteten ihre Herausgeber über die Anfänge dieser Untergrundpublikation: „Ihr Ziel sollte sein, das Bewußtsein der Katholiken zu wecken, sie aus dem Schlaf zu rütteln, aufzufordern, für die Rechte Gottes, der Kirche und der Gläubigen zu kämpfen. Endlich ist man bei dem Gedanken verblieben, daß die mitteilsamste Sprache die Tatsachensprache ist. Das hat auch die Benennung ,Chronik der Litauischen Katholischen Kirche' entschieden... Im Anbeginn gab es viele Schwierigkeiten, aber als die ,Chronik der L.K.K.' sich in Litauen zu verbreiten begann, nachdem die Gläubigen über den Rundfunk davon erfahren hatten, erreichte immer mehr Material die Redaktion. Die ,Chronik der L.K.K.' wurde mit der Schreibmaschine abgeschrieben, auf elektrographische Weise vervielfältigt und durch vertrauenswürdigste Personen verbreitet, und durch sie flössen auch immer mehr und mehr Informationen in die Redaktion ein."

Als erste und lange Zeit einzige Untergrundzeitschrift in der Litauischen SSR wurde die „Chronik" alsbald zu einem bevorzugten Objekt der Verfolgung durch den sowjetischen KGB. Allein zwischen 1973 und 1980 wurden 14 Männer und Frauen wegen Vervielfältigung und Verbreitung der „Chronik" verhaftet und zu insgesamt mehr als 50 Jahren Lagerhaft verurteilt. Dennoch konnte ihre Verbreitung nicht unterbunden werden, worüber sich die Herausgeber anläßlich des 10jährigen Jubiläums der „Chronik" selbst wunderten: „Die Existenz der , Chronik der L.K.K.' ein Jahrzehnt hindurch unter einem System, wo überall Spione lauern, die mit den besten technischen Verfolgungsmitteln ausgerüstet sind, voller Verräter und Schmeichler, ist beinahe ein Wunder. Am Anfang plante die Redaktion, wenn es gelingen würde, im besten Falle vielleicht zehn Nummern herauszugeben und dann ins Gefängnis zu gehen."

Doch aus den zehn Nummern wurden mittlerweile 81, und die Bedeutung dieser Publikation für das nationale Wiedererwachen der Litauer kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. In einem Brief an die Redaktion heißt es dazu: „Zu einer Zeit, als aller Mund noch verschlossen war, als die Menschenrechte mit Füßen getreten wurden, als die in den Verfassungen wie auch in den internationalen Dokumenten deklarierten Freiheiten gebrochen wurden und über die Opfer noch zynisch gespottet wurde, zu der Zeit des totalen Verbotes der Presse und der freien Rede wagten Sie diese düstere Friedhofsstille zu durchbrechen. Sie wagten, den lügenhaften Vorhang der Propaganda aufzureißen und mit konkreten, unwiderlegbaren Tatsachen zu zeigen, wie es in Wirklichkeit in unserem unglückseligen Litauen zugeht.

Diese Stimme, die am Anfang so einsam, so schüchtern erschien, kam manchem gerade wie ein verzweifelter Hilferuf vor. Mancher dachte über sie zu dieser Zeit vielleicht mit den einst zu dem Doktor Vincas Kudirka gesagten Worten: ,Was kannst du gegen eine solche Macht, - sie werden dich wie eine Fliege zerquetschen.' Diese einsame Stimme verstummte aber nicht. Im Gegenteil, alle bekamen sie zu hören, auch jene, die sie, wie die Gendarmen jener Zeiten, ,wie eine Fliege zerquetschen' wollten; es hörten auch jene, über deren Unrecht sie zu sprechen begann, es hörten unsere Brüder im Ausland, und durch sie auch die ganze Welt. Sie hörten deswegen, weil dieses Wort, weil diese bescheidenen Blättchen, wie eine gewaltige Macht, - die WAHRHEIT in sich trugen.

... Die ,Chronik der L. K. K.' ist heute nicht mehr die einsame Stimme und nicht mehr die einzige Untergrundveröffentlichung. Sie war aber die erste. Sie riß als erste die erdrückende, finstere Stille auf und brach das Eis. Sie bleibt auch weiter ein wichtiges Tribunal, vor dem der diskriminierte Gläubige Litauens seine Stimme erhebt. Die Tatsachensprache der ,Chronik' ist ihr Markenzeichen, ihr Gewicht und ihre Macht. Unter diesem Zeichen schrieb sie in den zehn Jahren eine ganze Seite der Geschichte Litauens, voll mit Fakten einer schweren Unterdrückung, eines heroischen Kampfes und christlicher Aufopferung. Und solange die Unterdrückung andauern wird, solange das Unrecht und der Kampf nicht aufhören werden, - so lange wird auch die ,Chronik der L. K. K' benötigt."

