An den Innenminister der Litauischen SSR

Des Priesters Pranas Masilionis, Sohn des Jonas, Rayon Pasvalys, Post Krikli-niai

Bittgesuch

Sehr geehrter Minister!

Ihnen möchte ich meine Ehrerbietung und Zuneigung zum Ausdruck bringen!

Als Mensch zu Mensch möchte ich Ihnen meine Sorgen und Gedanken mit­teilen. Ich spreche offen, ohne jemanden beleidigen zu wollen, im Vertrauen auf die Menschlichkeit.

Es könnte Ihnen bekannt sein, daß es schon 6-7 Jahre lang dauert, seitdem ich mich vergeblich bemühe, eine Erlaubnis zu erhalten, meine Geschwister in Amerika besuchen zu dürfen. In dieser Zeit hat mein Bruder Josef drei for­melle Einladungen geschickt, die auch von der Russischen Botschaft beglau­bigt waren. Die letzte Einladung ist auch vom Außenminister der USA Henry Kissinger und vom Gouverneur des Staates Ohio, Braun, unterschrieben. Da­für sage ich ihnen meinen herzlichen Dank. Leider hat man auf alle Einladun­gen hier negativ geantwortet. Immer ohne Begründung. In dieser Zeit habe ich ein Gesuch an den Ministerpräsidenten gerichtet, die Abschrift Ihnen zugeschickt, und auch die Briefabteilung des Ministerpräsi­denten hat mir mitgeteilt, daß dieser mein Gesuch an das Innenministerium, also an Sie weitergeleitet habe. An Sie als Innenminister direkt habe ich vier Gesuche geschrieben. Alle diese meine Gesuche habe ich bei der Post regi­striert, aber ich habe weder von Ihnen noch von Ihrem Ministerium eine Ant­wort bekommen, auch keine Nachricht, ob meine registrierten Briefe ange­kommen seien.

Zu Besuch nach Amerika werde ich von meinem Bruder Josef eingeladen, der diese Einladung mit meinen Schwestern und mit meinem anderen Bruder abgesprochen hat: sie laden mich alle ein. Er lädt mich deshalb ein, weil wir uns schon lange nicht mehr gesehen haben, beinahe 40 Jahre, und weil wir alle vor dem Friedhofstor stehen, denn wir sind alle alt. Ich bin 75 Jahre, mein Bruder Adolf, Arbeiter, Rentner - 73; mein Bruder Josef, Arzt, Dr. med., der ein Bein verloren hat, - 63; Schwester Viktoria, verheiratete Miknien, Chirurgin, Dr. med., - 66; Schwester Stanislava, Angestellte in einem Kran­kenhaus - 58 Jahre. Bevor wir die Erde verlassen, möchten wir uns noch ein­mal wiedersehen. Natürlich ist das etwas rein Persönliches, aber auch überaus Menschliches, Ergreifendes . . . Wenn immer nur negativ geantwortet wird, fühlt man sich in seinem Herzen von selbst verwundet und wie im Gefäng­nis .. .

Und doch herrschen hier Menschen; sie wollen und erstreben das Gute, aber Menschen, mögen sie noch so genial sein, pflegen sich zu irren. Und außer­dem verändern sich die Umstände: was gestern nicht gut war, kann heute nützlich sein. Daher mein Wunsch, Ihnen als einer hochgestellten und verant­wortlichen Persönlichkeit einige Gedanken mitzuteilen, die nützlich sein könnten. Ich darf noch einmal aufrichtig versichern, daß ich niemanden ver­letzen oder schädigen will. Möchten Sie doch bitte selbst urteilen, ob ich mich irre, wenn ich behaupte, daß die Verweigerung der Erlaubnis, Angehörige zu besuchen, sowohl unlogisch als auch schädlich ist. Und hier die Gründe.

