Vilnius

Am 24. Mai 1983 wurde Jonas Sadūnas vom Volksgericht des Rayons Vilnius verurteilt. Richter war G. Leonovas, Staatsanwalt S. Pumputis, Gerichtsräte G. Klimkienė und V. Korkut, Sekretärin S. Burokienė.

Sadūnas erklärte zu Beginn der Gerichtsverhandlung, er sei nicht damit einverstanden, daß seine Frau, die von diesen Akten nichts wisse, als Zeugin vorgeladen wurde. (Marytė Sadūnienė mußte ihre Aussagen als allerletzte machen, so daß sie die Aussagen der anderen Zeugen nicht hören konnte.) Der Richter verwarf diese Forderung des Jonas Sadūnas. Als der Ange­klagte sagte, er werde sich weigern, während der Gerichtsverhandlung zu reden, bevor nicht seine Frau im Gerichtssaal anwesend sei, erklärte der Richter, daß er die Gerichtsverhandlung auch ohne Anwesenheit des J. Sadūnas durchführen könne.

Zu Beginn der Gerichtsverhandlung las der Richter den Anklagebeschluß vor, der von der Stellvertreterin des Rayonstaatsanwaltes von Vilnius, R. Juciūtė, vorbereitet worden war. In der Beantwortung der vom Richter ge­stellten Fragen bekannte sich J. Sadūnas der Verleumdung nicht schuldig. Er wies darauf hin, daß er über den Direktor des Experimentiergutes von Vokė im Rayon Vilnius, Petras Dūkštas, zwei Informationen geschrieben habe, von denen sich eine in den Akten befinde, die andere aber ver­schwunden sei. Die anderen 17 Informationen, die sich in den Akten befän­den, habe er nicht geschrieben, wenn sie auch in einer Schreibweise ge­schrieben seien, die der seinen mehr oder weniger ähnle. Der Angeklagte erklärte, daß seine Erklärungen nicht seine persönlichen Interessen berühr­ten, sondern es sei ihm um das Wohl des Gutes und der Mitarbeiter ge­gangen. Als verantwortungsbewußtem Mitarbeiter, der dem Gut fünf Jahre seines Lebens gegeben habe, konnte ihm der Schutz der Wertsachen dieses Gutes nicht gleichgültig sein. Wissentlich lügenhafte Erdichtungen habe es in den Erklärungen nicht gegeben. Er fügte außerdem hinzu, daß die Tat­sachen, auf die in den Informationen hingewiesen wurde, von den Kom­missionen weder verneint, noch bestätigt worden seien und deswegen auch nicht als Verleumdungen abqualifiziert werden dürften. Der eine Teil der Tatsachen sei von den Kommissionen noch nicht geklärt worden und den anderen Teil nachzuprüfen, bestehe kaum noch die Möglichkeit, denn die primären Dokumente des Gutes seien vernichtet worden.

Zu dem Gerichtsprozeß wurden neun Zeugen vorgeladen, von denen jedoch nur sieben kamen. Den Worten von Jonas Sadūnas nach wurden sie alle von der Stellvertreterin des Staatsanwaltes, R. Juciūtė, ausgesucht und sie hätten nur die sieben ihm zur Last gelegten Tatsachen »bewiesen«, von denen Jonas Sadūnas keine geschrieben hatte.

Nach der Vernehmung der Zeugen erklärte der Staatsanwalt S. Pumputis, daß das Vergehen des Jonas Sadūnas gemäß § 132 Teil 2 des StGB der LSSR bewiesen sei, und er plädierte dafür, daß dem Angeklagten 2 Jahre Freiheitsentzug, abzuleisten in einer Besserungsarbeitskolonie, zugesprochen werden sollten.

Während des Prozesses war der nicht allzu große Saal mit starken Schein­werfern ausgeleuchtet, von denen die meisten gegen Jonas Sadūnas gerichtet waren. J. Sadūnas erklärte: »Hier ist ein Gerichtsprozeß und kein Zirkus.« Er bat den Richter, man möge doch die Scheinwerfer ausschalten, solange nicht gefilmt werde, denn dadurch werde es sehr heiß und er sehe nichts.

Da unter Führung der Mitarbeiter des KGB gefilmt wurde, schwieg der Richter (die Scheinwerfer wurden nicht abgeschaltet). Das Bestreben der Vertreter des KGB, Jonas Sadūnas und seine Bekannten, die in den Ge­richtssaal gekommen waren, herabzuwürdigen, war während der ganzen Gerichtsverhandlung spürbar. Der Vertreter des KGB gab Hinweise, wen man filmen solle und zeigte sogar mit dem Finger in die Richtung, wo die Frau des Jonas Sadūnas, Marytė Sadūnienė, und zwei weitere bekannte Frauen saßen; während der Pausen schnüffelten die Sicherheitsbeamten im Saal herum.

