Am 16. Mai 1983 um 10 Uhr begann vor dem Obersten Gericht zu Vilnius die Gerichtsverhandlung gegen die Einwohnerin von Garliava, Jadvyga Bieliauskienė. J. Bieliauskienė wurde angeklagt wegen der Unterschriften­sammlung unter einer Erklärung an den ersten Sekretär des ZK der KP, Petras Griškevičius, in der es um die Verfolgung der Jugend ging, außerdem wegen der Mitarbeit an der »Chronik der LKK«, wegen des Sammeins von Kindern in Kinderkreisen, wegen des Organisierens von Schauspielen natio­nalen Inhalts.

Beinahe alle Kinder und Jugendlichen, die an der Gerichtsverhandlung als Zeugen teilnahmen, charakterisierten J. Bieliauskienė als eine sehr gute, gläubige Frau von hoher Moral. Der Direktor der I. Mittelschule von Gar­liava, Nausėda, bezeugte in seinen Aussagen, daß er J. Bieliauskienė nicht kenne, er habe aber schon 1979 gemerkt, daß sich in der von ihm geleiteten Schule die Schüler nicht nur einer Klasse, also Schüler verschiedenen Alters zusammengruppierten. Es gab Meldungen, daß sich die gläubigen Schüler versammelten, um gemeinsam Geburtstage zu feiern; es wurde ein Beschluß gefaßt, daß an solchen Zusammenkünften ein Lehrer teilnehmen müsse.

Der Direktor erinnerte daran, daß seine Schüler, die Geschwister Gluoksnis und Artūras Slepkovas, aus der Organisation der Kommunistischen Jugend ausgetreten sind. Keine geringe Aufmerksamkeit schenkte er in seiner Rede dem Schüler Mindaugas Babonas. Er erzählte, wie Mindaugas in den schrift­lichen Schulaufgaben begonnen habe, das Wort »Gott« groß zu schreiben (alle Substantiva, außer den Namen, werden in der litauischen Sprache klein, nur das Wort »Gott« — Dievas — wird als Ausnahme groß ge­schrieben) und auf die Bemerkungen der Lehrer, daß das ein gewöhnliches Hauptwort sei und deswegen klein geschrieben werde, habe er geantwortet: »Für Euch ist das vielleicht ein gewöhnliches Hauptwort, für mich ist es aber ein besonderes, ein Name.« Er erzählte weiter, wie man eine schrift­liche Arbeit von M. Babonas über den Frieden sogar an entsprechende In­stanzen übergeben mußte. Als der Richter ihn fragte, wer einen solchen Einfluß auf die Kinder gehabt habe, antwortete der Direktor, daß es seiner Meinung nach der Vikar von Garliava, Priester Vaclovas Stakėnas gewesen sein könnte.

Die Verteidigungsrede der J. Bieliauskienė, die sie am 17. Mai 1983 ge­halten hat:

»Seit langem, schon seit langem, steht in der Heiligen Schrift geschrieben »Der Tor sagt in seinem Herzen:

—        Es gibt keinen Gott!...«        

Die Weisen, die Propheten und die Seher sangen ihre Psalmen und Lieder,

Opferherde loderten zu Ehren des Gottes der Mächte.

Und dieses menschenunwürdige Geplapper

wehte der Wind wie eine schwarze Flamme

von einem Jahrhundert ins nächste,

bis ein trauriges Geschlecht geboren wurde,

das jenes mörderische Wort

wieder nachplappern wollte:

—        Es gibt keinen Gott! Nein, Gott gibt's nicht!... 

Allein den Menschen!. ..

Den aber schuf kein Himmel!... 

Und dieses traurige Geschlecht 

legte die Wahrheit in Ketten, 

die Lüge spannte ihre Flügel aus.

 

Über ein Jahrzehnt war ich selbst an dieser Krankheit der Epoche, der Gottlosigkeit, erkrankt. .. . Schmerzvolle Wunden hinterließen diese Jahre in meiner Seele und gaben mir eine böse Erfahrung über die tödliche Ge­fahr des Unglaubens. Ich glaube, Goethe hat gesagt, daß der Mensch viel verliert, wenn er sein Hab und Gut verliert; unvergleichlich mehr verliert er, wenn er seine Ehre verliert; er wird aber ein armseliger Schlucker, wenn er seinen Glauben verliert... Litauen weiß schon, was Unglaube bedeutet! Er hat Litauen bis an den Rand des Grabes gebracht. Traurig wird das Leben der Menschen, wenn die Eigenliebe zur Grundlage der Gemeinschaft wird, und das Suchen nach Annehmlichkeiten zum Ziel des Lebens. Unbemerkt verbreiten sich Alkoholismus und Sittenlosigkeit, die Familien zerfallen. Wieviele unglückliche Kinder und Jugendliche gibt es heutzutage, für die die Welt kalt, unheimlich und ungastlich geworden ist. Es leben noch jene, die ihnen das Leben geschenkt haben, aber die Geborgenheit am Familien­herd gibt es nicht mehr. Wer wird die Tränen der Kinder trocknen und ihnen ihre Kränkungen und ihr Herzeleid abnehmen? Wer wird ihre ver­wundete Natur heilen können?!