1. Unlogisch

Mich, einen alten, einfachen Bürger, läßt man nicht heraus, aber andere er­halten die Genehmigung, zum Beispiel A. Solženicyn mit Archipel Gulag und der ganzen Familie; Bukovskij, der über 10 Jahre in psychiatrischen Anstal­ten und Lagern verbracht hat; Plijušč direkt aus einer psychiatrischen Anstalt nach mehrjähriger Drangsalierung; Simas Kudirka nach Verurteilung und Mühsalen im Gefängnis; Familie Jurašas, Tomas Venclova usw. Sie wandern aus voller Erfahrungen, Erinnerungen, Empfindungen, Gedanken. Nach der Auswanderung können sie frei sprechen und wirken. Was könnte ich noch im Westen offenbaren, was dort noch nicht bekannt wäre?! Und wenn ich aus Unachtsamkeit auch etwas sagen sollte, was könnte das schon im Vergleich zu der Flut von Tatsachen und Äußerungen bedeuten, die aus den verschieden­sten Staaten des Westens durch den Rundfunk hereinströmen?! Setzt diese unlogische Haltung das Prestige der Regierenden nicht herab?!

2. Schädlich

Hier wird nicht beachtet, daß Wahrheit, Freiheit, Ordnung, Sauberkeit, Bil­dung, Gerechtigkeit, Tugenden, Wohlstand und Zufriedenheit der Menschen und ähnliches ohne die Möglichkeit einer Verhinderung die Meinung der Menschen formt und daß alles dies die Öffentlichkeit nicht zu scheuen braucht. Das haben nur Lüge, Betrug, Unordnung, Ausbeutung, Ungerech­tigkeit, Zwang, Sklaverei, Terror, Verschwörungen, vorbereitete Vernich­tung und ähnliche Dinge.

Der Westen ist offen. Dieser Meinung sind alle Antikommunisten, denn es liegt auf der Hand, daß dort die Demokratie echt, die Freiheit wirklich ist, daß dort dem Menschen gegenüber in der Tat Ehrfurcht gilt, daß dort das Ge­meinwesen floriert.. .

Die russischen Kommunisten sind verschlossen. Von selbst beginnt dann jener Grundsatz zu wirken: aha, die russischen Kommunisten verheimlichen etwas Schreckliches. Laut Antikommunisten muß man zu der Annahme kommen, daß die Führer des Kommunismus selber, gerade sie, die in der Pro­paganda den Kommunismus mit Friedenstauben, Ährenkronen und aufge­hender Sonne schmücken, - daß sie selbst den Kommunismus sehr gering­schätzen in der Wirklichkeit, denn mit einer Todesangst hüten sie ihn im Ge­fängnis, mit eisernen Wänden, ohne Türen und Fenster, damit ja keiner Nachrichten herausbringt, damit ja kein kritischer Blick etwas bemerkt. . . Man müßte sehr darüber nachdenken, wieviel Unehre und Schaden dem Kommunismus selbst und seinen Führern deshalb entsteht, weil keine Offen­heit da ist. Sagen wir, Bukovski wurde von jemandem im Westen gefragt: „Wieviel Lagerinsassen gibt es in Rußland?" Er hat geantwortet: „250 Millionen".

Diese Behauptung müßte man sofort widerlegen. Aber wie kann man wider­legen, wenn eine hermetische Abschließung des Landes genau dies so stark bezeugt!?

In Litauen kursiert schon recht zahlreich auch die litauische Ubersetzung des Archipel Gulag von Solženicyn. Die Berichte von Bukovskij, Amalrik, Plijušč, Simas Kudirka, Familie Jurašas, der Chronik der Lit. Kath. Kirche, vonAušra und die Berichte von allen anderen Personen sowie Schriften, die in allen Sprachen aus dem Westen hereinströmen, entschleiern bis in die Ein­zelheiten die Wirklichkeit des russischen Kommunismus und entblößen ihn vor aller Augen.

Verteidigung ist unerläßlich. Eine effektive Verteidigung - nur mit Offen­heit: „Kommt, seht, prüft es allseitig, überzeugt euch!" Mit der Offenheit wesentlich verbunden ist die Erlaubnis, nach dem Ausland zu verreisen. Die

