Wegen Einhaltens religiöser Feiertage und Nichterscheinens am Arbeitsplatz am 10. November, 8. und 25. Dezember 1974 und 6. Januar 1975 wurde der Anstreicher Mečislovas Jurevičius am 10. Januar 1975 von seiner Arbeits­stelle beim Produktionslehrkombinat der LAD Šiauliai entlassen. M. Jurevičius legte beim Volksgericht Šiauliai Berufung wegen unrechtmäßi­ger Arbeitsentlassung ein, jedoch wurde sein Antrag abgewiesen. Um Rechts­beistand ersucht, verweigerten die Rechtsanwälte in Šiauliai die Übernahme des Falles. Auch der am Prozeß teilnehmende Staatsanwalt J. Pivaras ver­teidigte nicht M. Jurevičius' Recht auf Arbeit, das durch die Bestätigung der Entlassung auch durch das Gericht offenkundig verletzt wurde. Die Juristin des Betriebes, M. Čepuliene, war nicht in der Lage, dem Gericht auseinander­zusetzen, daß die internen Arbeitsbestimmungen des Produktions- und Lehr­kombinats beim LAD Šiauliai dem Artikel 124 der Verfassung der UdSSR sowie dem Artikel 96 der Verfassung der Litauischen SSR widersprechen, und daß der Artikel 143 des Strafgesetzbuches der Litauischen SSR dafür strafrechtliche Maßnahmen vorsieht. Außerdem wurde bei der öffentlichen Verhandlung die Bekanntgabe der nachstehenden Erklärung des M. Jurevi­čius unterlassen.

An das Volksgericht Šiauliai

Erklärung

des Bürgers Mečislovas Jurevičius, Sohn des Jurgis J., wohnhaft in Šiauliai, Zemaitesstraße 102, Wohnung 10.

Seit über neun Jahren arbeite ich als Anstreicher beim Produktions- und Lehrkombinat des LAD Šiauliai. Während dieser Zeit erhielt ich keinerlei

Disziplinarstrafen. Am 10. Januar 1975 aber wurde ich auf Anordnung Nr. 4 des Direktors entlassen, weil ich am 10. November, 8. und 25. Dezem­ber 1974 und am 6. Januar 1975 nicht zur Arbeit erschienen war. Über mein Fernbleiben an den genannten Tagen habe ich die Betriebsleitung vor­her schriftlich benachrichtigt und dieses Verhalten damit begründet, daß es sich um religiöse Feiertage handele, die ein bewußter Katholik festlich zu begehen habe. Trotz vorheriger Bekanntgabe und Begründung hat der Direk­tor — unter Mißachtung meiner religiösen Uberzeugung und des Rechtes auf Gewissensfreiheit, welche der Artikel 124 der Verfassung der UdSSR, sowie der Artikel 96 der Verfassung der Litauischen SSR garantieren, und welche strafrechtlich durch den Artikel 143 des Strafgesetzbuches der Litauischen SSR geschützt sind — mutwilliges Fernbleiben von der Arbeit daraus ge­macht, wodurch mein Recht auf Arbeit und Freiheit der Religionsausübung verletzt wird. Ebenso rechtswidrig ist die Zustimmung des örtlichen Gewerk­schaftsausschusses zu einer Arbeitsentlassung wegen meiner religiösen Uber­zeugung. In diesem Zusammenhang bitte ich das Volksgericht, anzuerkennen, daß meine religiöse Überzeugung und die daraus resultierenden Folgerungen keinen Verstoß gegen die Arbeitsgesetzgebung darstellen und mein Recht auf Arbeit nicht aufheben. Ich ersuche daher um meine Wiedereinstellung als Ar­beiter (Anstreicher) in demselben Betrieb unter Bezahlung der erzwungenen Ausfallzeit.

Šiauliai, am 31. Januar 1975.

 

An das Volksgericbt der Stadt Šiauliai

Eingabe

des Bürgers Mečislovas Jurevičius, Sohn der Jurgis J., Šiauliai, 2emaitesstraße 102, Wohnung 10.

 

Am 10. Januar wurde ich vom Gewerkschaftsrat des Produktions- und Lehr­kombinats beim LAD Šiauliai entlassen. Begründung: viermaliges mutwilli­ges Fernbleiben von der Arbeit. Dazu erkläre ich:

Ich bin seit dem 2. Oktober 1965 in dem Kombinat tätig. Während der ge­samten Zeit beging ich keinerlei Widrigkeiten, es ergingen gegen mich weder Verwarnungen oder Beanstandungen, noch Strafen. Meine Arbeitsleistung wurde im Gegenteil mit rund 160 Prozent festgesetzt. Wegen unbeanstande­ter Arbeitsleistung wurde ich in der Zeitung Rote Fahne der Stadt Šiauliai lobend erwähnt, mit der Ehrennadel Za Trud (Für gute Arbeit) ausgezeichnet und erhielt Ehrendiplome. Auch gab es nie Konflikte mit der Leitung des Kombinats oder mit Arbeitskollegen. Meine jetzige Entlassung erfolgte eben­falls nicht etwa deshalb, weil der Plan nicht eingehalten wurde, sondern weil ich ein bewußter Katholik und gläubiger Mensch bin, der Rechte in Anspruch nimmt, die die Verfassung der UdSSR zusagt (Artikel 124 der Verfassung, Artikel 143 und 145 des Strafgesetzbuches garantieren ausdrücklich die Frei­heit, religiöse Pflichten auszuüben).

