In den letzten Jahren bemüht man sich noch stärker als früher, den Einfluß der litauischen Kultur immer mehr in Vergessenheit geraten zu lassen; sie soll möglichst keinen Einfluß mehr auf irgend jemanden ausüben. Die ruhm­reichen Gründer dieser Kultur werden in die Vergessenheit gestoßen, Ehre gilt nur denen, die in der Zeit des Kommunismus etwas leisteten. Litauens Geschichte wird in einen immer engeren Zeitraum hineingepreßt. Sie beginnt mit der bolschewistischen Oktoberrevolution. In diesem Sommer fand eine Konferenz Baltischer Geschichtsforscher statt. In Vilnius wurde den For­schern vorgeschrieben, ihre ganze Aufmerksamkeit dem Abschnitt der so­wjetischen Geschichte seit 1917 zu widmen. Ohne Zweifel wurde schon früher angestrebt und geplant, die Vergangenheit litauischer Geschichte zu ignorie­ren. Man feierte im letzten Jahr ganz groß die „30jährige Befreiung". Ein­geladen und bewirtet wurden viele „Befreier", welche zum größten Teil nichts mit der „Befreiung" zu tun hatten. Neue Denkmäler wurden denen gesetzt, die sich um Litauen nicht verdient gemacht haben. In jedem Kreis Litauens wurden Gedenksteine aufgestellt zur Erinnerung an die „Be­freiung". Große Ausgaben wurden nicht gescheut, um die Kriegsgräber so­wjetischer Gefallener zu schmücken.

Noch aufwendiger und lautstärker wurde in diesem Jahr die Feier zum 35-jährigen Bestehen der sowjetischen Herrschaft in Litauen gestaltet. Die rus­sischen Gäste wurden reichlich bewirtet, und es wurden keine Kosten ge­scheut, ihnen den Aufenthalt in litauischen Kurorten so angenehm wie mög­lich zu machen. Es wurden auch neue Gedenksteine erstellt, neue Denkmäler für Personen, die in Litauen nicht einmal bekannt sind.

Was bleibt aber nun übrig für die wirklichen Schöpfer der litauischen Kul­tur? 1973 wollte der litauische Schriftstellerverband zum 80jährigen Ge­burtstag des litauischen Schriftstellers V. Putinas-Mykolaitis ein Denkmal auf seinem Grab errichten. Da hierfür kein Geld vorhanden war, mußte sich der Verband an den Ministerrat der Litauischen SSR wenden. Die stellver­tretende Vorsitzende des Ministerrats der Litauischen SSR, L. Diržinskaitė-Pliušenko, schrieb auf den Antrag eine kurze Bemerkung: „Allgemeine Re­gel", d. h., für das Denkmal dürfen nicht mehr als 400 Rubel ausgegeben werden. Für weitere Mittel muß eine besondere Genehmigung eingeholt wer­den. Und diese Sondergenehmigung hat V. Putinas-Mykolaitis nach Meinung von Diržinskaitė nicht verdient. In diesem Fall wurden leider nur 300 Rubel genehmigt. Beschlossen wurde, eine Gedenktafel mit Flachrelief am Haus in der Lieposstraße 21 anzubringen, denn hier hatte V. Putinas-Mykolaitis lange Zeit gelebt. Als der Steinmetz die Rechnung an das Vollzugskomitee der Stadtverwaltung Vilnius einreichte, stellte sich heraus, daß die Gedenk­tafel mehr als 300 Rubel kostete, obwohl die Rechnung des Steinmetzes reell war, denn der einfache Handwerker verlangt für einen einfachen Grabstein 1000 Rubel und mehr. Das Vollzugskomitee überlegte, woher die restlichen Mittel zu nehmen seien, die dem Steinmetz für seine Arbeit zustanden. Nach vielen Forderungen gab der Steinmetz auf. „Soll doch das Geld verloren­gehen", sagte er, „ich tat es nicht für das Komitee, sondern ich arbeitete für V. Putinas-Mykolaitis."

Im Monat Juli aber stellte man ein wertvolles Grabmal für den verstorbenen Parteisekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, Snieckus, auf dem Friedhof Antakalnis auf. Es wurde vom Bildhauer Petrulis ent­worfen; obwohl nur einige Monate seit seinem Tode vergangen waren. Hier fand man die Mittel und das Geld, die Anträge kamen ohne Überlegungen durch.

In Mikytai, Rayon Šilutė, hatte man in diesem Jahr einen Gedenkstein für die „Befreier" im Wert von 8000 Rubel erstellt. Nur um den Stein zu heben und ihn an den Platz zu stellen, zahlte man für den Hebekran 30C Rubel. Auf dem Soldatenfriedhof Šilalė wurden 48 000 Rubel für die Ver­schönerungen des Friedhofs ausgegeben. In Ramygala lagen die Ausgaben noch wesentlich höher. Und wieviel macht das in ganz Litauen aus? Untei zerfallenen Gräbern auf dem Friedhof Rasos in Vilnius liegen berühmte litauische Helden. Niemand pflegt oder verschönert ihre Gräber. Jedoch aul dem neuangelegten Friedhof Antakalnis in Vilnius für die sowjetischen Krie­ger und Partisanen ist ein neues Rekonstruktionsprojekt fertiggestellt wor­den.

Die Bewohner von Sintautai baten um Genehmigung, ihre Schule nach den litauischen Schriftsteller Pr. Vaičaitis nennen zu dürfen, und warten bi: heute noch auf Bescheid. Die Straßen in Litauen aber sind nach den nod lebenden sowjetischen Marschällen benannt worden.

Wie viele litauische Mütter wissen nicht einmal, wo ihre Töchter und Söhne nach dem Krieg beerdigt worden sind. Wie viele unbekannte Gräber gibt es in der Tundra und in der Taiga? Wer und wann stellt mal ein symbolisches Denkmal für die Opfer der Stalin-Zeit auf?

Binnen eines Jahres verschwanden alle Ortsnamen Preußens. Das Volk (die baltischen Preußen), das im Kampf für seine Freiheit untergegangen ist, wurde mit keinem Ortsnamen bedacht. Wer hatte das Recht, die gesamte Vergangenheit dieses Landes aus der Geschichte zu streichen und seine Ge­schichte mit dem Jahr 1945 zu beginnen? Wird nicht das gleiche auch jetzt angestrebt, wenn man die ruhmreiche Vergangenheit Litauens ignoriert und verschweigt?

Anmerkung der Redaktion: Dieser Leserbrief, an die „Chronik der LKK" geschrieben, zeugt von alldem Schmerz vieler Litauer, die nicht ertragen kön­nen, daß die Geschichte Litauens ignoriert wird.