Vilnius

Nach einer Amnestie wurde der Priester Jonas-Kąstytis Matulionis am 15. Juni 1985 aus dem Lager in Smolensk entlassen. Durch einen glücklichen Zufall wurde am Tag seiner Rückkehr in der St. Michael-Kirche das 50jäh-rige Priesterjubiläum des Priesters Stanislovas Valiukėnas begangen. Kurz vor dem Hochamt kam Priester J. Matulionis, der gerade nach Vilnius zu­rückgekehrt war, ganz erschöpft in der Kirche an. Schon früher hatte er in der St. Michael-Kirche gesungen und war bei allen sehr beliebt. Nach alter Gewohnheit sang Priester Matulionis, der eben noch Lagerinsasse war, wieder in der Hl. Messe. Die meisten Gläubigen konnten es nicht fassen: Eine be­kannte Stimme... Priester Matulionis... es ist doch nicht möglich ... Er ist doch im Gefängnis! Er war es aber wirklich. Da der Priester ernsthaft krank ist, hat man ihm im Lager die erste Invaliditätsgruppe zuerkannt, und weil der Artikel, aufgrund dessen er verurteilt wurde, unter die Amnestie fiel, wurde er entlassen.

Als nach der feierlichen Hl. Messe schon viele weggegangen waren, betrat der ehemalige Gefangene, Priester J. Matulionis, erschöpft und abgemagert, aber mit geistvollem Gesicht noch einmal die Kirche. Er ging zum Altar und küßte den Boden. Nachdem er Gott für das Geschenk des Glaubens und des Priestertums und den Gläubigen für ihre Gebete gedankt hatte, feierte er die Hl. Messe. Priester J. Matulionis, der mit jedem mitfühlen kann und bis zu Tränen die Not der anderen mitempfindet, stand jetzt vor dem Altar, ermattet, aber ungebrochen. Die ganze Kirche weinte, die Tränen flössen von selbst, unaufhaltsam . .. Die Frauen und die Jugendlichen weinten und auch die Männer wischten sich die Tränen, ohne sich deswegen zu schämen, und leise schluchzten die alten Frauen. Es waren keine Worte nötig, denn alle sahen, wie grausam die sowjetischen Lager sind. Dabei hatte er nur acht Monate darin verbracht. .. Nach dem Evangelium sprach der Priester noch einige Worte, jedes überzeugend und selbst erlebt: »Wenn die Menschen wahrhaftig glauben und Gott lieben würden, dann gäbe es keine Lager und keine solchen Grausamkeiten, wie ich sie gesehen habe . . .«, sagte Priester J. Matulionis. Er erinnerte auch an Priester Alfonsas Svarinskas und Priester

Sigitas Tamkevičius und an alle, die wegen ihres Glaubens leiden müssen, und forderte die Leute auf, Gott zu bitten um Segen, Kraft und Freiheit für sie. Die Jugend, die sich zur Jubiläumsfeier versammelt hatte, begrüßte den heimgekehrten Gefangenen mit Freude. Nach der Hl. Messe wollten noch viele Priester J. Matulionis treffen und mit ihm reden, aber der Priester versprach, sie später selber alle zu besuchen; jetzt müsse er sich bei der Miliz melden und wenigstens ein bißchen ausruhen. Er sagte: »Es wird jetzt Zeit genug geben, wo wir uns begegnen können. Ich möchte noch meine Schwester und meine Verwandten besuchen und sie beruhigen, denn sie haben viel gelitten.«

Am Sonntag, dem 23. Juni besuchte Priester J. Matulionis die Stadt Kybartai. Sowohl Jugend als auch Erwachsene gratulierten ihrem heimgekehrten Prie­ster; er dankte allen für ihre Gebete und versprach, sie bald wieder zu be­suchen.

Kaum war eine Woche vergangen, als sich wieder eine Nachricht verbreitete: Priester Jonas-Kąstytis Matulionis ist erneut verhaftet. Als sich der Priester am 26. Juni gegen 12 Uhr anschickte, zu Hause die Hl. Messe zu feiern, kamen zwei unbekannte Männer in seine Wohnung und griffen den ehemaligen Gefangenen an, warum er sich noch nicht angemeldet habe. Priester J. Matulionis bat die ungebetenen Gäste, sich auszuweisen. Diese zeigte ihre Papiere — es waren Sicherheitsbeamte. Als der Priester klarstellte, daß seine Unterlagen bereits bearbeitet werden und er schon bei der Miliz vorstellig gewesen sei (jeder weiß ja, daß es unter sowjetischer Ordnung unmöglich ist, seine Anmeldung an einem Tag abzuschließen), be­fahlen ihm die Tschekisten, sich anzuziehen und mit ihnen zu gehen, um die Angelegenheit zu klären. Die Sicherheitsbeamten erlaubten seiner Haushälte­rin, ihm Nahrungsmittel für einen Tag mitzugeben; sie sagten, am ersten Tag werde ihm niemand etwas zu essen geben. Es war klar: Priester J. Ma­tulionis war wieder verhaftet worden. Viele Gläubige hegten noch die Hoff­nung, daß es sich um ein Mißverständnis, um einen Irrtum handle, daß die Angelegenheit bald geklärt und er wieder freigelassen werde. Die Tage aber vergingen und er saß im Gefängnis von Lūšiškis. Und wieder mit den Krimi­nellen zusammen! Seinen Angehörigen wurde gesagt, daß es keinen neuen Prozeß geben werde, denn er sei schon verurteilt. Weshalb der entlassene Priester wieder verhaftet worden ist, erklärten sie nicht; nur einer der Tsche­kisten erwiderte auf diese Frage: »Kaum ist er zurück, veranstaltet er wieder eine Demonstration!« Ist es denn möglich, daß bereits ein warmherziger Empfang, den die Gläubigen für ihren zurückgekehrten Priester gestaltet ha­ben, schon als verbrecherische »Demonstation« betrachtet wird? Kann es noch einen schlimmeren Hohn geben, als einem Geschundenen, einem fast nicht mehr Lebendigen das Gefühl der Freiheit zu geben und ihn dann, ohne daß er sich erholt hat und zu Kräften gekommen wäre, wieder in eine Lagerzelle zu stecken?!