Am 29. Mai 1982 hat Vytautas Vaičiūnas, gefangengehalten im Gebiet von Tscheljabinsk in der Stadt Bakal, ein Wiedersehen mit seinem Bruder und mit seiner Frau gehabt, und am 11. August durfte er während eines Be­suches durch eine Glastrennwand anderthalb Stunden lang mit seiner Frau sprechen.

Der Gesundheitszustand von Vytautas Vaičiūnas ist wesentlich schlechter geworden. Vor kurzer Zeit lag er im Krankenhaus, wo er noch nicht ausge­heilt vorzeitig entlassen wurde, weil im Lager eine Epidemie tobte und im Krankenhaus nicht genügend Plätze vorhanden waren. Es haben ihn Ge­schwüre befallen, am Bein ist eine große Wunde, ein starkes Jucken quält den ganzen Körper, und nach einem längeren Spaziergang schwellen die Füße an. Zur Zeit wiegt Vaičiūnas 73 kg (in der Freiheit wog er 115 kg). Nach Verbüßung eines Drittels der Strafe bat Vytautas Vaičiūnas, ihn in die freie Bauwirtschaft zu entlassen (diese Erleichterung wird allen Krimi­nellen im Lager mit allgemeinem Regime gewährt). Die Gefängnisverwaltung erlaubte dies nicht mit der Begründung, seine Gesundheit sei zu schwach.

»Dann geben Sie mir eine zusätzliche Nahrungsration«, wendete Vaičiūnas ein.

»Steht nicht zu!« bekam er als Antwort.

In den Lagern für Kriminelle werden nach Verbüßung der Hälfte der Strafe die Akten der Gefangenen überprüft, und, wenn er nichts verbrochen hat, wird er vom Lagergericht neu beurteilt und in die Freiheit entlassen. Die Akten von V. Vaičiūnas wurden nicht überprüft.

Die an Vytautas Vaičiūnas geschriebenen Briefe erreichen ihn kaum noch — von 12 von seiner Frau geschriebenen Briefen bekam er nur 2. Die La­gerverwaltung behauptet, daß sie alle an ihn adressierten Briefe ausliefere.

Nachdem Vaičiūnienė eine Beschwerde an den Generalstaatsanwalt der UdSSR geschrieben hat, daß ihr Mann die für ihn bestellten litauischen Perio­dika nicht bekommt, wurde der Staatsanwalt der Stadt Satko beauftragt, die Angelegenheit zu überprüfen. Nach der Beschwerde verbot die Staatsan­waltschaft der Stadt Satko sogar, an V. Vaičiūnas die »Komjaunimo tiesa« (Die Wahrheit des Komsomol) auszuliefern, die einzige Zeitung, die er noch ab und zu bekommen hatte.

Die Lagerverwaltung behauptet, daß sie überhaupt keine litauische Zeitung erhalte. Das bedeutet, daß sowohl die Briefe als auch die litauischen Periodika V. Vaičiūnas deshalb nicht erreichen, weil jemand einen speziellen Befehl gegeben hat.

Einmal im Monat darf man in der Lagerkantine für 7 Rubel Lebensmittel kaufen (selbstverständlich, wenn der Gefangene sich nichts gegen die Lager­verwaltung hat zuschulden kommen lassen), aber in der Kantine gibt es nichts, außer Karamellen der minderwertigsten Sorte, Brot und alter Mar­garine, von der die Gefangenen oft krank werden.

Immer seltener und seltener erreicht ein Wort der gefangenen Litauer aus den Lagern Sibiriens das Land am Nemunas — etwa die Hälfte der von ihnen geschriebenen Briefe verschwinden, man weiß nicht wohin, obwohl sie per Einschreiben und mit registrierten Zustellungsbestätigungen abgeschickt werden. Aber noch viel schwieriger ist die Reise der aus Litauen abge­schickten Briefe in die Weiten Rußlands; mehr als die Hälfte verschwindet, ein Teil reist ein halbes Jahr von Vilnius bis zur Gefangenenzelle im Gebiet von Perm, und wieder für andere Briefe bekommen zwar die Einwohner von Vilnius die Zustellungsbestätigungen, aber die Gefangenen bekommen diese Briefe nicht zu sehen.

