Die Mitarbeiter des Kulturministeriums der Litauischen SSR wunderten sich am 18. Juli 1978 über ihren fahrig und nervös umherirrenden Kollegen Henrikas Lanzbergas, ein langjähriger Funktionär des Hauses. Kein Mensch ahnte etwas. Erst als der Direktor des wissenschaftlich-methodischen Kabinetts erschien, erfuhr man die grausige Geschichte vom Selbstmord der 21jährigen Renata Gavrilenkaitė aus derselben Abteilung. Sie hatte sich an der Wohnungstür ihres Liebhabers Henrikas Lanzbergas aufgehängt. Dieser hatte nicht einmal gewagt, die Schnur abzuschneiden, um ja keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Doch bald fanden Kollegen im Ministerium den Abschiedsbrief der Toten . . . Ein überraschendes Ereignis, wie es scheint. Wirklich? Seit langem residiert H. Lanzbergas in den Räumen des Ministeriums, und schon seit Jahren hört man in seinem Zimmer Mädchen schreien. Über die persönlichen Eskapaden dieses Wüstlings konnte man auch außerhalb des Ministeriums einiges hören, doch was kümmerte dies schon die verantwortlichen Amtsleiter. Über die Moral des H. Lanzbergas zu reden erübrigt sich, sehen wir uns lieber sein letztes (?) Opfer an.
Mag die Tote selbst sprechen. In ihrem Abschiedsbrief schrieb Renata, »die Augen des ermordeten Kindes« hätten ihr keine Ruhe gelassen. Der durch sowjetische Rechtsprechung legalisierte Kindermord hat also die Stimme des Gewissens einer jungen Frau nicht ganz verstummen lassen. Vielleicht war sie noch nicht lange genug im Kulturministerium tätig, wo man so sehr auf atheistische Moral bedacht ist und »religiöse Vorurteile« heftig bekämpft . . . Sehen wir uns das Leben der Renata etwas näher an. Der Vater — ein Sowjetfunktionär, dessen väterliche Fürsorge für seine drei Kinder damit aufhörte, daß er sie physisch ins Leben setzte. Lebensinhalt der Mutter wurde der Alkohol nach der weit schwereren Aufgabe, drei Kinder zu gebären. Damit aber endete auch die »Mutterschaft«.
Der Sowjetschriftsteller M. Sluckis hat in seinem Roman »Geri Namai« (Das Gute Haus) die Tätigkeit eines sowjetischen Kinderheims geschildert. Leider sieht die Wirklichkeit anders aus. In unserem konkreten Fall konnte das »Gute Haus« dem Mädchen nur kommunistische Moralvorstellungen und Phrasen von einer »lichten Zukunft« beibringen. Weitergeführt wurde diese Entwicklung in der Internatsschule Molėtai. Hier brachte man Renata bei, christliche Moral, angeblicher Mord an ungeborenem Leben und ähnliches sei nichts als Angstmacherei priesterlicher Dunkelmänner, während die Frau heute befreit sei von »bürgerlichen und religiösen Vorurteilen«. Bis vor kurzem vermittelte diese Internatsschule solche Weisheiten auch an die Schwester der Toten — Eugenija. Bei der Beerdigung gab eine der Erzieherinnen übrigens zu verstehen, sie habe Renatas Tragödie kommen sehen, »konnte jedoch nichts daran ändern«. Das ist durchaus glaubhaft, denn die Sowjetschule hat weder die Mittel noch die Aufgabe gegen moralische Entgleisungen anzukämpfen. So vorbereitet ging Renata hinaus ins Leben. Sie arbeitete beim Schriftstellerverband. Hätte ihr der Umgang mit Schriftstellern nicht dazu verhelfen müssen, umzudenken und eingetrichterte Moralbegriffe kritisch zu bewerten? Wer sonst, wenn nicht Poeten und Schriftsteller, könnte zur Besserung des Menschen beitragen! Leider blieb Renata wenig Zeit für ihre eigentliche Arbeit. Hauptaufgabe wurde, sich als Beischläferin mißbrauchen zu lassen und die besoffenen »Seeleningenieure« heimwärts zu karren. Dann folgte, als letzte Etappe, das Kulturministerium. Hier erwartete sie der Dienst in dem vom jetzigen ZK-Sekretär, L. Šepetys, im Ministeriumsbau selbst tolerierten »Gästehaus« (neulich konnte man in der Presse ausführliche Abhandlungen von Šepetys zum Thema »moralische Erziehung« lesen). Hieran hat sich übrigens auch unter einer neuen Leitung der Behörde nichts geändert.
Die neue Mitarbeiterin Renata geriet denn auch bald in die dortige Wohnung von H. Lanzbergas. Die Tragödie entwickelte sich schrittweise. Bald spürte der »Liebhaber«, daß sein neues Opfer irgendwo noch Vorstellungen von echter Liebe hegte, und zwang das Mädchen bald, wie bereits andere vor ihr, nachts oftmals zu schreien. Sobald er ihrer überdrüssig wurde, warf er sie, manchmal um Mitternacht, einfach vor die Tür hinaus. (Renata hatte kein eigenes Zimmer und konnte nur bei Verwandten unterkommen.) Etwas Ähnliches dürfte wohl in der fraglichen Nacht passiert sein.
Renata erwartete ein Kind. Sofort fanden sich im Ministerium eine Menge von »Ratgebern«, die wußten, wie man so eine »Unpäßlichkeit« aus der Welt schafft. Es gab auch Stimmen, die andere Wege wiesen, doch bewirkten sie nichts. Die Entscheidung zum Mord an ungeborenem Leben traf der »Liebhaber« selbst, indem er zu verstehen gab, eine Geburt bedeute das Ende der »Liebe«.
Kein Wunder. Wer in dieser Behörde hätte denn auch Charakter mit Autorität, offen und mutig sagen zu können, daß eine Abtreibung in Wirklichkeit Mord ist — denn die sowjetische Gesetzgebung hat die Sache juristisch doch längst legalisiert.
Renata ruht auf dem Friedhof von Rokantiškės. Irgendwer sagte, ihre Tragödie sei gewesen, daß sie keine Ideale besaß. Das trifft zu. Doch keiner fragt, warum sie keine hatte! Und keiner regte sich auf, als sie von dem Kindsmord berichtete.
Hauptsorge des Ministeriums ist es jetzt, den Vorfall zu vertuschen. Wäre es gelungen, die Sache geheimzuhalten, brauchte man nicht einmal das zu tun. So werden ja Hunderte ähnlicher Fälle totgeschwiegen . . . Vielleicht abschließend noch einige Details von der Beerdigung. Gekommen waren Renatas »Vater«, L. R. Gavrilenko, ihre »Mutter« und selbst H. Lanzbergas. Wer die drei nicht kannte, wäre erst gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß diese Leute irgend etwas mit der Toten zu tun hatten: gleichgültigere Trauergäste kann man sich kaum vorstellen. Der »Vater« fiel lediglich durch Medaillen und Ordensspangen, der »Liebhaber« durch einen Fotoapparat und das Gebaren eines Berufsfotografen auf. Nichts Ungewöhnliches, ein Alltagsbild sowjetischer Wirklichkeit.
Hinterbliebene? Renatas Schwester Eugenija — Tausende Renatas und Eugeni-jas . . . Hinterblieben ist die auf kommunistischer Moral begründete Erziehung in Kinderheimen und Schulen. Hinterblieben sind die Produkte sowjetischer Wirklichkeit vom Schlage der Lanzbergas, Šepetys, Gavrilenko . . . Wäre es nicht an der Zeit, ernsthafte Folgerungen daraus zu ziehen? . . .