Führer des Kommunismus verteidigen sich, aber . . . mit leeren Worten, da­bei verschließen sie sich gegen die Offenheit wie gegen den Tod. Diese kategorische Forderung: „Mischt euch nicht ein in unsere inneren An­gelegenheiten!", ist - nach Auffassung der Antikommunisten - unlogisch. Wenn diese großartigen und wichtigen Verträge unterzeichnet sind: Die De­klaration der Menschenrechte und die Dokumente von Helsinki, dann haben durch diese feierliche Unterzeichnung allein schon die Staaten sich gegen­seitig zu kontrollieren beauftragt, wie diese Verträge eingehalten werden. Wenn in den Verträgen eine solche Vereinbarung nicht enthalten wäre, dann wären die Verträge selbst der hohen Führer, die sie unterschrieben haben, unwürdig, sie wären ein leeres Nichts, das wäre etwas Idiotisches. Deshalb ist diese kategorische Forderung der Führer des Kommunismus, sich nicht in ihre inneren Angelegenheiten einzumischen, etwas Unlogisches, was den Kommunismus und seine Staaten erniedrigt.

Außerdem ist diese Forderung auch verräterisch, denn sie führt nicht nur zur Annahme, sondern zu der Uberzeugung, daß die Nachrichten der oben ge­nannten Personen, ihre Schriften und Dokumente echt sind. Deshalb ist aus den Rundfunksendungen zu erkennen, daß man im Westen zu der festen Uberzeugung gekommen ist, daß dieser geheimgehaltene, abgeschlossene Kommunismus - Sklaverei ist; daß Rußland - ein Lager ist; daß der Kommunismus dort nicht beliebt ist; daß er in die Hirne und Herzen durch Terror eingehämmert wird; daß er sogar ökonomisch lebensfremd ist; daß je­doch seine Führer vorhaben, ihn der ganzen Menschheit aufzuzwingen, sie zu unterjochen und sie ähnlich zu terrorisieren.

Um diese Behauptungen zu beseitigen, ist die Offenheit unerläßlich, die Er­laubnis für die Menschen, ein- und auszureisen.

Jugoslavien ist sehr offen: viele Tausende von Arbeitern reisen alljährlich zu Verdienstzwecken nach dem Westen aus und wieder ein. Keiner wird da­durch geschädigt. Die Parteien des Westens schreiten entschlossen auf Hu­manismus und Offenheit zu. Deshalb erlangen sie um so mehr Sympathien. Die Deklaration der Menschenrechte und die Schlußakte von Helsinki sind unversiegliche Quellen wahrer Freiheit und blühenden Wohlergehens, seit äl­testen Zeiten von Menschen, Völkern und der Menschheit ersehnt. Für diese Rechte erhebt sich jetzt sturmartig eine breite Bewegung. Ihrer ist die Zu­kunft. Ihre Verwirklichung ehrt die Staatsführer, die keine Öffentlichkeit und keine Stürme zu fürchten brauchen.

Eingedenk alles dessen, was ich hier schreibe, und unter Berücksichtigung unser aller gemeinsamen Nutzen, bitte ich Sie mit Vertrauen, sehr geehrter Herr Minister, um Erlaubnis, meine Geschwister in Amerika besuchen zu dürfen. Es ist möglich, daß meine Dokumente noch in Vilnius vorhanden sind, in der Visumsabteilung.

Was soll ich anfangen, wenn ich wiederum ungehört bleibe?

Dann müßte ich mich schwer geschädigt und versklavt fühlen. Dadurch würde ich so gestimmt und vorprogrammiert, in Zukunft an keinen politi­schen Wahlen und Abstimmungen mehr teilzunehmen. Für meine Geschwi­ster, ihre Freunde und für die gesamte Öffentlichkeit Amerikas wäre das nur ein neues Zeichen, und zwar unnötig gegeben, daß die oben erwähnten Be­schuldigungen wahr sind. Wem nützt das!?

Anmerkung

Abschriften habe ich an die Bischöfe, Bistumsverwalter, an den Ministerprä­sidenten und den Bevollmächtigten des Rates für religiöse Angelegenheiten, Tumėnas, abgeschickt.

Mit großer Ehrerbietung Priester Pranas Masilionis

den 14. Mai 1977

Rayon Pasvalys, Post Krikliniai.

N.B. Nach Empfang der Abschrift des Bittgesuches hat der Bevollmächtigte des Rates für religiöse Angelegenheiten, K. Tumėnas, den Pfr. P. Masilionis vorgeladen und ihm gedroht, die Regierung würde den Priester P. Masilionis niemals zum Besuch der Angehörigen im Ausland fahren lassen, falls sein Bittgesuch in derChronik der LKK erscheine.