Meine Entlassung halte ich für unrechtmäßig und verweise auf obige Ge­setze und den Kommentar zur Frage der Entlassung (Pragraph 57 Abschnitt IV der Bestimmungen über Interne Arbeitsbestimmungen, Entlassung im Falleunbegründeten Nichterscheinens zur Arbeit).

Mein Nichterscheinen gründete sich auf konstitutionell andere Rechtsbestim­mungen und war somit sehr wohl begründet. Die Gründe für mein Fernblei­ben habe ich in entsprechenden Eingaben nicht nur erklärt, sondern mich auch verpflichtet, die Ausfallzeit an freien Tagen aufzuarbeiten oder gegen Ur­laubszeit aufzurechnen. Zu meinen Gunsten spricht der Beschluß des Präsi­diums des Obersten Sowjets der Litauischen SSR vom 12. Mai 1966 über „Anwendung des Artikels 143 des Strafgesetzbuches der Litauischen SSR, wonach eine Entlassung unabhängig von der religiösen Uberzeugung des be­treffenden Bürgers vorzunehmen ist. Die Artikel 143 und 145 des Straf­gesetzbuches schützen mich nicht nur, sondern ziehen die Verantwortlichen für unrechtmäßige Entlassung zur Rechenschaft.

Angesichts obiger Ausführungen bitte ich um Aufhebung der Entlassung der LAD-Kombinatsdirektion, Wiedereinstellung und Gehaltsnachzahlung für unverschuldete Ausfallzeiten.

gez. M. Jurevičius

18. Februar 1975 Urteil

Im Namen der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik Šiauliai, 19. Februar 1975

Das Volksgericht der Stadt Šiauliai, bestehend aus dem Vorsitzenden Volks­richter B. Šumauskas und den Volksräten A. Čeiliutka und A. Danielius, Frau D. Trukienė als Sekretärin, unter Teilnahme des Staatsanwaltes J. Pivoras, des Antragstellers M. Jurevičius und Frau M. Čepuliene als Vertre­ter des Beklagten, hat in öffentlicher Gerichtsverhandlung im Zivilverfah­ren das Begehren des M. Jurevičius an das Produktions- und Lehrkombinat der LAD Šiauliai um Wiedereinstellung erhört und befunden: Der Kläger war bei der Beklagten seit 1965 als Anstreicher beschäftigt. Laut Direktionsbefehl vom 10. Januar 1975 wurde er wegen Fernbleibens von der Arbeit laut Artikel 43 (4) des Gesetzes der DIK entlassen. Der Kläger be­gehrt Wiedereinstellung und Nachzahlung unfreiwilliger Ausfälle, da er am 10. November, 8. und 25. Dezember 1974 sowie am 6. Januar 1975 wegen seiner religiösen Uberzeugung — es handelt sich um religiöse Feiertage — nicht zur Arbeit erschien. Über sein Nichterscheinen hatte er die Verwaltung des Arbeitgebers vorher verständigt. Er habe damit von seinem Recht auf Gewissensfreiheit nach Artikel 124 der Verfassung der Litauischen SSR Ge­brauch gemacht. Die Beklagte ersucht um Ablehnung des Antrags des Klä­gers.

Das Begehren des Klägers wird abgelehnt. Der Kläger ist an den fraglichen Arbeitstagen ohne Genehmigung des Arbeitgebers nicht zur Arbeit erschie­nen, somit willkürlich ferngeblieben. Der Kläger kann dieses Fernbleiben nicht mit religiöser Überzeugung rechtfertigen, das widerspricht den Internen Arbeitsbestimmungen des Betriebes, die für alle Arbeitnehmer verbindlich sind. Der Artikel 124 der Verfassung bleibt unverletzt, denn in Wirklichkeit verbietet niemand dem Kläger seinen Glauben, und angesichts der verfas­sungsmäßigen Trennung von Kirche und Staat brauchen Arbeitstage nicht mit religiösen Feiertagen abgestimmt zu werden.

Gemäß Paragraph 241 des DIK der Litauischen SSR erging folgendes Ur­teil: Die Klage des M. Jurevičius ist abgewiesen. Berufung ist möglich inner­halb von zehn Tagen beim Obersten Gerichtshof der Litauischen SSR über das Volksgericht in Šiauliai.

gez. B. Šumauskas, Volksrichter

 

An das Rechtskollegium für Zivilprozesse beim Obersten Gerichtshof der Litauischen SSR

 

Kassationsbeschwerde

des Bürgers M. Jurevičius, wohnhaft in Šiauliai, Zemaitesstraße 102/10, in der Zivilsache 1975 gegen das Produktions- und Lehrkombinat der LAD Šiauliai wegen Wiedereinstellung.