Antanas Terleckas schreibt in seinem Brief vom 15. August 1982: »... Das Lagerleben ist viel schwerer geworden als vor 20 oder sogar 30 Jahren.« Viktoras Petkus schreibt in seinen Briefen des Jahres 1982: ». . . Ach . . . wie naiv sind wir doch beide gewesen, als wir geglaubt haben, daß nach den Vereinbarungen von Helsinki neue Winde in Europa wehen werden!... Am 7. Februar habe ich Ihnen einen Brief geschrieben, gestern aber gaben sie mir den Umschlag und die Zustellungsbestätigung zurück. Der Brief ist wegen angeblich ideologisch schädlichen Inhalts beschlagnahmt worden.« 21. März 1982.

»... Aus irgendwelchem Grund hörte zwischen uns beiden die Korrespondenz gänzlich auf: von Dir bekam ich heuer einen einzigen Brief vom 15. Januar. (Von zehn Briefen erreichte V. Petkus ein einziger — Red.). Zu Christi Himmelfahrt, Pfingsten, Fronleichnam und am ersten Juli gab ich Briefe ab, damit sie per Luftpost, eingeschrieben und mit eingeschriebenen Zustel­lungsbestätigungen an Dich geschickt würden, ich bekam aber nicht einmal Zustellungsbestätigungen. Deswegen schreibe ich auch nur einige Worte. Aus dem Krankenhaus bin ich zurück. Die Fäden nach der Operation sind noch nicht herausgezogen (ihm wurde aus der Nase ein Tumor heraus­operiert. — Red.). Deswegen weiß ich noch nicht, wie die Naht aussehen wird. Die linke Kopfseite schmerzt immer noch.« 12. Juli 1982.

Vytautas Skuodis schreibt:

». . . Die Routine meines Lebens ist immer dieselbe. Vom Samstag bis Mitt­woch inklusiv, von ganz früh am Morgen bis spät am Abend durchgehend die Arbeit in der Wäscherei und im Badehaus, da vergeht die Zeit sehr schnell. Am Sonntag lasse ich nur das draußen trocknen, was ich am Samstag­abend und in der Nacht gewaschen habe. Na, und die übrige Zeit — ab Mittwochnachmittag bis Freitagabend — vergeht ebenfalls wie ein Blitz, beim Lesen der zahlreich angehäuften Periodika. (....). Die Wäscherei be­ansprucht annähernd 56 Stunden in der Woche. Und nach so einer Arbeit fühlt man sich wie ein abgetragener Gummischuh.«

(Vytautas Skuodis hat bekanntgegeben, daß er am 15. Juni jedes Jahres, aus Protest gegen die Besetzung Litauens, trocken fasten wird. Am Abend des

15. Juni dieses Jahres hatte er um etwa 21 Uhr einen leichten Infarkt, — Red.) »Erst nachdem ich eine halbe Stunde im Badehaus auf einer Zement­schwelle bei offenem Fensterchen gelegen, den Kopf auf einem umgedrehten leeren Eimer, verging die Schwäche. Dieses Mal bin ich ohne einen Tropfen Wasser ausgekommen. Offenbar bin ich an dem Tag ziemlich stark ermüdet gewesen.« 9. Juli 1982.

Vytautas Vaičiūnas schreibt in seinen Briefen:

». . .Es ist schon das zweite Jahr, daß ich die Ketten eines Gefangenen trage, den Flug eines freien Geistes kann aber niemand in Ketten legen. Laßt uns also froh sein im Herrn und leben in der Hoffnung auf die Begegnung, die uns, den Gläubigen, leuchtet, und die nicht einmal die Schatten des Todes zu verfinstern vermögen. Mir hat Gott den Weg des Opfers zugedacht, und deswegen danke ich Ihnen von Herzen für Ihre Unterstützung, Mitwirken, Opfer und Gebete.

