An den Generalsekretär der KPdSU, L. I. Brežnev

Verehrter Leonid Iljič!

Ich wende mich in diesem Brief an Sie, in der Hoffnung, daß Ihr persönliches Einschreiten der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen wird, was mir auf dem Wege durch die Instanzen nicht gelungen ist.

Am 20. November 1973 haben Beamte des Komitees für Staatssicherheit (KGB) beim Ministerrat der Litauischen SSR in meiner Wohnung zahlreiche Bücher religiösen Inhalts konfisziert. Die Beschlagnahme erfolgte unter gro­ber Verletzung des Artikels 192 der Strafprozeßordnung (BPK) der Litau­ischen SSR, weil nicht alle bei der Haussuchung beschlagnahmten Bücher im Protokoll aufgeführt wurden. Keiner der Säcke, in denen die Bücher fortge­schafft wurden, war versiegelt. Nach schriftlicher Beschwerde beim Vorsit­zenden des KGB und beim Staatsanwalt der Litauischen SSR sowie beim Vorsitzenden und Generalstaatsanwalt der UdSSR wurde mir die Rück­gabe derjenigen Bücher zugesagt, die nicht in Verbindung mit dem Strafpro­zeß stehen. Um welchen Prozeß es sich dabei handelt und gegen wen er ge­führt wird, weiß ich bis zum heutigen Tage nicht.

Zwei Jahre später, am 3. Dezember 1975, wurde mir ein Teil der beschlag­nahmten Bücher durch den Staatssicherheitsbeamten, Hauptmann Marcinke­vičius, zurückgegeben, der mich ersuchte, den Empfang durch eine Unter­schrift unter die Liste der zurückgegebenen Bücher zu bestätigen. Als ich Hptm. Marcinkevičius um eine Abschrift der Bücherliste bat, weigerte er sich, mir eine solche auszuhändigen; angeblich existierte nur ein Exemplar der Liste — dabei lag eine Durchschrift auf dem Schreibtisch. Damit wurde er­neut gegen Art. 192 verstoßen; denn ich brauche eine Abschrift der Liste, um überhaupt feststellen zu können, ob die Titel mit den zurückgegebenen Bän­den übereinstimmen.

Das KGB hält weiterhin eine erhebliche Anzahl meiner Bücher zurück (siehe beiliegende Liste), ohne bisher zu erklären, warum mir diese und die Schreib­maschine vom Typ „Rheinmetall" nicht zurückgegeben werden. Dies ist ein direkter Verstoß gegen die Artikel 10 und 125 der Verfassung der UdSSR und Artikel 17 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, nicht zu reden vom Wortbruch verantwortlicher Beamter des Staatsapparates, was keineswegs dazu beiträgt, die Autorität der von ihnen vertretenen Staats­organe zu stärken.

„Nicht nur mit der Kugel oder mit der Faust kann man Menschen verlet­zen." Wie oft kann man erleben, daß besonders feinfühlige Menschen durch Betrug, Lüge, Verleumdung, Drohung, böse Worte und sonstige Formen der Niedertracht geradezu vernichtet werden. Auch die medizinische Forschung hat dies leider bestätigen müssen (vergleiche dazu Tiesa vom 21. Januar 1975). Während meiner achttätigen Einvernahme wurde ich von den Ver­nehmungsbeamten des KGB mehrfach grob behandelt, beschimpft, verleum­det und bedroht, mit Haftandrohungen und auf andere Weise eingeschüch­tert. Hieraus ergeben sich Straftaten nach Art. 187 des Strafgesetzbuches der Litauischen SSR, wobei sich Oberleutnant Gudas und Major Markevičius be­sonders unrühmlich auszeichneten. Die Täter scheinen nicht zu begreifen, daß solche Methoden nicht nur sie persönlich, sondern auch die von ihnen vertre­tenen Staatsorgane diskreditieren, ja die gesamte Sowjetmacht bloßstellen. Wegen der ungesetzlichen und verbrecherischen Aktionen des KGB der Li­tauischen SSR habe ich wiederholt bei folgenden Instanzen Beschwerden ein­gelegt:

- beim Vorsitzenden des KGB Litauens (30. November 1973),

- beim Staatsanwalt der Litauischen SSR (30. November 1973),

- beim Generalstaatsanwalt und dem KGB-Vorsitzenden der UdSSR und erneut beim KGB-Vorsitzenden der Litauischen SSR (15. Oktober 1974).