In ihrem mittlerweile 18jährigen Kampf hat die „Chronik" ganz entscheidend zur kraftvollen Erneuerung der Kirche beigetragen. Indem sie für die verbannten Bischöfe Steponavičius und Sladkevičius, für die litauischen Gewissensgefangenen in den Lagern Sibiriens eintrat und authentische Nachrichten über die Kirchenverfolgung veröffentlichte, aktivierte sie eine breite Öffentlichkeit im In- und Ausland (die in den Westen geschmuggelten Exemplare wurden dort in viele Sprachen übersetzt), was zum einen eine moralische Unterstützung der Gefangenen und Verbannten und zum anderen einen immer stärker werdenden Druck auf die sowjetischen Behörden bewirkte. Sie diente auch dem 1978 gegründeten „Komitee für die Verteidigung der Rechte der Gläubigen" als Forum, dessen Mitbegründer A. Svarinskas und S. Tamkevičius 1983 zu langjährigen Strafen in Arbeitslagern und anschließender Verbannung verurteilt wurden. So wurde das mutige Vorbild einzelner zum Ansporn für viele. Bei Unterschriftensammlungen solidarisierten sich Zehntausende von Gläubigen beispielsweise mit der Forderung nach Rückgabe der beschlagnahmten und zweckentfremdeten Kirche in Klaipėda/Memel (150.000 Unterschriften) oder der Forderung nach Freilassung der beiden Priester Svarinskas und Tamkevičius (130.000 Unterschriften).

Inzwischen ist die Regina-Pacis-Kirche in Klaipėda den Gläubigen zurückerstattet worden, ebenso wie zahlreiche andere verstaatlichten Kirchengebäude, vor allem die Zentralkirche Litauens, die Erzkathedrale von Vilnius. Priester Alfonsas Svarinskas, „der 21,5 Jahre für Gott und seine Heimat in sowjetischen Lagern verbracht hatte" (so heißt es in der ihm gewidmeten „Chronik" Nr. 79) wurde vorzeitig aus der Verbannung entlassen, und die letzten litauischen Gewissensgefangenen - Priester Sigitas Tamkevičius, Viktoras Petkus, Balys Gajauskas, Gintautas Iešmantas und Petras Gražulis - kehrten im November 1988 aus Sibirien nach Litauen zurück (ihnen ist die Nr. 80 der „Chronik" vom 8. Dezember 1988 gewidmet). Anfang des Jahres 1989 durfte dann endlich der seit 28 Jahren in den kleinen Ort Žagarė verbannte Apostolische Administrator der Erzdiözese Vilnius, Bischof Steponavičius, in die Hauptstadt zurückkehren und seine Amtsgeschäfte wiederaufnehmen; seit März 1989 ist er nunmehr auch residierender (mit allen Vollmachten ausgestatteter) Erzbischof seiner Diözese (ihm ist Nr. 81 der „Chronik" gewidmet). Mit gleichem Datum wurde der Vorsitzende der litauischen Bischofskonferenz, der lange Zeit amtsbehinderte und 1988 zum Kardinal erhobene Bischof Sladkevičius (dem die Nr. 78 der „Chronik" gewidmet wurde) zum residierenden Erzbischof von Kaunas ernannt. Die staatliche Einmischung in innerkirchliche Angelegenheiten hörte auf, die Zulassungsbeschränkungen für das Interdiözesan-Priester-seminar in Kaunas wurden aufgehoben und das Priesterseminar in Telšiai (die dritte Diözese mit einem Bischof-Ordinarius) konnte seine Pforten wieder öffnen.

