(Die „Chronik der LKK" ist der Meinung, daß die Veröffentlichung des Namens dieses Lehrers vorläufig unzweckmäßig ist.)

Ich besuchte das Gymnasium der Zarenzeit. Die Lehrer versuchten mich zu ihrem Patrioten zu erziehen und schwärzten deshalb den Katholizismus an. Mit dem unkritischen Verstand eines Jugendlichen habe ich damals blind alles angenommen, was mir geboten wurde. Ich schwärmte für die damals modi­schen Ideen des Positivismus, die besagen, real sei nur das, was materiell und greifbar sei. Das Gymnasium verließ ich als überzeugter Materialist und selbstverständlich auch als Atheist. Nachdem der Kanonendonner des Zwei­ten Weltkrieges verstummt war, wählte ich den Lehrerberuf und gab mich ganz der Unterrichtsarbeit hin. 1924 trat ich der neugegründeten „Frei-denkergesellschaft der ethischen Kultur" bei. Unter Schülern und Erwachse­nen verbreitete ich die Ideen des Atheismus und dachte, daß eine der Ur­sachen von Not und Unwissenheit des einfachen Volkes dessen Religiosität sei. Also habe ich die Religion bekämpft.

Später haben mich verschiedene Schicksalsschläge und Prüfungen des Lebens zur Uberprüfung meiner weltanschaulichen Grundposition gezwungen. Der Verstand eines an Jahren Gereiften war von den Eindrücken und Emotionen der Jugendzeit befreit, und deshalb konnte ich jetzt vieles in einem anderen Licht sehen. Mein „Glaube" an den Materialismus geriet ins Wanken: ich er­kannte, daß seine philosophischen Grundlagen zu schwach sind, daß er eine ernstere und befriedigende Antwort auf die wichtigsten Lebensfragen schul­dig bleibt, und daß die Religion etwas ganz anderes ist, als das, was ich aus atheistischen Broschüren kennengelernt hatte. Gott erschien mir als die einzig vernünftige Antwort auf das Problem des Lebens, und ich nahm Abschied vom Atheismus. Diesen Schritt vollzogen viele Menschen meiner Generation, unter ihnen auch der berühmte Professor für Physik, V. Čepinskis. Zu meinem Leidwesen hatte ein Teil meiner Schüler sich meine früheren Ideen angeeignet, von denen ich mich schon losgesagt hatte. Einige von ihnen waren von K. Marx begeistert. Als im Juni 1941 (in Wirklichkeit: 1940; Juni 1941 begann bereits der Krieg zwischen Deutschland und Rußland; Anm. d. Ubers.) die Einheiten der Roten Armee nach Litauen einmarschierten, mußte ich weinen, weil sich an den von Ausländern veranstalteten Demonstrationen auch viele meiner ehemaligen Schüler aktiv beteiligten. Diese jungen Men­schen waren kopflos geworden — sie waren zum Dienst fremder Götter übergegangen. Sie haben auf die Ideale gepfiffen, die mir als Litauer sehr teuer waren und für die ich zur Zarenzeit unter den Gendarmen zu leiden hatte. Da begriff ich, daß meine gesamte freidenkerische Tätigkeit objektiv den Interessen der Feinde Litauens gedient hatte.

Dann kam die deutsche Besatzung. Mit den braunen „Befreiern" kollaborier­ten nicht diejenigen, die nach den Idealen von Šaltinėlis (Kleine Quelle) oder Ateitis (Zukunft) (katholische Kinder- bzw. Jugendzeitschriften; Anm. d. Ubers.) erzogen worden waren, sondern diejenigen, die ihre geistige Nahrung aus Laisvoji mintis (Der freie Gedanke) bezogen hatten. Die Mehrzahl die­ser Kollaborateure war nicht um die Interessen des Volkes besorgt, sondern um einen warmen Platz an der Seite der Okkupanten.

Als 1944 die Rote Armee zurückkehrte, bin ich weiterhin als Lehrer tätig geblieben, gab aber die atheistische Arbeit auf. Einmal las ich in der Klasse die Satiren von V. Kudirka vor. Dafür wurde ich verhaftet. Welche Ironie des Schicksals! Im Verhörraum fand ich einen ehemaligen Schüler von mir vor ... Ich konnte es nicht fassen, daß mein ehemaliger Schüler seinem Lehrer gegenüber so viel Haß zeigen konnte, daß er mit einem Zynismus sonderglei­chen darüber spottete, was mir als Litauer heilig und teuer war . .. Da er­kannte ich: wenn im Menschen keine tiefreligiösen Wurzeln vorhanden sind, kann er zum Vieh und Raubtier werden — sein Ideal ist dann nicht mehr die Wahrheit, sondern ein warmer Sessel.