Doch in allen genannten Fällen gelangten die Beschwerden in die Hände der­jenigen Leute, deren ungesetzliches Handeln der eigentliche Anlaß für die Eingaben war. Vermutlich wird niemand etwas gegen die Rechtsdefinition einzuwenden haben, daß „gesetzwidriges Verhalten gleich Verbrechen" ist. Wenn man aber erfährt, daß höhere Stellen die Täter selbst mit der Aufklä­rung der ihnen zur Last gelegten Verbrechen beauftragen, so darf man wohl doch bezweifeln, ob dies rechtlich und normal ist. Oder sollte dergleichen wirklich zulässig sein?

Die sowjetischen Gesetze besagen klar und eindeutig, daß ein Bürger, im Fall einer Beschwerde gegen das Vorgehen von Vertretern der Staatsorgane, ein Recht auf klare und motivierte Antwort übergeordneter Instanzen hat. In­zwischen ist mir jedoch klargeworden, warum ich keine Antwort erhalten habe.

Bei der Vernehmung erfuhr ich, daß jeder Schritt, den ich unternehme, ob ich in die Bibliothek, zum Einkaufen oder auf Verwandtenbesuch gehe, seit lan­gem von Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes überwacht wurde. Dies fällt zwar in den Verantwortungsbereich der diesbezüglichen Amtsvorgesetzten, doch kann ich mir vorstellen, daß man kostbare Dienststunden auch sinnvol­ler verbringen könnte: schließlich bin ich weder Agent der ausländischen Spionage noch im politischen Untergrund tätig. Ich war daher ehrlich er­staunt, bei der Vernehmung zu erfahren, daß man sogar Gespräche in mei­ner Wohnung mit Hilfe von Mikrophonen abgehört hatte. Dies verstößt ge­gen Art. 128 der Verfassung der UdSSR (Garantie der Unantastbarkeit der Privatwohnung und des Briefgeheimnisses der Bürger) und widerspricht Art. 12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie Art. 17 des Internationalen Abkommens über politische und Bürgerrechte. Erwähne ich die selbst erduldeten Unrechtshandlungen und Verfolgungen, so kann ich nicht das Unrecht und die Verfolgung verschweigen, denen Men­schen meines Glaubens — die Katholiken dieses Landes — ausgesetzt sind, und zwar nur deshalb, weil sie gläubige Menschen sind. „Der Staat hat sich nicht um die Religion zu kümmern, Religionsgemein­schaften sollen nicht mit der Staatsmacht verbunden sein. Doch soll jeder­mann die volle Freiheit haben, sich zu jeder beliebigen oder auch zu keiner Religion zu bekennen ... Unterschiede in der Rechtsstellung der Bürger aus ihrem religiösen Bekenntnis abzuleiten, ist absolut unzulässig. Selbst Ver­merke in offiziellen Dokumenten, über diese oder jene Glaubenszugehörig­keit der Bürger müssen radikal abgeschafft werden. Kirchliche und religiöse Zusammenschlüsse sollen keinerlei staatliche Gelder erhalten und völlig freie (Unterstreichung von V. L.) vom Staat unabhängige Vereinigungen gleichge-sinnter Bürger werden. Allein durch die konsequente Verwirklichung dieser Forderungen kann jener schändlichen und schimpflichen Vergangenheit ein Ende bereitet werden, als sich die Kirche in leibeigener Abhängigkeit vom Staate befand ..." (V. I. Lenin, Sozialismus und Religion, Schriften, Band 10, 1922, S. 65).

Besser als ich kennen Sie, Leonid Iljič, als ZK-Generalsekretär der KPdSU diese und viele andere Aussagen, die ihren Niederschlag in der Verfassung der UdSSR (Art. 124/125) und in den Strafgesetzbüchern der Unionsrepu­bliken gefunden haben und mit den Ausführungen einer Reihe internatio­naler Vereinbarungen übereinstimmen, die von der Sowjetregierung unter­zeichnet wurden. (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 18 und 19; Internationales Abkommen über politische und Bürgerrechte, Artikel 5, 18 und 19; Internationales Abkommen über wirtschaftliche, soziale und kul­turelle Rechte, Art. 4 und 5.)

