Das Gerichtsverfahren gegen V. Petkus begann am 10. Juli 1978, und eine sorgfältige Regie war dieser Justizkomödie vom ersten Tage an eigen. Zur Verlesung der Anklageschrift wurden nur Esten und Letten geladen und eingelassen, d. h. Zeugen, die Litauisch weder sprechen noch verstehen. So konnten sie nur wahrnehmen, wie vier Milizionäre V. Petkus mit ausgedrehten Armen in den Gerichtssaal schleiften. Vor Gericht erklärte sich der Angeklagte nicht schuldig und verzichtete auf einen Rechtsanwalt. Die übrige Zeit hindurch strafte Petkus das Gericht mit demonstrativer Nichtbeachtung, beantwortete keinerlei Fragen, brütete einfach vor sich hin, ohne sich zu verteidigen oder etwas zu erklären. Die erste Verhandlung dauerte eineinhalb Stunden, worauf sich das Gericht vertagte.
Am 11. Juli 1978 erschien eine große Schar von Freunden und Gesinnungsgenossen des V. Petkus beim Obersten Gerichtshof, sie durften den Verhandlungsraum jedoch nicht betreten. Ein an der Eingangstür postierter Tschekist erklärte allen, im Saal sei »kein Platz mehr frei«. Als erste Zeugen betraten den Saal Pfarrer A. Garuckas, Frau O. Lukauskaitė-Poškienė und R. Ragaišis. Sie stellten verwundert fest, daß der bis zum Einlaß der Zeugen verschlossene Raum bereits von einer Menge seltsamer Typen besetzt gehalten wurde. Nach Kenntnisnahme dieser Art von Publikum fragte Frau O. Lukauskaitė-Poškienė (Mitglied der litauischen Helsinkigruppe) den Zeugen Pfarrer Garuckas (ebenfalls Mitglied derselben Gruppe) laut hörbar:
»Sind das alles Zeugen? Oder etwa Presseleute — Nein?! Dann handelt es sich wohl um >geladene Ehrengäste<!«
Das waren sie wirklich — Statisten eines Justizschauspiels, die den Saal über Diensteingänge betreten und so besetzt hatten, daß kein Platz für Leute blieb, die mit dem Angeklagten sympathisierten und der Verhandlung als Zuhörer und Zuschauer beiwohnen wollten.
Eine große Gruppe Nichteingelassener wandte sich protestierend an den Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes, doch geruhte dieser nicht mit ihnen zu sprechen. Lediglich die Sekretärin erklärte, dieses sei eine nichtöffentliche Verhandlung. Ein Schild mit der Aufschrift »Prozeß gegen V. Petkus — nichtöffentliche Verhandlung« wurde an die Tür gehängt. In der ersten Prozeß pause verließen dann die erwähnten »Ehrengäste« den Verhandlungsraum.
Wichtige Zeugen des Verfahrens wurden nach Artikel 68 und 70 der Strafprozeßordnung erst am späten Abend vernommen. Alle begrüßten V. Petkus beim Eintreten und hatten über ihn nur etwas Positives zu sagen, z. B. »guter Katholik«, »anständiger Litauer«, »braver Mann von Kultur«, und weigerten sich, aus Solidarität gegen ihn auszusagen.
Bei Betreten des Saales begrüßte Pfarrer K. Garuckas den Angeklagten mit katholischem Gruß und überbrachte ihm die Grüße aller Nichteingelassenen. Vom Richter befragt, ob er den Angeklagten kenne, sagte Garuckas aus, er kenne V. Petkus als guten Katholiken, wirklichen Litauer und Mitglied der litauischen Gruppe zur Unterstützung der Helsinki-Beschlüsse, der er selbst ebenfalls angehöre.