Die Verteidigungsrede des Jonas Sadūnas

 

»Dieses gerichtliche Erledigen einer >nicht genehmen Person<«, sagte Jonas Sadūnas, »wird weder das Ansehen derer erhöhen, die diese Gerichtsver­handlung heraufbeschworen haben, noch derer, die sie durchführten. Ich glaube schon lange nicht mehr an die sowjetische Gerechtigkeit; die Praxis hier bestätigt nur ihre Unzulänglichkeit. Wenn das Gericht objektiv wäre, dann müßte mir jetzt ein neuer Untersuchungsrichter gegeben werden, der diesen Strafprozeß überprüft. Die Voreingenommenheit der Stellvertreterin des Rayonstaatsanwaltes, R. Juciūtė, war bei der Vorbereitung dieses Pro­zesses viel zu offensichtlich. Mir gegenüber war R. Juciūtė im wahrsten Sinne des Wortes Staatsanwältin und Anklägerin, gegenüber Direktor Petras Dūkštas aber war sie Rechtsanwältin und Verteidigerin.

Davon habe ich mich bei der Gegenüberstellung mit P. Dūkštas am 31. Ja­nuar 1983 deutlich überzeugen können, als dieser, laut denkend, seine Aus­sagen einige Male änderte. R. Juciūtė notierte aber tendenziös nur die für P. Dūkštas günstigen Aussagen auf. R. Juciūtė hat einige Male den § 163 der StPO der LSSR verletzt, weil sie die Ordnung bei der Vorladung des Angeklagten nicht eingehalten hat.« (Es wurde auch § 165 der StPO der LSSR verletzt: Jonas Sadūnas hatte eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und trotzdem kam auf Anweisung von R. Juciūtė ein Mitarbeiter der Miliz zu Jonas Sadūnas nach Hause, um ihn zu einem Verhör in die Rayonstaats­anwaltschaft nach Vilnius zu bringen. — Red.)

Jonas Sadūnas wies in seiner Verteidigungsrede darauf hin, daß sich R. Juciūtė, um den § 163 der StPO der LSSR nicht zu verletzen, von der Ärztin G. Urbonavičienė die dazu nötigen Bescheinigungen geben ließ, so daß der Angeklagte trotz Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung an den Vernehmungen wie auch an dem Prozeß, der am 29. März 1983 stattfinden sollte, teil­nehmen mußte. »Wozu braucht man dann Ärztekommissionen und Arbeits­unfähigkeitsbescheinigungen, wenn dies alles juridisch ungültig werden kann?«, fragte Jonas Sadūnas das Gericht.

»Am 28. März 1983«, erzählte J. Sadūnas weiter, »wurde ich in die Chirur­gische Abteilung des Distriktkrankenhauses der Baltischen Eisenbahnen zu Vilnius gebracht. Ab 18. April telefonierte der Leiter der Abteilung für Gesundheitsfürsorge des Heilungssektors, Klevečka, fast jeden zweiten Tag mit der Oberärztin des Krankenhauses Petrulienė und erkundigte sich, wie es mit meiner Gesundheit stehe usw. Am 17. Februar 1983 sollte im Di­striktkrankenhaus der Baltischen Eisenbahnen zu Vilnius eine Bruchopera­tion bei mir gemacht werden. Um 12.00 Uhr noch desselben Tages kam die Stellvertreterin des Rayonstaatsanwaltes, R. Juciūtė, in das genannte Kran­kenhaus und erklärte mir, ich müsse mich heute mit meinem Strafprozeß in Kenntnis setzen. Da ich in Erwartung der Operation aufgeregt war und mich nicht entsprechend konzentrieren konnte, bat ich R. Juciūtė, mich doch an einem anderen Tag mit meinem Prozeß in Kenntnis setzen zu wollen; denn wegen der Ankunft der Juciūtė im Krankenhaus wurde die Operation auf 21. Februar verschoben. R. Juciūtė protestierte aber dagegen, indem sie sagte, Eile sei geboten, weil die Termine zur Weiterführung des Prozesses drängten. Deswegen könne sie ein anderes Mal nicht kommen. Innerhalb von zwei Stunden blätterte ich die Prozeßakten nur durch. Wegen Ermü­dung, Mangel an Konzentration und Mangel an Zeit hatte ich nicht die Möglichkeit, mich mit den Prozeßakten gründlich und genau vertraut zu machen. Dessen ungeachtet bemerkte ich in den Strafprozeßakten aber doch viele Ungenauigkeiten, Widersprüche und daß die Prüfungskommissionen in ihren Aufzeichnungen die Tatsachen uneinheitlich darlegten. Einige von mir genannte Fakten sind wegen ihres Alters und wegen der Vernichtung der früheren Dokumente überhaupt nicht geprüft worden usw. Von zehn mir genannte Fakten sind wegen ihres Alters und wegen der Vernichtung worden; in der Anklageschrift werden sie mir zugeschrieben und ich werde damit belastet. Die Stellvertreterin des Staatsanwaltes R. Juciūte stellte den Anklagebeschluß absichtlich unrichtig und nicht objektiv zusammen, um das Gericht irrezuführen.«