Doch die Direktiven des Gründers des Sowjetstaates, die Normen der so­wjetischen Gesetze und internationalen Verpflichtungen der Regierung, wer­den auf dem Territorium der Litauischen SSR nicht eingehalten. Um keine Beweise vorzuenthalten, verweise ich auf einige Fakten:

1.      Seit dem Jahre 1940 ist die Tätigkeit katholischer Organisationen und Mönchsorden nicht mehr gestattet.

2.      Religionsunterricht in den Schulen ist verboten, nur noch die Eltern dürfen ihren Kindern Katechismusunterricht erteilen, Priester dürfen die Kenntnisse nur überprüfen und dabei jeweils nur ein Kind exami­nieren. Wegen Katechismusunterricht für Kinder wurden mehrere Prie­ster zu einjähriger Gefängnisstrafe verurteilt, viele andere erhielten Geldstrafen (wie 1975 Gemeindepfarrer J. Krikščiūnas aus der Ge­meinde Kučiūnai — 50 Rubel); im selben Jahr wurde Frl. E. Žu­kauskaitė auf dem Verwaltungswege aus diesem Grunde mit einer Geldstrafe von 40 Rubeln belegt. Die Kinder gläubiger Eltern werden aber zwangsweise im Atheismus unterwiesen, was eindeutig den Be­stimmungen des Artikels 13 des Internationalen Abkommens über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte widerspricht.

3.      In manchen Fällen verbietet die Regierungsmacht Priestern die Aus­übung ihres Amtes, z. B. Pfarrer Vladimir Prokopiv in Vilnius, der sein Studium der Theologie in Rom absolvierte, oder Pfarrer Vladimir Fri-gol in Kaunas; Pfarrer Vytautas Merkys mußte über zehn Jahre hin­durch in einer Baumschule arbeiten, da ihm die Behörden jede pastorale Tätigkeit in einer Gemeinde untersagten.

4.      Der Bischof von Kaišiadorys, V. Sladkevičius, ist seit 1957, der Bischof von Vilnius, J. Steponavičius, seit 1961 amtsenthoben und an entlege­nen Ort verbannt worden. Sie leben weiter im Exil, ohne Gerichtsbe­schluß, ohne Befristung der Verbannungszeit, ohne Schuld.

5.      Personen unter 18 Jahren ist es amtlich verboten, aktiv an religiösen Kulthandlungen teilzunehmen, auch wenn die Eltern dieser Jugend­lichen ausdrücklich um die Teilnahmegenehmigung ersuchen.

Wenn Geistliche solche Jugendlichen ihrerseits an der Teilnahme hin­dern, so verstoßen sie gegen die kanonischen Bestimmungen ihrer Kir­che. Viele Priester wurden bestraft, weil sie Kinder am Altardienst oder an Prozessionen teilnehmen ließen, bzw. ihr Mitwirken im Kirchenchor duldeten. Pfarrer A. Keina z. B. wurde mit 50 Rubeln Geldstrafe be­legt, weil er zuließ, daß Kinder während der heiligen Messe Ministran­tendienste verrichteten. Pfarrer P. Orlickas erhielt die gleiche Strafe, weil er mit Kindern Volleyball gespielt hatte; Pfarrer Lygnugarys wur­de mit 50 Rubeln bestraft, weil er eine Kranke in Naujoji Akmenė be­suchte, desgleichen Pfarrer Suklys, weil er Kinder an einer Prozession teilnehmen ließ. Die Organistin der Gemeinde Kabeliai erhielt eine Geldstrafe, weil sie Kinder im Chorsingen unterwiesen hatte, und der dortige Gemeindepfarrer J. Lauriūnas wurde bestraft, weil er zuließ, daß seine Organistin Kinder im Singen unterrichtete ... Der Gemein­depfarrer Baltuška erhielt 30 Rubel Geldstrafe, weil er Geistliche der Umgebung zu einem Ablaßfest zur Amtshilfe geladen hatte.

