Die „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche" bringt hier schriftlich verbreitetes Gedankengut, das dem Denken und Empfinden vieler Litauer entspricht.

„30 Jahre sind vergangen seitdem die Kriegsfeuer erloschen sind. Darüber muß man sich freuen, aber ein Litauer hat auch Anlaß zur Trauer. Das Ne-munasland ist wie eine Erbse am Wegrand, die vom Westen und Osten getre­ten wird. Die einen sprachen vom „tausendjährigen Reich", nun reden die anderen vom ewigen. Die braunen „Befreier" planten, „ungeeignete Litauer" am Ural anzusiedeln, die Roten haben noch weitreichendere Pläne: nämlich die Litauer über ganz Sibirien zu zerstreuen. Es ist schwer, in unserem Volk eine Familie zu finden, deren Angehörige nicht „freiwillig" zum Anschauen des weißen Bären hinausgefahren wären ... Die Familien der Verbannten des Jahres 1941 wurden auseinandergerissen — die Männer abgesondert. Die

Ausbeuter der Sklaven des 20. Jahrhunderts haben aus den Verbannten die arbeitsfähigen herausgesucht und mit 400 Gramm Brotration pro Tag ein­gesetzt, die übrigen mußten mit 200 Gramm auskommen... Kleinkinder sterben nicht nur in Afrika, wo Dürre herrscht, sondern auch im Land des kommunistischen Humanismus, in dem Menschen bestimmter Kategorien zu Sklaven gemacht wurden. Die Verbannten aus Litauen bekamen öfters zu hören: „Zum Krepieren hat man euch hierhergebracht!" Und das war kein leeres Gerede: die Gebeine von Kindern litauischer Mütter sind verstreut vom Ural bis Magadan, von den kalten Zonen um Archangelsk, Vorkuta und Norilsk bis zum heißen Kasachstan.

Es bestand der Plan, ein „Litauen ohne Litauer" zu schaffen, denen ein ähn­liches Schicksal zugedacht war wie den Kalmüken, Tataren und anderen klei­nen Völkern, die vertrieben und im Schmelztiegel der „brüderlichen Natio­nen" miteinander vermengt wurden. Welch ein Glück, daß diese „Geschichts­entwicklung" durch Stalins Tod verhindert wurde, der eine gewisse Erleich­terung brachte, denn man verzichtete auf die grobphysische Vernichtung eines Volkes. Nun aber ist man zur moralischen Vernichtung eines Volkes über­gegangen.

Litauen ist aus den Trümmern des Krieges wiedererstanden, aber nicht so, wie das im Vertrag vom 12. Juli 1920 in Moskau vorgesehen war. Die So­wjetunion hält ihre Verträge nicht: 20 000 km2 wurden von Litauen abge­trennt und an Weißrußland und Polen abgegeben. 40 000 Litauer, die zur Zeit der polnischen Besatzung litauische Schulen besuchen durften, sind heute für das litauische Volk verloren. Und wer versuchte, für das Recht zum litauischen Unterricht zu kämpfen, bekam die harte Faust von Minsk zu spüren.

Im Orkan des letzten Weltkrieges hat Litauen rund 540 000 Menschen ver­loren. Die größere Hälfte davon ist nach dem 9. Mai 1945 umgekommen. Nach Angaben der amtlichen Statistik leben heute trotz der Zuwanderungs­flut durch die Kolonisatoren in Litauen 40 000 Personen weniger als nach der Volkszählung von 1897.

Man freut sich über Freiheit, wer aber wird die Gefallenen und Gefangenen von gestern und heute und die Verfolgten zusammenzählen? Man ist stolz auf neue Wohnstätten und Häuser, aber man spricht nicht über die verwüsteten und verlassenen Höfe, über die vernichteten und verfallen­den Baudenkmäler, die einstürzenden, aber unter Renovierungsverbot ge­stellten Kirchen, über die von Kindern weggeschleppten kostbaren Orgel­pfeifen und zerschlagenen Statuen.

Man brüstet sich mit der Industrialisierung des Landes (zu diesem Zweck werden fehlende Arbeitskräfte aus den „brüderlichen Republiken" geholt), man verschweigt aber die Zerstörung der Natur. Erdgas wird zu Wucher­preisen an das Ausland verkauft, aber die Heizkraftwerke in Litauen müssen mit Masut feuern und die Umwelt verschmutzen.