»Wir haben gemeinsam gehandelt, und Sie können mich neben V. Petkus auf die Anklagebank setzen. Sollte ich im Lager umkommen, so werde ich es mir als Ehre anrechnen zu sterben wie meine Lehrer — Bischof Reinys und Pater An-driuska. Ich weigere mich, weitere Aussagen zu machen.« Die Zeugin Jadvyga Petkevičienė überreichte Petkus eine Rose, die man ihm aber sogleich wieder abnahm.
»Ehre dir, Sohn meines Volkes, der du deine Freiheit für unsere Rechte opferst« — mit diesen Worten hat Frau Petkevičienė wohl die Gefühle aller ehrlichen Litauer ausgedrückt.
Frau O. Lukauskaitė-Poškienė erklärte:
»Viktoras Petkus, Mitglied der litauischen Helsinkigruppe, kenne ich als anständigen, guten Menschen von hohem kulturellen Niveau. Nach seiner Verhaftung protestierte ich bei der Staatsanwaltschaft gegen Festnahme eines Unschuldigen. Auch heute bin ich weiter von seiner Unschuld überzeugt, daher ersuche ich, Richter, umWiederherstellung der Rechtslage und Abbruch des Prozesses. Damit habe ich meine Erklärungen abgeschlossen und werde keine weiteren Fragen mehr beantworten.«
Der Prozeßtag am 12. Juli begann nicht etwa mit der Gerichtsverhandlung, sondern mit einer filmreifen Tragikomödie. Erschienene Zeugen durften den Saal nicht betreten. Vor dem Gerichtsgebäude standen zwei fahrbare Kinostudios, während sich das Filmpersonal im Verhandlungsraum betätigte. Ob sich der Gerichtsvorsitzende, Ignotas, und Staatsanwalt, Bakučionis, neben ihrer Regietätigkeit auch noch als Filmdarsteller betätigten, war nicht festzustellen. Jedenfalls wurde der einzige Belastungszeuge, der junge Soldat Čivilis, unter uniformierter Bewachung in den Saal eskortiert. Bereits am zweiten Verhandlungstag hatte er jugendlichen Freunden weinend berichtet, daß ihn der Geheimdienst gezwungen habe auszusagen, als er völlig betrunken war, überhaupt nichts begriff und alles tat, was man ihm befahl. Später habe er nicht den Mut zum Widerruf gehabt. Armes Kerlchen! Petkus hat ihn unsittlich nie angetastet, doch ist er moralisch von denen vergewaltigt worden, die ihn zu lügnerischen Aussagen zwangen. Andere Jugendliche, die bei Petkus zusammen die »Geschichte Litauens« von Sapoka und religiöse Literatur studierten, haben Civilis in der Wohnung von V. Petkus niemals gesehen.
Das Mitglied der Helsinkigruppe E. Finkelsteinas unterbreitete dem Gericht folgende schriftliche Erklärung:
»Ich weigere mich als Zeuge gegen V. Petkus auszusagen, denn ich, wie auch er, Mitglied der litauischen Helsinkigruppe bin, somit wie auch er für die Tätigkeit der Gruppe und der von ihr vorbereiteten Dokumentation verantwortlich. Ich kann an dem Prozeß nur als Angeklagter teilnehmen.«
Jetzt wurden zwei Haushälterinnen der Wohnung von V. Petkus in den Saal gebeten. Noch vor Betreten des Raumes hatten Geheimdienstbeamte versucht, herauszubekommen, ob und was die Frauen aussagen würden. Als sie erklärten, »das kommt auf die Fragen des Richters an«, wurden die Zeuginnen eingelassen. Zeugenbefragung vor der Tür zum Verhandlungsraum!? Vor Gericht sagten sie aus, Petkus habe acht Jahre lang in ihrer Wohnung gelebt, Trinkgelage hätten nie stattgefunden, beim Aufräumen hätten sie niemals leere Flaschen, ja nicht einmal einen Korken gefunden. Junge Leute hätten sich bei Petkus versammelt, sich aber stets anständig und höflich benommen. Enttäuscht über solche Aussagen hob Staatsanwalt Bakučionis verzweifelt die Hände hoch und rief auf Russisch »Nu wot!« (Da haben wir's.) Vor Gericht wurden die Aussagen des Letten Kalnins über die beabsichtigte Gründung eines gemeinsamen Befreiungskomitees für Estland, Lettland und Litauen verlesen. Die Petkus belastenden Aussagen hatte man Kalnins regelrecht abgekauft — um den Preis eines Ausreisevisums in den Westen. Und tatsächlich befand sich Kalnins mit seiner Familie zu Prozeßbeginn bereits im Westen. Nach der verlesenen Eigenaussage hätte Kalnins wohl neben Petkus auf der Anklagebank sitzen müssen. Man frage nicht nach Logik! Ein Mitglied derselben Organisation erhält eine Gefängnisstrafe, ein anderes freie Ausreise in den Westen. Während der ganzen Verhandlung am 12. Juli wurde im Gerichtssaal eifrig gefilmt.