6.      Wegen ihrer religiösen Anschauungen wurden die Studentinnen Aldona und Regina Bielskus von der Universität Vilnius relegiert.

7.      Einfuhr religiöser Literatur aus dem Ausland oder ihre Beförderung durch die Post sind nach demselben Gesetz verboten, das die Einfuhr von pornographischer Literatur und von Narkotika untersagt.

8.      Die katholische Presse ist total verboten; nicht nur, daß keine religiösen Zeitungen oder Zeitschriften erscheinen dürfen, selbst die Herausgabe von Katechismen ist untersagt. Zweimal durfte ein Gebetbuch, einmal das Neue Testament der Heiligen Schrift gedruckt werden, doch in einer jeweils so geringen Auflage, daß sie nur für einen Bruchteil der Gläubigen ausreichte.

„Wir verlangen Pressefreiheit", schrieb Lenin, „ohne Versammlungs-, Rede- und Pressefreiheit ist alles Gerede von Religionsfreiheit unehr­liches Spiel und jämmerliche Lüge" („Die Selbstherrschaft wankt", Lenins Schriften, Band 6). Doch die gesetzliche Garantie der Presse-, Versammlungs-, Gewissens- und Redefreiheit kommt nur bezüglich der

Atheisten zur Anwendung. Religionsgläubige, die versuchten, diese konstitutionell garantierten Rechte in Anspruch zu nehmen, gerieten auf die Anklagebank und in die Lager mit verschärftem Regime in Perm und Mordovien: P. Plumpa für acht Jahre, P. Petronis für vier Jahre, V. Kulikauskas für dreieinhalb Jahre, J. Gražys für drei Jahre, N. Sadūnaitė für drei Jahre mit anschließender dreijähriger Verban­nung. Alle wurden wegen eines Deliktes verurteilt, das sie nie begangen hatten, wegen angeblicher „Verleumdung der Sowjetmacht". Ihre wahre Schuld besteht darin, daß sie versuchten, ihre Christenpflicht zu erfüllen, nämlich christgläubige Menschen mit Gebetbüchern zu versor­gen, religiöse Literatur zu verbreiten, um so den geistigen Hunger zu stillen.

 

9. Verwandte, ja selbst Bekannte dieser wegen ihrer Gesinnung zu Scha­den gekommenen Menschen werden bedroht, vernommen und mit Haussuchungen terrorisiert. So in Kaunas: M. Vitkūnaitė, N. Petruše­vičius, V. Gajauskas, M. Gavenaitė u. a. In Vilnius: J. Lapienytė, K. Jakubynas, A. Žilinskas, A. Terleckas u. a. m.

10.  Viele religionsgläubige Menschen verlieren grundlos ihre Arbeit. Am 15. September 1975 verlangte die Abteilung Volksbildung des Rayons Mažeikiaia den „freiwilligen Rücktritt auf eigenen Wunsch" des Leh­rers S. Skiparis (27 Dienstjahre) und seiner Frau, ebenfalls Lehrerin (25 Dienstjahre), weil beider Sohn im selben Jahr ins Priesterseminar eintrat. Wegen ihres Glaubens wurde die Lehrerin A. Kezytė aus der Kindermusikschule Vilnius entlassen. Im Jahre 1975 „empfahl" das KGB der Universität Vilnius die Entlassung der dort angestellten B. Kibickaitė, nur weil sie bei N. Sadūnaite zu Besuch war, als KGB-Be-amte dort zu einer Haussuchung erschienen.

11.  Uber Pfarrer V. Gelgota, A. Ylius und P. Račiūnas erschienen verleum­derische und entehrende Zeitungsartikel. Die Priester protestierten, er­suchten um Richtigstellung und widerlegten die verleumderischen Un­terstellungen. Keine der Zeitungen brachte davon auch nur ein Wort.