Man spricht von Tausenden Litern Milch, wir aber ertrinken in einem Strom von Millionen Litern Alkohol, in dem die physische und moralische Kraft unseres Volkes zugrunde geht. Ein Ausblühen von Kultur und Wissen wird hinausposaunt, aber die Ausgaben für Bildung, Gesundheits- und Sozialfür­sorge werden durch Einnahmen aus dem Alkoholverkauf gedeckt. Von jedem Bürger erhält der Staat jährlich mehr als 150 Rubel für Alkohol. Abstinenz­vereine zu gründen ist verboten, wie auch in der Zeit der Zarenregierung, als die von Valančius (Bischof in Litauen, 1850—1875) begründeten Vereini­gungen aufgelöst wurden.

Den Büchermarkt beherrscht die parteidienliche Makulatur, Übersetzungslite­ratur und minderwertige Schriften in großen Auflagen, die der Jugend scha­den. Zum Beispiel haben Zuikių pasakos (Hasenmärchen) eine Auflage von 50 000. Dagegen erscheint litauische Literatur (Baranauskas, Valančius, Pie-taris) nur unvollständig und in kleinen Auflagen (5000 Exemplare), wovon ein Großteil für Propagandazwecke ins Ausland exportiert wird, so daß das Volk, wenn man die große Zahl von Lehrern und Studenten bedenkt, diese Schriften überhaupt nicht zu lesen bekommt. Originalwerke über litauische Geschichte werden nicht gedruckt.

Russische Schulen werden in Litauen errichtet, unabhängig von der Zahl russischer Einwohner in den betreffenden Orten, die 170 000 Litauer, die in Sibirien, Kasachstan, Weißrußland und im Gebiet von Kaliningrad leben, haben aber keine einzige litauische Schule. Als vor einigen Jahren in Amerika das letzte litauische Gymnasium geschlossen werden mußte, hat unsere Presse nicht wenig darüber palavert, aber niemand schreibt, daß Zehntausende von Litauern in verschiedenen Ortschaften sogar ohne Volksschulen leben müssen. Vor dem Krieg hatten sehr viele kleinere litauische ethnische Einheiten im Vilniusgebiet und in Lettland ihre eigenen Schulen, Mittelschulen (Gervėčia) und Gymnasien (Vilnius, Švenčionys, Riga). Da und dort, z. B. in der ASSR Komi, begannen die Litauer mit der Gründung von Sportvereinen und der Anlage von Sportplätzen, aber der Sicherheitsdienst erstickte diese Entwick­lung im Keime. Die sowjetische Presse äußert sich besorgt darüber, daß in Amerika die Litauer ihre Nationalität verlieren, aber wieviele litauische Familien (in Litauen und in der Sowjetunion; Anm. d. Ubers.) gibt es heute, deren Kinder nur noch schwer ein litauisches Wort aussprechen und die litauische Schrift nicht mehr lesen können! In Litauen selbst nimmt die rus­sische Sprache in den Unterrichtsplänen immer mehr Platz ein, und für die litauische Sprache, Literatur und Geschichte bleibt immer weniger Raum. Diese Entnationalisierung ist eine traurige Aussicht für unser Volk. Man wagt sogar von der Souveränität Litauens zu reden, obwohl 85 Pro­zent der Industriewerke Litauens Moskau gehören und nur Betriebe lokalen Charakters in den Händen der Republik verblieben sind. Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten Litauens beschränkt sich auf die Aufgabe, die Litauer im Ausland mit propagandistischer Literatur zu versorgen. Die Kriegskommissariate erfüllen nur die Aufgabe der Einberufung von Rekru­ten, die in die Weiten der Union verstreut werden, denn die 16. Litauische Division, zu propagandistischen Zwecken während des Krieges gegründet, wurde nach dem Krieg aufgelöst. Der „souveräne" Staat hat nicht einmal das Recht, seine politischen Gefangenen im eigenen Territorium zu behalten ... Alle touristischen Marschrouten führen nach Pirčiupis, aber nur wenige wis­sen, daß diese Tragödie auf Befehl Moskaus von Sniečkus, Zimanas und Šumauskas provoziert wurde. Wer weiß schon, wie viele Pirčiupiai es in Litauen gibt? Erst vor einigen Jahren hat Moskau gestattet, sich an Abiinga zu erinnern. Aber wie viele Pirčiupiai mag es geben, wo die Schuldigen nicht die Deutschen waren? Zum Beispiel Rainiai, Pravieniskės, Musteika (Ge­meinde Marcinkonys, Rayon Varėna), wo am 24. Juni 1944 alle zu der Zeit in der Bauernschaft anwesenden Männer — 14 Menschen — zusammenge­trieben und erschossen wurden. Darüber schweigt man, wie auch täglich Klei­nigkeiten verschwiegen werden, die nicht der Parteilinie entsprechen. Nicht einmal über Zugentgleisungen oder einen Brückeneinsturz wagt man die Wahrheit zu berichten, sogar Beileidsbekundungen sind in der Zeitung verboten; in ähnlichen Fällen gibt es im Ausland öffentliche Trauer­tage. Versucht man aber die Wahrheit hervorzuheben, auf unnormale Zu­stände und Mängel hinzuweisen, dann gilt das als Verleumdung. So hat man beispielsweise die „Chronik der LKK" als Sammlung von Verleumdungen deklariert.