Heute stehe ich bereits mit einem Bein im Grab. Eine zehnjährige Odyssee durch den Archipel Gulag, zu der mir die neuen „Befreier" verholfen haben, war für mich die Gelegenheit zu einem tieferen Kontakt mit Gott. Heute ist es für mich außerordentlich schmerzvoll, daß ich die besten und fruchtbarsten Jahre meines Lebens zum Kampf gegen IHN vergeutet habe. Ich glaube, daß der Hergott mir vergeben wird: ich war Opfer gewisser Umstände. Die letz­ten 35 Jahre meines Lebens haben mit schmerzvollen Stunden nicht gegeizt, aber sie haben mir auch die Augen geöffnet. Dafür bin ich Gott dankbar. Nur eines beunruhigt mich, daß ich nicht wiedergutmachen kann, was ich Schlech­tes getan habe durch das Ausstreuen der Saat der Gottlosigkeit in den Her­zen meiner Volksgenossen.

Jetzt richte ich den Blick auf meine jüngeren Kollegen, auf Dich, Lehrer von heute:

Die Partei hat Dich als Handlanger eingespannt. Sie hat das Ziel, daß Du durch Bekämpfung der Religion in der Klasse die jungen Seelen umerziehst, wie einst die Kreuzritter oder Tataren, die unsere Kinder raubten und um­erzogen und sie in den Kampf gegen unser Volk zu schicken pflegten .. .

Wenn Du das tust — denn der Kampf gegen die Religion ist zugleich die Zersetzung der sittlichen Grundwerte des Volkes — dann tust Du das nur deshalb, weil Du die rechte Orientierung verloren hast, weil Du nicht richtig informiert bist. Anders kann es auch gar nicht sein: Denn ist bei uns, wie in anderen Ländern, die religiöse und philosophische Information frei zugäng­lich? Du weißt nicht, daß Du durch Deine atheistische Arbeit Dein Volk schädigst.

Nach offiziellen Angaben hat über ein Drittel der Lehrer in Litauen keine Hochschulbildung, und von den Hochschulabsolventen haben viele ihr Diplom durch Fernstudium erworben. Dir fällt es deshalb schwer, im Kampfstadion der Ideen den Überblick zu behalten.

Auch wirtschaftlich gesehen hast Du es schwer. Die Inflation zehrt immer mehr am Rubel. Deshalb, wenn Du auf dem Lande arbeitest und Deine Familie durchbringen willst, bist Du gezwungen, eine Kuh zu halten, Schweine und Hühner zu füttern und in der Stadt — Dich um einen Neben­verdienst zu kümmern.

Und trotzdem mußt Du Zeit finden für das Buch. In den Kriegsjahren und den darauffolgenden haben die „Befreier" viel an Literatur vernichtet, die Dir zur Orientierung in Fragen der Religion und Geschichte unseres Volkes verholfen hätte. Benutze die vorhandene Literatur. Wir haben Werke von J. Jurginis, R. Vebra, V. Merkys, B. Genzelis und H. Tyla. Die Mehrzahl dieser Werke ist sehr tendenziös und ihrem Geist nach nicht litauisch. Aber bei kritischer Wertung wirst Du Dir selber die Fragen beantworten können, warum die theistische Zarenregierung mit solch drakonischen Maßnahmen die katholische Kirche bekämpfte, und warum die neuen Herren Litauens gegen dieselbe Kirche einen ähnlichen Kampf führen.

Nach der Aussage von R. Vėbra „hat Muravjov die katholische Kirche zur politischen Häresie deklariert", und alle Katholiken — politisch Un­zuverlässigen. Im Gouvernement Kaunas, das fast ausschließlich von Li­tauern bewohnt war, bedeutete der Begriff „Katholik" für die zaristischen Verwaltungsstellen dasselbe wie der Begriff „Litauer". Die Zarenregierung betrachtete die religiös-konfessionelle Assimilation als ersten Schritt der Entnationalisierung Litauens. Die Verfolgung anderer Konfessionen war nur eine Erscheinungsform der nationalen Unterdrückung. R. Vebra behauptet, daß M. Muravjov in Litauen ein doppeltes Ziel verfolgt hat: „Entnationali­sierung und Isolierung der Schulen vom Einfluß der katholischen Kirche". Geht heute der Kampf nicht in der gleichen Richtung weiter? Viele sowjeti­sche Historiker geben zu, daß die katholische Kirche Litauens subjektiv um die Erhaltung des katholischen Glaubens bemüht war, objektiv aber die von der Zarenregierung betriebene Entnationalisierungspolitik des litauischen Volkes vereitelt hat.

Ist heute die katholische Kirche in Litauen nicht zur gleichen Mission auf­gerufen?