12.  Im Dekret über Trennung von Kirche und Staat wurde angeordnet: kirchliche Bauten und Kultgegenstände seien „den Religionsgemein­schaften zur kostenlosen Nutzung zu überlassen". Durch Verfügung des Obersten Sowjets vom 10. April 1942 wurde aber eine jährliche Miete in Höhe von ein Prozent des Wertes des Bauwerkes festgesetzt. Im Jahre 1961 wurde der Wert der Kultbauten und der damit verbun­denen Steuern um das Eineinhalbfache erhöht. Gesetz ist Gesetz, und die katholische Kirche pflegt ihre Steuern pünktlich zu zahlen. Doch sollte ein jedes Gesetz auch die Gesetze der Logik beachten. Es ist un­begreiflich, warum Religionsgemeinschaften Bauten pflichtversichern müssen, die ihnen gar nicht gehören. Noch unverständlicher aber ist die Tatsache, daß bei Eintritt des Versicherungsfalles (z. B. Feuer oder sonstige Schäden) der Schadenersatz nicht etwa an die Beitragszahler, d. h. die Religionsgemeinschaft, ausgezahlt wird, obwohl diese für die Wiederinstandsetzung aufzukommen hat. Die Leistung geht vielmehr an den Inhaber des Bauwerkes (im Regelfalle also an die regionale Rayonsverwaltung), obwohl dieser zur Instandhaltung und Reparatur keine einzige Kopeke beigetragen hat und von der erhaltenen Versiche­rungszahlung auch nicht eine Kopeke zur Wiederinstandsetzung bei­steuert. (So geschah es nach dem Brand der Kirche in Dubingiai, wo die Versicherungssumme der Rayonsverwaltung Molėtai ausgezahlt wurde, und in anderen analogen Fällen.) Und die Geschichte mit der Kirche in Klaipėda ist geradezu umwerfend. Das mit Mitteln der Gemeindeglie­der errichtete Gotteshaus wurde der Religionsgemeinschaft gar nicht erst zur Nutzung übergeben, ihr aber 1961 abgenommen und in die Philharmonie umgewandelt. Vielfach untersagen die Behörden den Wiederaufbau von im Kriege zerstörten oder abgebrannten Gotteshäu­sern (Sangrüde, Girkalnis, Batakiai, Gaurė u. a. Gemeinden). Von Gläubigen errichtete religiöse Skulpturen und Kreuze aber werden von Amts wegen entfernt (wie z. B. die Statue der hl Jungfrau Maria auf dem Friedhof von Skiemonys).

 

13. Die Staatsgewalt mischt sich laufend in innerkirchliche Angelegenheiten ein, trifft Verfügungen darüber, wer im Priesterseminar Kaunas unter­richten darf und wer nicht, stellt Bedingungen für die Aufnahme der Seminaristen und verbietet den Bischöfen und Bistumsverwaltern, ohne Billigung des Beauftragten fürreligiöse Angelegenheiten Gemeinde­pfarrer einzusetzen.

 

Das sind nur einige Fakten, die beweisen, wie man das Gesetz über Tren­nung von Kirche und Staat in Sowjetlitauen systematisch mißachtet. Gleich­zeitig aber erklärt der Vorsitzende des Rates für religiöse Angelegenheiten der UdSSR, V. A. Kurojedov (Zitat aus einem Interview in der Tageszeitung Izvestija vom 31. Januar 1970):

 

„Jegliche Diskriminierung der Gläubigen, jeglicher Gewissenszwang sind kategorisch verboten."

Diese Erklärung einer verantwortlichen Amtsperson soll keinesfalls bezwei­felt werden, zumal der Vorsitzende des Rates für religiöse Angelegenheiten noch hinzufügt:

„Wir wollen keinesfalls verschweigen, daß es bei uns noch Einzelfälle gibt, in denen es manche örtlichen Organe immer noch versäumen, ungerechte Ak­tionen gegen die Kirche und die Gläubigen zu unterbinden ... in allen Ein­zelfällen werden aber Vorkehrungen zur Wiedergutmachung solcher Ver­stöße getroffen. Die für solche Dinge verantwortlichen Personen werden nach dem Gesetz bestraft."

 

Die meinerseits vorgetragenen Fakten beweisen allerdings, daß der Vorsit­zende des Rates für religiöse Angelegenheiten die Lage der litauischen ka­tholischen Kirche nur schlecht oder überhaupt nicht kennt. Hierzulande gibt es keinen einzigen Fall, bei dem jemand wegen eines Verstoßes gegen das Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat und der Benachteiligung von Gläubigen oder wegen ähnlicher illegaler Aktionen bestraft worden wäre. Und doch stand erst unlängst in der Schlußakte des KSZE:

„Die Teilnehmer an diesem Abkommen verpflichten sich, die Menschenrechte und Grundfreiheiten, darunter die Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Meinungsfreiheit, zu achten, ohne Rücksicht auf Unterschiede der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder Religion" (aus Schlußakte der KSZE, Vilnius, 1975, S. 23).