Es gibt den furchtbaren Plan, alle zu Gottlosen zu machen. Durch den Terror der Stalinjahre und durch die derzeitigen unberechtigten Verfolgungen, die das Haupt der Republik durch seine Behauptung vor dem Plenum am 17. Mai 1981 unterstützt, wo es sagt: »Man muß die Verbindung der interna­tionalen und patriotischen Erziehung mit dem Kampf für die Liquidierung der veralteten religiösen Anschauungen allseitig stärken«, ist schon sehr viel erreicht worden, und die Ergebnisse, die mit nichts zu vergleichen sind, sind erschütternd: Saufereien, Sittenlosigkeit, Geschlechtskrankheiten, Morde an ungeborenen Kindern, Zerrüttung der Familien, verwahrloste Kinder, Vermehrung von Mißgeburten und Geisteskranken, wachsende Kriminalität. Ungeachtet dieser Ergebnisse, die zur Vernichtung des Volkes führen, wird die Verbreitung der Gottlosigkeit, die von den Obersten der Regierung unterstützt wird, von mal zu mal strenger und raffinierter ausgeführt. Wenn wir noch ein halbes Jahrhundert so sinken, dann werden wir zu einem Volk von Alkoholikern, Kriminalverbrechern, Idioten, das langsam in Gefäng­nissen, Irrenanstalten, Behindertenheimen und Krankenhäusern untergeht. Sagen Sie mir, kann man denn noch schweigen, wenn man das alles sieht?! Schweigen — das ist Verrat. Der Geist des Volkes ruft selbst durch fein­fühlige Herzen, die sich nicht von der Furcht niederdrücken lassen. Er ruft durch den Mund der Dichter; er ruft durch den Mund derer, die zur Gottes-Mutter beten... Die Kinder von Garliava verehren Maria durch das Gebet des lebendigen Rosenkranzes und bitten sie, sie möge die Jugend Litauens vor Gottlosigkeit, Alkoholismus, moralischem Zerfall beschützen ... Vom Gebet eingegeben, wollten die Kinder selber ein Ruf zur Selbstrettung wer­den. Sie haben diesen Ruf mit Hilfe der Dichtung von B. Brazdžionis in das für eine Weihnachtsfeier vorgesehene Bühnenstück (im Jahre 1980) eingebracht. Möge dieser Ruf der Kinder ein Ruf der ganzen Jugend Litauens werden. .., möge dieser Ruf im Herzen eines jeden Litauers zu einem lo­dernden Opferaltar werden, damit sich die Finsternis der sündhaften Gott­losigkeit auflöst, die schon so viele unserer prächtigsten Brüder zu jammer­vollen Gestalten gemacht hat. Litauen wird in Gott auferstehen, und ein Volk, das in Gott lebendig ist, trägt auf gleiche Weise Freiheit wie auch Sklaverei — möge sie auch ein Jahrtausend dauern. Die vor Opferbereit­schaft lodernden Herzen werden auf den Wegen der Leiden wandern und den Geist des Volkes stärken.

Ich werde nach dem I. Teil des § 68 gerichtet. Sie erzählen mir, daß ich be­strebt war, die Sowjetunion zu schwächen. Steckt denn die Stärke der Sowjet­union in dem Streben, die kleinen Völker durch Gottlosigkeit und Ent­menschlichung von ihrem Volkstum zu entfremden und so zu vernichten?!.. Wenn man die Frage so stellt, dann kann man sehr gut verstehen, warum die in der Verfassung garantierten Freiheiten des Glaubens, des Gewissens und der Kritik derartig grob verletzt und die Menschen ständig verurteilt werden. Die Jugend praktiziert bei ihrer Suche nach Vollkommenheit und der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit die Religion und wird auf grobe Weise verfolgt. Wegen dieser Verfolgung wurden aus ganz Litauen Protest­schreiben an den Sekretär der KP Litauens mit den Unterschriften der Gläubigen gerichtet. Tatsachen der Verfolgung aber, die in diesen Protest­schreiben dargelegt sind, werden als verleumderisch hingestellt und sollen die Sowjetunion schwächen. Menschen, die unter diesem Protestschreiben unterschrieben haben, werden verhört und als Verbrecher betrachtet... Die Leute werden Repressalien ausgesetzt, und ich werde als Unterschriften­sammlerin vor Gericht gestellt.. . Ein auf sich allein gestelltes Volk hat kein Recht, nach der eigenen sittlichen Gesundung zu streben, sich von dem geistigen Aussatz, der Lähmung, der Pest zu heilen? Kann denn das Be­kenntnis Gottes eine Gefahr für den Staat sein?! Die moralische Verkom­menheit der Menschen — das ist die wahre Gefahr! Warum ist es nicht erlaubt, sich angesichts dieser Gefahr selbst zu retten?