Durch das Urteil vom 19. Februar 1975 hat das Volksgericht der Stadt Šiauliai meinen Antrag auf Wiedereinstellung abgelehnt. Dieses Urteil sollte aus folgenden Gründen aufgehoben werden:

Seit dem 2. Oktober 1965 arbeite ich bei der Beklagten als Arbeiter. In die­ser Zeit erfolgten keinerlei Beanstandungen wegen Arbeitsdisziplin. Ich wurde wiederholt wegen guter Arbeit ausgezeichnet. Meine Entlassung er­folgte durch Befehl vom 10. Januar 1975, Nr. 4-k, nach Artikel 43 (4) DIK, wegen Fernbleibens von der Arbeit am 10. November, 8. und 25. Dezember 1974 und am 6. Januar 1975.

 

Ich möchte betonen, daß es sich hierbei nicht um mutwilliges Fernbleiben handelt. Ich bin ein religiöser Mensch und habe aus diesem Grunde an den genannten religiösen Feiertagen nicht gearbeitet. Vor jedem der genannten Festtage habe ich die Verwaltung schriftlich darüber verständigt und die

Gründe angegeben, warum ich nicht zur Arbeit erscheinen werde. Ich ver­pflichtete mich, die ausgefallene Arbeitszeit an anderen Tagen nachzuarbei­ten. Da ich nicht lehramtlich tätig bin, bin ich der Ansicht, daß meinem Wunsche durchaus entsprochen werden konnte. Auch der Verfassung der UdSSR widerspricht dies nicht. Danach hat jeder Mensch Anspruch auf Ge­wissensfreiheit, und auch ich möchte dieses Recht in Anspruch nehmen. Ich weiß nicht, welche Hinderungsgründe vorhanden sind. Das Volksgericht der Stadt Šiauliai ließ die obigen Umstände unbeachtet, was ich als ungerecht ansehe.

Ich ersuche darum, das Urteil des Volksgerichts in Šiauliai vom 19. Januar 1975 aufzuheben und meine Wiedereinstellung zu verfügen unter der Fest­stellung, daß kein mutwilliges Fernbleiben von der Arbeit vorliegt, daß ich vielmehr meiner religiösen Uberzeugung wegen nicht gearbeitet habe und mein Fernbleiben daher gerechtfertigt war.

gez. M. Jurevičius

22. Februar 1975

 

 

 

Die endgültige Absage

Das Rechtskollegium für Zivilprozesse des Obersten Gerichtshofes der Litau­ischen SSR, bestehend aus dem Vorsitzenden M. Čapskis, den Mitgliedern L. Miežėnas und J. Radzevičius, unter Teilnahme des Staatsanwaltes Frau D. Kazakaitienė' und des Antragstellers M. Jurevičius, hat in öffentlicher Ver­handlung die Kassationsbeschwerde in der Zivilsache des Klägers M. Jure­vičius gegen das Produktions- und Lehrkombinat der LAD Šiauliai wegen Wiedereinstellung behandelt und stellt fest:

Die beklagte Firma hat den Kläger am 10. Januar 1975 entlassen wegen un­begründeten Fernbleibens von der Arbeit.

Der Kläger ersucht um Wiedereinstellung und verweist darauf, daß das Fernbleiben gerechtfertigt war. Das Volksgericht der Stadt Šiauliai hat das Ersuchen im Urteil vom 19. Februar 1975 abgewiesen. In seiner Kassations­beschwerde ersucht der Kläger um Aufhebung des Urteils und Wiederein­stellung.

In seiner Schlußfolgerung ersucht der Staatsanwalt um Ablehnung der Be­schwerde.

 

Nach Aktenlage steht fest, daß der Kläger am 10. November, 8. und 25. De­zember 1974 und am 6. Januar 1975 nicht zur Arbeit erschienen ist. Der Kläger ist vorsätzlich nicht zur Arbeit erschienen, womit sein Fernbleiben ungerechtfertigt ist. Das Gericht hat die Klage in Ubereinstimmung mit Artikel 43 (4) DIK der UdSSR abgewiesen. Es besteht kein Grund, der Kassationsbeschwerde stattzugeben.

Das Rechtskollegium für Zivilprozesse beschließt daher unter Verweis auf

Artikel 335 des Zivilprozeßbuches (CPK):

Die Beschwerde des Klägers M. Jurevičius ist abgelehnt.

Das Urteil des Volksgerichts der Stadt Šiauliai vom 19. Februar 1975 bleibt

unverändert.

gez. Vorsitzender M. Čapskis, Mitglieder L. Miežėnas, J. Radzevičius