 

Unter diesem Dokument steht auch Ihre Unterschrift, Leonid Iljič, und des­halb meine ich, mich auch persönlich an Sie wenden zu dürfen. Die Verfolgung der katholischen Kirche ist nur ein Teilaspekt einer wichti­geren Angelegenheit. Nicht weniger wichtig ist es, auf die Auswirkungen dieser Verfolgung hinzuweisen. Das Fehlen einer tugendbewußten, geistigen Erziehung, bzw. die Schwächung einer solchen, die Ausbreitung des Atheis­mus mit seinen unverbindlichen und verschwommenen Moralbegriffen ist verantwortlich für den erschreckenden Anstieg der Kriminalität in den letz­ten Jahren: Veruntreuung staatlichen und gesellschaftlichen Eigentums, Raubüberfälle, Vergewaltigungen, Alkoholismus, Drogenmißbrauch, sexu­elle Exzesse haben in Litauen bisher unbekannte Ausmaße erreicht. Tausende von Erwachsenen und Jugendlichen aus unserer Republik verbüßen Strafen für Delikte in Gefängnissen und Strafkolonien. Und der Strafanstalten sind viele: in Vilnius das Gefängnis O-Č, 12/36, die Kolonie strengen Regimes O-C, 12/5 und O-Č, 12/10; in Pravieniškes O-Č, 12/2 und O-Č, 12/8; in Alytus O-Č, 12/4; in Panevėžys O-Č, 12/15; in Kapsukas O-Č, 12/3. Schließlich die Strafkolonie für Minderjährige in Vilnius, VTK, Sniego-straße 2; in Kaunas O-Č, TKN, und andere mehr.

 

Zwar ist es schmerzlich festzustellen, entspricht aber den Tatsachen: vor der Einführung der atheistischen Erziehung in unseren Schulen waren Alkoholis­mus, Diebstähle und sexuelle Ausschweifungen seltene Ereignisse, heute ge­hören sie zur täglichen Wirklichkeit.

 

Man sagt mit Recht, stabile Familien seien das beste Fundament für die Festigkeit eines Staatswesens. Leider ist nicht zu bezweifeln, daß der Atheis­mus die familiären Bande gelockert hat, die Zahl der auseinandergebrochenen Familien ist angestiegen, und die Zahl geschiedener Ehen steigt weiter.

 

Trägt es vielleicht zur Festigung der Familie bei, wenn man in offiziellen Publikationen liest: „Zwecks Festigung der atheistischen Weltanschauung sei­ner Schüler muß der Lehrer oft erst die religiösen Ansichten zerstören, die (dem Jugendlichen) von seiner Familie eingepflanzt wurden." (B. Bitinas, Methodikfragen der atheistischen Erziehung, Kaunas, 1962, S. 5.) Doch zu­sammen mit der Zerstörung der durch die Familie eingepflanzten Ansichten wird die Familie selbst zerstört. Hier das Resultat. Im Jahre 1950 gab es in Litauen 23 246 Eheschließungen, verglichen mit 625 Ehescheidungen. Zur Zeit kommen laut Statistik unserer Republik bereits fast 40 Scheidungen auf 100 Eheschließungen. Die Zahl der Scheidungen nimmt nicht nur in städti­schen Siedlungen, sondern auch auf dem Lande zu (Mokslas ir Gyvenimas, Wissenschaft und Leben, 1976, Nr. 3, S. 30). Erstes Opfer der Ehescheidun­gen und Familientragödien sind die Kinder. Psychiater auf Hawai und im amerikanischen Bundesstaat Wisconsin haben festgestellt: „Trennung der Eltern wird für die Kinder zum psychischen Trauma ... es ist daher richti­ger, eine Ehescheidung nicht als Ereignis, sondern als Prozeß anzusehen, des­sen quälende Dauer bei Kindern sogar psychische Störungen hervorrufen kann." (Rundfunkwochenzeitschrift Kolba Vilnius, 1976, Nr. 6, S. 13.) Viel­leicht sollte man hier nach den Gründen für den enormen Anstieg der Krimi­nalität suchen?