Die Untersuchungsbeamten haben die Kinder von Garliava gezwungen, nach ihrer (der Untersuchungsbeamten — Bern. d. Ubers.) Vorstellung auszu­sagen, daß in dem Bühnenstück angeblich von der Wiederbelebung des bourgeoisen Litauen gesprochen wurde. In dem Bühnenstück wurde über­haupt von keiner Staatsordnung geredet. Dort weinte Litauen um seine Kinder, die in moralischer Verkommenheit verlorengehen, und hier wird daraus ein politischer Fall zusammenfabriziert.

Ihr könnt politische Prozesse zusammenfabrizieren und die Wahrheit ver­fälschen, aber das Verlangen, sich selbst zu retten, werdet Ihr trotzdem nicht aufhalten können... Niemand hat das Recht, die kleinen Völker zum Verschwinden zu verdammen, wie man die Richter, die Regierungspersonen und die gleichgültige Intelligenz mit der Ausrede verdammt hat, daß die kleinen Völker sowieso verschwinden werden. Darüber sprach auch der Staatsanwalt Bakučionis zu mir und der Untersuchungsbeamte, der mir am 6. April die zusammengestellten Anschuldigungen verkündete. So wird es aber nicht sein! So darf es nicht werden! Litauen wird in Gott auferstehen — es wird eines Tages rein, gesund und fest sein! Auch wenn das System, das die Vernichtung der kleinen Völker anstrebt, tausend Jahre bleiben würde, wir werden Litauer bleiben... Seid nicht traurig, Kinder, daß sie Euch gezwungen haben, Aussagen gegen mich zu machen und dazu noch unwahre. ..! Wenn man sich gegen den moralischen Druck der Untersu­chungsbeamten halten will, dann muß man sehr stark sein. Man muß Gott und die Wahrheit mehr lieben als das eigene Leben, und das erreicht man nicht so einfach. Vernachlässigt den Rosenkranz nicht! Es kommt die Zeit, wo wir mutig dem Tod in die Augen schauen werden, unbrechbar, unbe­siegbar. Es gibt kein sinnloses Opfer. Ihr wollt der Ruf aus dem Mund der Heimat werden und ihr habt mich gebeten, daß ich Euch dabei helfen soll. Meine Begabungen sind sehr gering, ich habe keinerlei Erfahrung. Da kein anderer da war, habe ich mir Mühe gegeben, soweit es ging. Seid glücklich, wenn Ihr verfolgt werdet um der Wahrheit willen... Freiwilliges Leiden der Unschuldigen wird die ungerechten Richter beschämen und sie werden müde vom Richten der Liebe, die hingeht, um sich für die anderen zu opfern. Euren Ruf wird die Heimat mit den Lippen der anderen Tapferen fortsetzen...

Ich bin schwach, ich lebe nur von Gott und vom Gebet der guten Menschen. Ich bin allen außerordentlich dankbar und ich bitte: Verlaßt mich auch weiter nicht! Man muß sehr viel für die Gefangenen, besonders aber für die Untersuchungsgefangenen beten, man darf aber auch jene nicht vergessen, die sich von Gott entfernt haben...

Es ist sehr schade um die 11 Exemplare der »Geschichte Litauens« von Sapoka, die sie mir während der Hausdurchsuchung weggenommen haben! Die Geschichte unseres Volkes wird uns verheimlicht, deswegen ist dieser Verlust unschätzbar. Man muß sie mit allen Kräften unaufhörlich verviel­fältigen. Aufgrund von Vermutungen und der falschen Folgerungen der Ex­perten werde ich der Informationsübergabe an die »Chronik der LKK« an­geklagt. Ihr Richter, Ihr solltet zuerst dafür sorgen, daß die Menschen wegen ihres Glaubens nicht verfolgt werden, dann wird es auch derartige Veröffentlichungen nicht mehr geben.

Ich bete für meine Untersuchungsbeamten, für meine zahlreichen Verräter. Ihr Leben ist jammervoll. Ihr Schicksal ist es, die Wahrheit zu verfolgen. Es wird aber die Zeit kommen, wo sie begreifen werden, daß man die Wahr­heit nicht verurteilen kann — die Wahrheit ist die Richterin der Richter. Man kann die Liebe nicht töten, man kann die Freiheit nicht einkerkern... Ich bin zu jedem Opfer bereit.