J. Sadūnas wies in seiner Verteidigungsrede darauf hin, daß der Empfang von Briefen, Päckchen und Paketen von im Ausland lebenden Freunden vollständig unterbrochen wurde, seit seine Schwester Nijolė Sadūnaitė am 9. Juli 1980 aus Sibirien nach Vilnius zurückgekommen sei. (Und trotzdem empfingen in Westdeutschland nicht wenige mit dem Namen J. Sadūnas unterzeichnete Rückscheine, die die Aushändigung der eingeschriebenen Briefe bestätigen sollten. Innerhalb der letzten drei Jahre haben N. Sadūnaitė und J. Sadūnas jedoch nur sechs nichtregistrierte Briefe aus dem Ausland erhalten, von denen drei ohne Absenderangabe waren. Aus dem Ausland erhielten sie keinen einzigen eingeschriebenen Brief. Darum hat J. Sadūnas auch keinen Rückschein unterschrieben; unterschrieben haben die Mitarbei­ter des KGB für ihn. — Red.)

Ausführlicher sprach J. Sadūnas in seiner Verteidigungsrede über das Be­tragen der Mitarbeiter des KGB in seiner Wohnung während der Durch­suchung am 11. November 1982 und über die Geschichte, die am 18. No­vember 1982 im Psychiatrischen Krankenhaus zu Naujoji Vilnia begann. (Siehe »Chronik der LKK« Nr. 56).

J. Sadūnas lenkte die Aufmerksamkeit des Gerichtes auch auf die Diskri­minierung der gläubigen Schuljugend in Litauen, indem er auf konkrete Tatsachen aus eigener Erfahrung hinwies.

»Der Mensch sucht sich seinen Weg mit freiem Willen. Welcher Weg aber ist mir bestimmt? Wenn die Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes es wollen, können sie mich in einem halben Jahr oder noch schneller vernichten. Die Dauer der Strafe hat hier keine Bedeutung. Es ist nur wichtig, der Vor­sehung Gottes zu vertrauen. Ich fühle, daß mir der Weg eines Märtyrers zugedacht wird, aber ich weiß nicht, wieviel Willenskraft und Stärke mir Gott geben wird, daß ich ihn annehmen kann; deswegen bitte ich alle, für mich zu beten.«

Bevor das Urteil ausgesprochen wurde, kam ein Milizmann in den Saal, in dem J. Sadūnas, seine Frau und seine Bekannten saßen, und führte in grober Weise zwei Frauen hinaus, Bekannte von J. Sadūnas. Die beiden Frauen wurde in eine naheliegende Milizabteilung gebracht und dort unter Verletzung ihrer Zuständigkeit (die Miliz hatte keinen Durchsuchungsbefehl) und des gewöhnlichen Anstandes durchsucht.

Gerichtsbeschluß: Jonas Sadūnas wird zuerkannt, das Vergehen gemäß § 132 Teil II des StGB der LSSR begangen zu haben; er wird mit 1 Jahr und 6 Monaten Freiheitsentzug bestraft; die Strafe ist in einer Besserungs-arbeitskolonie mit allgemeinem Regime zu verbüßen.

Am 31. Mai 1983 erlaubte die Sekretärin des Vo'ksgerichts des Rayons Vilnius, S. Burokiene, dem J. Sadūnas, sich mit dem Protokoll der Gerichts­sitzung vom 24. Mai vertraut zu machen. Es zeigte sich, daß die Sekretärin S. Burokiene beim Protokollieren der Gerichtssitzung nicht wenige Unge-nauigkeiten, Veränderungen und auch verschiedene Auslassungen gemacht hatte. Die Aussagen von Jonas Sadūnas und seiner Frau Marytė sind im Protokoll entstellt und verändert. Von den Fragen, die J. Sadūnas an P. Dukštas und an seine Frau J. Dukštienė gestellt hatte, sind im Protokoll der Gerichtssitzung nur einige festgehalten. Die Verteidigungsrede von J. Sadūnas hat etwa eine Stunde gedauert — in dem erwähnten Protokoll sind aber nur drei unwesentliche Sätze aufgeschrieben und sein Schlußwort ist bis auf einen einzigen Satz gekürzt.

Nach der Gerichtsverhandlung legte J. Sadūnas beim Obersten Gericht der LSSR Berufung ein. Das Oberste Gericht der LSSR beschloß, die Strafe zu lindern. Soweit bekannt ist, ist das Lager in freie Bauarbeit umgeändert worden.

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