 

Neben den Massenmedien Presse, Radio und Fernsehen stehen der atheisti­schen Propaganda die Lehrer in den Schulen, Agitatoren in den Ämtern und Betrieben und sonstige Verbreiter der Gottlosigkeit zur Verfügung, die sich bei der Auswahl ihrer Mittel keinen Zwang antun: abgeschmackte Anekdo­ten über die Geistlichkeit, Verleumdung der Gläubigen und Priester, längst widerlegte pseudowissenschaftliche Argumente (etwa über die Geschicht­lichkeit Christi), gefolgt von hahnebüchenen Schlußfolgerungen unglaublicher Ignoranz. Den Religionsgläubigen dagegen ist jegliche Selbstverteidigung verboten.

 

Gleichzeitig beweist aber die Entwicklung in anderen sozialistischen Staa­ten Osteuropas, daß die Gewährung größerer Freiheit für die Kirche dem Aufbau des Sozialismus nicht schadet, sondern ihn sogar fördert.

Unter allen Ländern Osteuropas hat die Deutsche Demokratische Republik, im Kriege am härtesten mitgenommen, heute den höchsten Lebensstandard erreicht. Das Land zeichnet sich durch ein hohes Produktionsniveau und hohe Warenqualität aus. In der DDR werden die Gläubigen nicht verfolgt, keine Kirchen geschlossen, es gibt katholische wie auch protestantische Publikatio­nen. Im Jahre 1972 verlegte die katholische Kirche der DDR (St. Benno-Verlag) 292 Bücher (Titel) — dabei ist die Zahl der Katholiken in der DDR nicht größer als in Litauen. Im benachbarten Polen geben Religionsgläubige viele Bücher heraus, verfügen über eigene Schulen; in den staatlichen Schulen wird den Kindern Religionsunterricht erteilt, wenn die Eltern dies wünschen. Ähnlich ist die Lage in Jugoslawien, Ungarn, der Tschechoslowakei, kurz überall, außer in Albanien.

 

„Hier in Europa wurden Ansprüche auf Weltherrschaft in politische Dok­trinen umgedeutet, doch schließlich stürzten jene Staaten, deren Machtmittel verbrecherischen, menschenfeindlichen Zielen dienten" — so sagten Sie am 31. Juli 1975 in Helsinki. „Deshalb ist jetzt die Zeit gekommen, aus ge­schichtlicher Erfahrung unvermeidliche kollektive Schlüsse zu ziehen!"

 

Wer könnte dem nicht zustimmen!? Es stürzte nicht nur das faschistische Deutschland, zerfallen ist auch das Römische Weltreich, das 300 Jahre hin­durch die Christen verfolgte. Überlebt aber hat die niemals alternde Wahr­heit, der Glaube der Menschen hat den Schrecken der Jahrhunderte wider­standen.

 

Diejenigen, die in Litauen die antireligiöse Propaganda leiten und die Ver­folgung der Gläubigen durch physischen Druck und Gewaltanwendung or­ganisieren, irren sich in der Meinung, Glaube und Uberzeugung ließen sich aus den Herzen der Menschen reißen.

 

Die katholische Kirche Litauens verlangt vom Staat nichts Unmögliches. Was sie will, ist daß der Staatsapparat nicht gegen die katholische Kirche und deren Rechte eingesetzt wird, die ja von der Verfassung garantiert wer­den, denn „die politische Gesellschaft und die Kirche sind auf ihrem jeweili­gen Gebiet unabhängig und autonom. Beide Institutionen dienen, wenn auch auf verschiedener Grundlage, demselben Ziel, der persönlichen und sozialen Berufung derselben Menschen. Dieser Dienst am Gemeinwohl wird um so erfolgreicher sein, je besser die beiden Institutionen auf eine gesunde Zusam­menarbeit in den jeweiligen Bedingungen von Ort und Zeit achten." (Be­schlüsse des II. Vatikanischen Konzils, Vilnius, 1975, S. 185.)