Ich werde wegen Nationalismus angeklagt. Schon Vydūnas hob das nationale Bewußtsein der Litauer in Kleinlitauen, und zwar nur deswegen, weil seiner Meinung nach Menschen, die das nationale Bewußtsein verlieren, entmensch­licht werden... Ich wende mich an Euch alle, die Ihr Euch zum Ziel gesetzt habt, mit Gewalt, Verfolgungen und Gerichtsprozessen den Glauben aus den Herzen der Menschen herauszureißen. Euch möchte ich fragen: Wißt Ihr, daß Ihr auf diese Weise ganze Massen zur Entmenschlichung verdammt? Ich bitte Euch, wie meine eigenen Brüder, mit Liebe: Nehmt den Menschen den Glauben nicht weg, mordet nicht Litauen! (Die Verteidigungsrede ist gekürzt — Bern. d. Red.).

Der Staatsanwalt behauptete in der Anklage, daß die Schuld der J. Bieliaus­kienė durch die Voruntersuchung nachgewiesen worden sei, nur jetzt vor Gericht hätten einige Zeugen ihre Aussagen zu Gunsten der Angeklagten widerrufen. Er beschuldigte J. Bieliauskienė, sie habe bei den Schülern die nationalistischen Ideen gehegt, die sowjetische Wirklichkeit verdreht, die Vergangenheit Litauens und die Fürsten gerühmt und sie habe in der illega­len Veröffentlichung (»Chronik der LKK«) Tatsachen verleumderischen In­halts über die Verfolgungen und Verhöre der gläubigen Schüler veröffent­licht. Diese seien in den reaktionären Zeitschriften des Auslands, »Draugas« (»Der Freund«), »Tėvynės žiburiai« (»Lichter der Heimat«) und in den Sen­dungen von Radio Vatikan wiedergegeben worden. Der Staatsanwalt er­klärte, Experten hätten festgestellt, daß die Nachrichten im Stil von J. Bieliauskienė wiedergegeben worden seien, und deswegen seien sie auch von ihr. Der Staatsanwalt beschuldigte die Angeklagte der Freundschaft mit den Priestern Alfonsas Svarinskas und Sigitas Tamkevičius und des Sam­meins der Unterschriften unter dem Protestschreiben über die Verfolgung der gläubigen Jugend. Er erinnerte das Gericht daran, daß J. Bieliauskienė in den Nachkriegsjahren Verbindungen mit den bourgeoisen Nationalisten (Freiheitskämpfer, Partisanen — Bern. d. Red.) gehabt habe, und Proklama­tionen verbreitete. Deswegen wurde sie im Jahre 1948 zu 25 Jahren Ge­fangenschaft verurteilt, später wurde die Strafe auf 10 Jahre herabgesetzt. 2 Jahre vor der Verbüßung der Strafe wurde sie entlassen. Der Staatsanwalt behauptete, daß J. Bieliauskienė daraus keinerlei Schlüsse gezogen und sich in der Freiheit wieder mit antisowjetischer Tätigkeit beschäftigt habe.

Einen nicht geringen Teil ihres letzten Wortes hat J. Bieliauskienė in Ge­dichtform vorgetragen. Als Grundlage benützte sie die Gedichte »Ugnies poema (»Das Poem des Feuers«) von J. Marcinkevičius, »Atleisk man, Viešpatie« (»Vergib mir, o Herr«) von B. Brazdžionis und die Worte von P. Širvys. Der Grundgedanke ist wie folgt:

Ich bitte Euch, ich flehe Euch an,

Euch Brüder meines schmerzlichsten Herzeleids,

aus dem Schoß Litauens geboren, Euch, meine Richter:

Tötet nicht das Lied der Lerche,

das liebliche, zarte, junge,

das zu Gott emporsteigende Herz —

tötet es nicht! ...

Ich bitte Euch, ich flehe Euch an, ich schreie!...

»Und des Unglaubens schwarze Hand

die wir selbst über uns erhoben haben«. . . 

Sie tötet die Lerche, die Liebe tötet sie... — 

Wie eine schmerzlich wehe Wunde 

trug ich diese Erinnerung herum. —

 

Deshalb, o meine Brüder, ich flehe Euch an, —

Euch, Kinder Litauens,

nehmt doch die schwarze Hand

von der Bläue des Himmels weg,

damit sie Lerchen nicht mehr tötet...

Sie sollen uns den Frühling bringen!...

Möge über den Eisbergen des Hasses

die Sonne der Liebe aufgehen!... Möge das geschehen!

Das Oberste Gericht verurteilte J. Bieliauskienė zu 4 Jahren Lager mit strengem Regime und 3 Jahren Verbannung.