Auch am 13. Juli wurde niemand in den Verhandlungsraum eingelassen. Geheimdienstagenten niederer und höherer Dienstgrade wimmelten und wanden sich durch die in Nebenräumen Wartenden. Deren Haltung blieb ernst und gelassen. Vor Beginn der Verhandlung vertrieben Agenten des Geheimdienstes alle aus dem Warteraum, außer den geladenen Zeugen. Die Jugendlichen begaben sich daraufhin in aller Ruhe ins breitangelegte Treppenhaus. Irgend jemand organisierte einen Arm voll Blumen, die man einzeln an Zeugen und die jungen Menschen austeilte.
Die Jugendlichen und sonstige Freunde von V. Petkus versammelten sich nun, mit Blumen in der Hand, auf der einen Seite der Treppe und begannen zusammen den Rosenkranz zu beten. Daneben standen stumm Geheimdienstler, Milizionäre und Hilfspolizisten, auf der Straße wartete einsatzbereit ein Milizauto. Eine große Menge von Bürgern der Stadt Vilnius beobachtete diese außergewohnliche Szene durch die Fenster der Republikbibliothek. Völlig perplex ob dieser ungewöhnlichen Art von Protest, verblieben Miliz und Geheimdienst zunächst rat- und tatenlos. Darauf erschien ein Kameramann bzw. Geheimdienstmann und begann die Betenden von allen Seiten zu fotografieren. Einer der Zeugen zückte darauf seinerseits eine Kamera und machte Aufnahmen von dem Fotografen. Nach Ende des Gebets bedankten sich die Jugendlichen freundlich lächelnd bei dem Filmoperateur, Kameramann, für dessen Mühewaltung und setzten nach kurzer Pause ihr Rosenkranzbeten für den Angeklagten V. Petkus fort.
Nach der Mittagspause stellten die Zeugen erneut fest, daß der Verhandlungsraum erneut mit Leuten gefüllt war, die man durch Diensteingänge eingelassen hatte. Die Geheimdienstwachen ließen nur fünf Menschen den Verhandlungsraum betreten: A. Terleckas, O. Lukauskaitė-Poškienė, Pfarrer K. Garuckas und die Haushälterinnen von V. Petkus. Alle übrigen wurden grob abgedrängt, die aus Moskau zugereiste Frau Velikanova wurde von Oberstleutnant Baitins so brutal gestoßen, daß sie zu Boden stürzte.
Das Gericht proklamierte Viktoras Petkus zu einem »besonders gefährlichen Rückfälligen« und verurteilte ihn zu drei Jahren Gefängnis, sieben Jahren Lager unter strengem Regime und fünf Jahren Verbannung. Das Gericht gab ferner bekannt, R. Ragaišis werde wegen verweigerter Zeugenaussage strafrechtlich zur Verantwortung gezogen. So endete diese grausame Gerichts-Tragikomödie.
Anmerkung:
Diese Schilderung des Prozesses gegen V. Petkus beruht auf dem schriftlichen Bericht eines Teilnehmers an der Verhandlung.