So konnte die am 19. März 1989 erschienene Nummer 81 der „Chronik" eine erfreuliche Verbesserung der Lage der Kirche und der Beziehungen zwischen Kirche und Staat konstatieren, beantwortete jedoch in ihrem Leitartikel die von vielen gestellte Frage, „wie es mit dem weiteren Schicksal der ,Chronik der L.K.K.' aussehe, wenn sich die Beziehungen zwischen der Kirche und dem Staat bessern", mit der Feststellung, die Aufgabe der „Chronik", nämlich „die reale Lage der Kirche und der Gläubigen stets festzuhalten", bleibe unverändert bestehen und man bitte auch weiterhin um Einsendung von Material über die Lage der Katholischen Kirche Litauens. Doch ist seither keine weitere Nummer der ,Chronik' mehr erschienen, die Gründe hierfür sind wohl doch in der weiterhin zunehmenden Entspannung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat zu suchen.

Denn inzwischen hat sich bekanntlich im Baltikum, vor allem in Litauen, vieles, unerhört Neues ereignet, und im Zuge dieser Entwicklung löste sich das litauische Parlament aus seinem Schattendasein, wartete nicht länger auf Direktiven und Genehmigungen aus Moskau, sondern begann selbständig zahlreiche gesetzgeberische Aktivitäten zu entfalten, die nicht zuletzt auch das Verhältnis Staat-Kirche auf eine völlig neue Grundlage stellten.

Den Anfang machte bereits der alte, noch von Kommunisten beherrschte Oberste Sowjet der Republik im November 1989, indem er den mit dem Artikel 52 der Unionsverfassung übereinstimmenden Artikel 50 der Verfassung der Litauischen SSR durch eine Neufassung ersetzte, die den Forderungen des Episkopats der Katholischen Kirche Litauens (vgl. „Chronik" Nr. 80) und den Formulierungen der KSZE-Schlußakte von Helsinki (1975) entspricht. Damit hatte Litauen als erste Sowjetrepublik eine wirkliche Religions- und Gewissensfreiheit in der Verfassung verankert, deren Artikel 50 nunmehr folgenden Wortlaut hatte:
„In der Litauischen SSR wird die Freiheit der Meinung, des Gewissens, des Glaubensbekenntnisses oder des Nichtglaubens garantiert, ebenso das gleiche Recht, allein oder in Gemeinschaft mit anderen und in friedlicher Form seine Überzeugungen und Ansichten auszudrücken und zu verbreiten. Niemand darf jemanden zwingen oder selbst von jemandem gezwungen werden, gegen sein Gewissen und seine Überzeugungen zu handeln oder sich zu verhalten.

Die staatlichen Institutionen, darunter auch die Schul- und Erziehungsanstalten, sind weltlich. Diese Institutionen und Einrichtungen arbeiten mit der Kirche und den anderen religiösen Organisationen zum Zwecke der Heranbildung der sozialen Sittlichkeit zusammen.
Der Kirche und den anderen religiösen Organisationen wird der Status einer juristischen Person verliehen und das Recht auf selbständige Einrichtungen ihres inneren Lebens garantiert".
Diese Neufassung des Verfassungsartikels über die Gewissensfreiheit, in der bewußt auf die alte Formel der Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche verzichtet worden war, wurde nach der litauischen Unabhängigkeitserklärung vom 11. März 1990 in das anstelle der für ungültig erklärten Sowjetverfassung verabschiedete „Provisorische Grundgesetz der Republik Litauen" wörtlich (nur der Begriff „Litauische SSR" ist ersetzt durch „Republik Litauen") als Artikel 31 übernommen. Sie hatte bereits Ende 1989 eine Vereinbarung zwischen der damaligen litauischen Regierung und der litauischen Bischofskonferenz über die Einführung eines fakultativen Religionsunterrichts in den Schulen ermöglicht, die in einer gemeinsamen Erklärung von Kardinal Sladkevičius und Erziehungsminister Zabulis vom Dezember 1989 bekanntgegeben wurde. Danach werden jetzt, auf Antrag der Eltern, Pfarrschulen eingerichtet, für die das Erziehungsministerium geeignete Räume in den Schulgebäuden kostenlos zur Verfügung stellt, während die Ernennung der Religionslehrer und der Inhalt des Religionsunterrichts in die ausschließliche Amtsgewalt der Bischofskonferenz fällt.

Im Februar 1990 verabschiedete das litauische Parlament sodann ein Gesetz „Über die Rückgabe von Gebetshäusern und anderen Einrichtungen an die religiösen Gemeinschaften". Darin wird die Verordnung aus dem Jahre 1948 „Über die Verstaatlichung von Gebetshäusern und Klostergebäuden sowie von Wohnhäusern religiöser Gemeinschaften" außer Kraft gesetzt und den derzeit noch über diesen verstaatlichten Kirchenbesitz verfügenden Institutionen aufgetragen, „bis zum 1. Juli 1990 mit den religiösen Zentren und Gemeinschaften übereinzukommen und Fristen für die Rückgabe der Gebäude, die der Kirche und den religiösen Organisationen gehören, oder eine finanzielle Entschädigung bzw. die Übergabe und Ausstattung sonstiger Gebäude oder andere Maßnahmen festzulegen."