In einigen atheistischen Presseorganen wird ab und zu offen ausgesprochen, warum die katholische Kirche so erbittert bekämpft wird, weil sie nämlich die „veralteten" Traditionen und die „religiösen Vorurteile" hütet, die Litauer von Mischehen abhält und dadurch zum Bremsklotz für die „Ver­schmelzung", das heißt die Russifizierung wird.

Ein Litauer, der die Kirche bekämpft, ist der Totengräber seines Volkes, denn die Kirche ist die einzige noch nicht verbotene Institution, die für die Erhaltung der litauischen Traditionen kämpft, und fast die einzige Lehrerin der Sittlichkeit.

Die Imperialisten haben den Stellenwert des atheistischen Kampfes in ihren Plänen genau erfaßt. Und wir, indem wir blind der atheistischen Propa­ganda dienen, helfen ihre Pläne zu verwirklichen. Die autodidakten Dorf­lehrer in der Zarenzeit und die am Spinnrad beschäftigten aber zugleich ihre Kinder unterweisenden Mütter haben das Selbstbewußtsein unseres Volkes bewahrt. Die Buchträger haben den Litauer zum Selbstunterricht und eigen­ständigem Denken angestachelt. Heute aber wird unser Lehrer als Totengrä­ber des litauischen Volkes eingesetzt... Leider kann das ein Teil meiner jün­geren Kollegen nicht begreifen. Die Zukunftsvisionen eines Valancius, Basan-navicus, Kudirka und Maironis zu begraben, ist der Lehrer unserer Tage be­auftragt ...

Was wird mit uns in nächster Zukunft? Der Lehrer erweckt ein Volk, aber er begräbt es auch ... In meinen alten Tagen habe ich es sehr schwer — ich sehe keinen Lichtblick ...

TARYBINIS MOKYTOJAS* SCHREIBT

* Tarybinis Mokytojas (Der Sowjetlehrer)

„.. . in den Sommerferien kommt auch die Einwirkung der atheistischen Erziehung zum Erschlaffen. Und diese Situation wollen die Kirchgänger, die religiösen Babuschkas und andere auf die Verbreitung von religiösen Vor­urteilen bedachten Personen ausnutzen. Sie aktivieren ihre Tätigkeit. Und zu allererst richtet sich ihr Blick auf die Schüler der unteren Klassen, auf die Zöglinge der Volksschulen, die im Sommer tatsächlich der Schule am stärk­sten entfremdet werden. Dabei verstehen die Religionsanhänger mit Bonbons und anderen Leckereien die Kleinen anzulocken und versuchen dann, die Kin­der mit dem Spinngewebe religiöser Vorurteile zu umgarnen. Oft geschieht das ohne Wissen und Einverständnis der Eltern und Vorgesetzten ... Es macht uns betroffen, daß die so jungen, zarten Herzen verkrüppelt, daß die Kleinen zur Heuchelei angeleitet werden, daß ihr Bewußtsein in die Schleier der Dunkelheit verstrickt wird ...

Deshalb muß jeder Klassenlehrer, jeder Erzieher, besonders jeder Lehrer der bäuerlichen Volksschulen mit den Eltern engen Kontakt pflegen und mit Aufmerksamkeit dafür sorgen, daß kein einziges Kind in die Fallstricke der Kirchgänger geraten kann. .. Die während des Schuljahres betriebene atheistische Erziehung darf auch während der Sommerferien nicht auf­hören .. ." (den 30. Mai 1975).

„Die Sommerferien werfen für die atheistische Erziehung einige Probleme auf. Es gibt noch Fälle, wo man die Schüler der unteren Klassen in den Voll­zug von religiösen Zeremonien einzuspannen versucht. Die Lehrer müssen die Familien, in denen religiöse Traditionen noch gepflegt werden, ständig im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit behalten. Eine geduldige und hartnäk-kige individuelle Arbeit mit religiös orientierten Eltern und ihren Kindern ist eine Notwendigkeit. Zur Verbesserung der atheistischen Arbeit trägt das Atheistische Museum der Litauischen SSR viel bei. Aber es ist schlimm, daß einige Schulen der Republik ihre Ausflüge zu diesem Museum gar nicht sehr oft organisieren. Unentschuldbar selten haben im Jahre 1974 die Schulen im Rayon Vilkaviškis, Mažeikiai, Šilalė, Švenčionys, Tauragė, Telšiai, N. Jo-niškis, Širvintos und Zarasai Ausflüge zum Atheistischen Museum durchge­führt" (den 13. Juni 1975).

Anmerkung der Redaktion: Trotz aller den Lehrern von der Regierung auf­erlegten Verpflichtungen haben vom Beginn der Sommerzeit rund Zehntau­sende von Kindern in Litauen damit begonnen, sich auf die erste Beichte und Kommunion vorzubereiten. Die Entgegennahme von Süßigkeiten und Unter­weisungen ohne das Wissen der Eltern kommt nicht in Frage ...