Übermitteln Sie meine herzlichsten Wünsche allen meinen Lieben in Litauen. Sagen Sie ihnen, daß von meinem materiellen Teil nur die Hälfte geblieben ist (von seinem früheren Körpergewicht, — Red.), dafür erhebt sich aber der Geist um so freier in die Himmelsregionen. Ich bin bereit, alles zu erdulden, alles zu ertragen sowie Christus / in meinem Herzen / zu bewah­ren. Ich danke Euch für Euren Beistand. Ich lebe in dem vom Herrn ge­brachten Frieden.« Im Juli 1982.

Aus den Briefen von Julius Sasnauskas:

». . . Mein Urlaub geht schon zu Ende. Wenn nicht meine Mutter, dann wären diese sehr triste gewesen . . . (Nach den sowjetischen Gesetzen haben die Verbannten, die das Verbannungsregime nicht verletzt haben, das Recht, für etwa 14 Tage als Urlauber in die Heimat zurückzukehren. Für Julius Sasnauskas wurde ohne jede Begründung nicht erlaubt, aus der Verbannung in Parabel in die Heimat zu fahren. Ja, er durfte nicht einmal zum Rayon­krankenhaus in Tomsk reisen, zu einer komplizierten Knieoperation. — Red.). Wenn ringsherum die Dunkelheit des Abends sich verdichtet, dann muß man in der Hoffnung auf die Morgenröte leben .. . Und Gottes Vor­sehung wird es sicher fügen, daß wenigstens ein Teil dieser Hoffnungen in Erfüllung geht.

... Ab Montag habe ich vor, ins Krankenhaus zu gehen (Nach Parabel — Red.). Manchmal ist es wohl gut, im Krankenhaus zu landen, damit man sieht, wie kurz dieses unser Dasein ist und wie viele noch größere Miß­geschicke es rings um dich gibt, als es das deine ist. Möge überall Gottes Wille geschehen! Der Gedanke an Euch alle, Euer heiliges Gebet erhält mich, und wird mich auch weiter stärken.

... Ich danke Gott für alle menschlichen Herzen, die den Geist der Liebe unter uns ausstrahlen. Möge allen aus den Händen des Guten Hirten ver­golten werden.« Im Juli 1982.

Anastazas Janulis schreibt:

».. .Wie oft beugen wir uns, obwohl wir es nicht wollen, der abscheulichen Gewohnheit und nehmen in die Hände, in denen sich gerade noch ein Rosen­kranz befand, ein Gläschen! An diesem heiligen Abend von Allerheiligen möchte ich auf den Knien meinen Landsleuten, meinem Volke zurufen: Wohin gehst du, mein Volk?! Ich wäre bereit, hier in der Unfreiheit zu ster­ben, wenn nur aus den Händen meiner geliebten Landsleute das Gläschen verschwindet!« 1. November 1981.

»... Was kann ich über meinen grauen Alltag berichten? Ob es schwer ist, fern der Heimat zu leben? Oh, ja! Ist es nicht einfach, ohne Sakramente, ohne Altar, und auch ohne Orgel auskommen zu müssen? Natürlich! Ist es nicht ungemütlich, gleichsam von einer Dornenkrone, von fünf Zäunen verschiedener Art ständig umzingelt zu sein? Das ist klar! Der Mensch ist aber kein Tier, er weiß, daß es besser ist, gefesselte Füße zu haben als ge­knebelten Geist. Nicht umsonst sagt der hl. Paulus, daß die Liebe den Menschen frei macht. Deshalb kann ich, wenn ich auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft blicke, ungelogen sagen:

Freue dich, Seele, nach Fasten, nach erfüllter Pflicht.

Wem das Leben — Fasten, für den bringt Ostern der Tod!

Ruf Hosanna! — der Leibespein; dem Tod — Alleluja!

Küsse die Ketten der Unfreiheit, denn sie sind Schläge der Vorsehung.

... Ich bin Invalide zweiter Gruppe geworden. Niemand soll auf den Ge­danken kommen, für mich um Gnade zu bitten! Ich muß den Kelch aus­trinken bis zur Neige.« 28. März 1982.