Den Abschluß dieser positiven Entwicklung bildet ein am 14. Juni 1990 (Fronleichnamstag) vom litauischen Parlamentspräsidenten Landsbergis, Ministerpräsidentin Prunskienė und Kardinal Sladkevičius als Vorsitzenden der litauischen Bischofskonferenz unterzeichnetes Abkommen, das der katholischen Kirche in Litauen volle Freiheit garantiert: Kircheninterne Angelegenheiten sollen ohne jegliche staatliche Einmischung behandelt werden, und für die Aufgaben der Caritas, der religiösen Erziehung und des kulturellen Engagements wird der Kirche freie Hand gelassen. Dort, wo die Kirche für das Gemeinwohl tätig wird, verpflichtet sich der Staat zur Gewährung finanzieller Beihilfen.
Das Abkommen beruht auf einem zwei Tage zuvor vom litauischen Parlament verabschiedeten „Restitutionsakt über den Status der Katholischen Kirche in Litauen", der die alleinige Zuständigkeit für alle kirchlichen Fragen von den Moskauer Zentralbehörden an die litauische Regierung übertrug.

In seiner großen Rede anläßlich der Sondersitzung des litauischen Parlaments am 15. Juni (zum Gedenken an die sowjetische Besetzung Litauens am 15. Juni 1940) bezeichnete Präsident Landsbergis diesen „Restitutionsakt" als „Sühne und Dank" des litauischen Staates und Volkes gegenüber der katholischen Kirche für deren „besondere Rolle im Kampf gegen die Gewalt und den geistigen Niedergang" und für die „riesigen Opfer", die sie in diesem Kampf erleiden mußte. Kardinal Sladkevičius seinerseits dankte in einem Brief an Landsbergis und Regierungschefin Prunskienė der Staatsführung für ihre Entschlossenheit, „die Beziehungen zwischen Staat und Kirche in Litauen im Geiste des gegenseitigen Verständnisses zu regeln"; er verlieh seiner festen Zuversicht Ausdruck, „daß die Kirche, die zusammen mit dem Volk viele Stunden des Leidens ertragen hat, frei und ohne Einschränkungen ihrem Auftrag wird nachkommen können". So kann man davon ausgehen, daß das Verhältnis zwischen Kirche und Staat in Litauen in Zukunft sehr zufriedenstellend geregelt werden kann, wenn nur Moskau, das nach Angaben von Frau Prunskienė bis zuletzt der litauischen Regierung die Kompetenz in kirchlichen Angelegenheiten mit juristischen Argumenten streitig zu machen versuchte, sich einer Einmischung enthält.

Indem wir dies hoffen, beschließen wir mit dem vorliegenden Band fürs erste die deutsche Ausgabe der „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche", die von allen „Samizdaf'-Publikationen in der UdSSR die längste ununterbrochene Erscheinungsdauer vorweisen kann. Sollten wider Erwarten doch noch weitere Nummern der „Chronik" in Litauen erscheinen, werden auch wir wieder unserem Informationsauftrag in geeigneter Form nachkommen. Im Grunde aber müssen wir hoffen, daß dies nicht nötig sein wird!
Königstein, im Oktober 1990 Ernst Benz


INSTITUTUM BALTICUM
ALBERTUS-MAGNUS-KOLLEG/
HAUS DER BEGEGNUNG E.V.


Chronik der 

Litauischen Katholischen Kirche

Nr. 78-81


(Lietuvos Katalikų Bažnyčios Kronika) 

Herausgegeben von Ernst Benz

ACTA BALTICA
1991
KÖNIGSTEIN IM TAUNUS


Herausgeber: Institutum Balticum im Albertus-Magnus-Kolleg / Haus der Begegnung e.V. Bischof-Kaller-Str. 3, 6240 Königstein im Taunus, Redaktion: Dr. Ernst Benz Verlag: Selbstverlag des Herausgebers Nachdruck ist nur mit Genehmigung des Institutum Balticum gestattet. Herstellung: Druckerei Strobach, Hanauer Landstr. 226, 6000 Frankfurt 1

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