Das Anliegen dieses an Sie, verehrter Leonid Iljič, gerichteten Briefes ist die Bitte um die Wiedergutmachung begangener Fehler in bezug auf die Ver­letzung der internationalen und sowjetischen Gesetze:

1.      Keine Diskriminierung der Gläubigen, keine Arbeitsentlassungen dersel­ben, keine Haussuchungen in deren Wohnungen, keine Drohungen und Verhaftungen;

2.      Abstellen administrativer Eingriffe in die inneren Angelegenheiten der Kirche;

3.      Amnestie für alle Gefangenen, die wegen ihrer Überzeugung in den La­gern schmachten (s. § 8);

4. Rückgabe der Bücher und anderer Dinge, die mir und anderen bei Haus­suchungen widerrechtlich abgenommen wurden.

Hochachtungsvoll

Lapienis, Vladas, Sohn des Antanas, wohnhaft in Vilnius, Dauguviečiostraße 5—11

23. April 1976

Eine Durchschrift geht an den Ersten ZK-Sekretär der KP Litauens, Petras Griškevičius

 

Verzeichnis

der mir abgenommenen und nicht zurückgegebenen Bücher:

1.      Lietuvos Kataliku Bažnyčios Kronika („Chronik der Litauischen Ka­tholischen Kirche"), Nummer 1—6

2.      Arkivyskupas T. Matulionis 1962—1972 (Erzbischof T. Matulionis 1962—1972), 4 Exemplare

3.      Dr. Pr. Gaidamavičius, Milžinas, didvyris, šventasis (Riese, Held, Hei­liger), 23 Exemplare, eines zurückgegeben

4.      Laidotuvių ir gavėnios giesmes (Gesänge zum Begräbnis und zur Fa­stenzeit), 400 Exemplare

5.     J. Grinius, Žmogus be Dievo (Der Mensch ohne Gott), 4 Exemplare

6.      A. Maceina, Dievo Avinėlis (Das Lamm Gottes), 1 Exemplar, drei zu­rückgegeben

7.      Kratkij tolkovatel k Novomū Zavetu (Kurze Erklärungen zum Neuen Testament, in russischer Sprache), 2 Exemplare

8.     Prälat M. Krupavičius, 2 Exemplare

9.      St. Yla, Vardai ir veidai mūsų kultūros istorijoje (Namen und Gesichter aus unserer Kulturgeschichte), 2 Exemplare

10.    P. Maldeikis, Meile dvidešimtame amžiuje (Liebe im zwanzigsten Jahr­hundert), 2 Exemplare, eines zurückgegeben

11.    J. Prunskis (Red.), Mano pasaulėžiūra. Kulūrininku pasisakymu rink (Meine Weltanschauung. Sammlung von Aussagen Kulturschaffender), 2 Exemplare

12.    P. Maldeikis, Melas kaip pedagogine problema (Die Lüge als pädagogi­sches Problem), 1 Exemplar

13.    P. Maldeikis, Inteligencija ir jos tyrimas (Intelligenz und ihre Erfor­schung), 1 Exemplar

14.   A. Grauslys, Ieškau Tavo veido (Idi suche Dein Antlitz, 2 Exemplare

15.    Bischof V. Brizgys, Negesinkime aukuru (Löscht nicht die Opferfeuer), 2 Exemplare

16.   St. Ylav, Dievas sutemose (Gott in der Dämmerung), 2 Exemplare

17.   J. Klumpys, Petras Jurgis Frasati, 1 Exemplar

18.    B. Brazdžionis, Per pasauli Keliauja imagus (Ein Mensch geht durch die Welt), 1 Exemplar

19.    Pasaulėžiūros klausimai (Fragen der Weltanschauung), II. Teil, 255 Sei­ten, 1 Exemplar

20.    J. Grinius, Tauta ir tautine ištikimybe (Nation und nationale Treue), 1 Exemplar.

 

 

An den Beauftragten des Rates für religiöse Angelegenheiten beim Minister­rat der Litauischen SSR, K. Tumėnas

Durchschriften an

den Apostolischen Administrator des Erzbistums Kaunas, Bischof L. Povilonis