In den anderen sozialistischen Ländern hat die Zahl der Priester zugenom­men, neue Priesterseminare und Kirchen werden gebaut (Polen hat gegen­wärtig mehr als 18 000 Priester und übertrifft damit die Zahl der Vorkriegs­jahre um 4000), wir aber verlieren unsere Priester — an Stelle von zwei oder drei verstorbenen dürfen wir nur einen neuen Priester haben, dessen Berufs­vorbereitung ungenügend und ungewöhnlich ist, denn die Eignung von Do­zenten und die Zulassung der Studenten bestimmt der Sicherheitsdienst und die Partei...

Gläubige und ihren Glauben ausübende Lehrer werden entlassen. Die Gläubigen haben keine Gebetbücher: diese offiziell herzustellen ist nicht erlaubt, und die insgeheim hergestellten werden beschlagnahmt (an den Kirchentüren und während der Hausdurchsuchungen). Unter den Halbwüch­sigen und Jugendlichen wächst die Kriminalität, die Zahl der unehelichen Kinder und der Abtreibungen steigt, Geschlechtskrankheiten verbreiten sich, Ehescheidungen nehmen zu — die moralische Bilanz ist wirklich traurig. Das Interesse an der Vergangenheit des eigenen Landes wird als Verbrechen ge­wertet, die Heimatkundler werden stark bespitzelt und Verhören unterwor­fen — der Litauer wird geistig erstickt...

Es wird viel Lärm geschlagen über die Erntefülle, aber diese Ernte liefert nicht nur die befreite, sondern auch die besetzte Erde. Wenn wir heute kei­nen Mangel an Brot und anderen Gütern leiden, so ist das nicht ein Verdienst der „Befreier", sondern des Teiles unseres Volkes, das seine hohen morali­schen Eigenschaften bewahrt hat: Fleiß, Gewissenhaftigkeit und Wider­standsfähigkeit. Diese Charakterzüge haben den Litauer schon ausgezeichnet, als er noch ohne „Befreier" lebte. Es fällt schwer zu glauben, daß die so „modern" umerzogene junge Generation fleißiger und gewissenhafter sein wird. Ungute Zeichen sind heute bereits festzustellen.

Bei der Würdigung der Vergangenheit wird alles Gute verschwiegen oder ge­schmäht, dennoch profitiert man auch heute noch von diesen Resten. Leider werden diese gesunden Elemente von den Neuerungen überwuchert, das Be­wußtsein der nationalen Eigenständigkeit und moralischen Festigkeit läßt nach, und immer stärker wird die Tendenz zu äußeren Lebensformen ohne inneren Gehalt sichtbar. Moskaus Würgegriff trachtet den litauischen Geist zu ersticken, den litauischen Gedanken auszumerzen ... Wollen wir nach­geben? Sollen wir zulassen, daß der Ostwind unser kleines Land verweht? Soll das Los der alten Preußen auch das unsrige werden?