Wenn wir bei einer Reise durch die Ebenen unserer Heimat eine riesen­große hundertjährige Eiche mit weit ausgebreiteten Ästen sehen, denken wir unwillkürlich: Sie steht da, rauscht seit so vielen Jahren, und wir gehen Generation um Generation an ihr vorbei... So eine Eiche ist auch das Christentum, das in den 600 Jahren seine Wurzel tief in die Erde unse­res Landes gesenkt hat.

Das Christentum, das ist Christus selbst, der in unser Land, in unsere Häuser, in unsere Herzen gekommen ist. Das ist Christus, der das Licht für unsere Vernunft brachte und den Vorhang wegzog, der bis dahin die Ant­worten auf die wichtigsten Fragen des Lebens verdeckt hatte, die jeden Menschen ohne Ausnahme bewegen: Woher kommt diese Welt? Woher komme ich selbst? Was wartet auf mich nach dem Tode? Wie soll ich leben? Das ist Christus, der uns den Weg gezeigt hat, wie der Mensch glücklich, wahrhaftig und ewig selig werden kann. Das ist Christus, der unser Freund wurde, der uns niemals enttäuschen wird; Er ist unser Führer auf den verwirrenden Wegen des Lebens geworden. Er ist uns Trost und Stütze in schweren Stunden und wird unsere Hoffnung sein, wenn eines Tages die Sonne des menschlichen Lebens untergeht. Christus ist die Kraft unseres schwachen Willens, die fortwährende Einladung zu edler Menschlichkeit, eine einladende Stimme, die uns verpflichtet, dem Hilferuf eines Unglücklichen Antwort zu geben; Er lädt uns ein, durch unsere Arbeit die Welt zu verbessern und gegen die Lüge, gegen die Sünde und gegen den Irrtum anzukämpfen. Er lädt uns ein zu Liebe und Opferbereit­schaft und dazu, dem Großen und Heiligen zu dienen. Der Geist Christi ist, so ein Deutscher (J. Ratzinger?), wie nichts anderes in der Lage zu bewirken, daß wir Herr über unsere eigenen Laster und Neigungen und Diener unserer Brüder werden, daß aus Wölfen Lämmer, aus Lämmern aber Helden werden können. Es ist wirklich sinnvoll, darüber nachzuden­ken und sich in diesen Gedanken zu vertiefen, besonders dann, wenn die Fülle der Zeit dem Volke ein neues Jahrhundert eröffnet.

Unsere Kirche wird dieses Jahr mit einem neuen Zeichen geschmückt, in dem symbolisch dieses bedeutungsvolle Ereignis zum Ausdruck gebracht wird. Wir sehen darin sechs angebrochene Kreuze und das siebte ist gerade und erinnert an die Säulen von Gediminas. Damit werden die Vergangen­heit und die Zukunft unseres Volkes, unsere Tränen, unsere Unterneh­mungen, unsere Fehler und unsere Aufgaben ausgedrückt.

Sechs Kreuze - das sind die sechs Jahrhunderte des Christentums in unse­rer Geschichte. Die Kreuze sind angebrochen..., weil der Weg für das Christentum zu unserem Volke schwer und die Geschichte des Volkes voll Schmerz war; der Litauer hat Kaltes und Heißes ertragen müssen.

Der Dichter A. Rukas (1987) schreibt, daß der ein Litauer ist, der 

„... die Moskauer in die Knie zwang,

der sein Roß im Schwarzen Meer gebadet hat,

den die Kosaken in Kražiai umgebracht haben,

den die Gouverneure am Hügel der Aufständischen

aufgehängt haben."

 

Wir können aber noch dazufügen: Ein Litauer ist der, der nach Sibirien in eine Ungewißheit, zum Leiden und Sterben gebracht wurde. Daran denkt der Dichter, wenn er schreibt:

 

„Mein Volk heult

wie ein angeschossener Hund

und leckt am blutigen Ufer

des Nemunas." (K. Bradūnas).

 

Schwer war der Weg für das Christentum nach Litauen. Der Nachbar, der Deutsche Orden, der unter dem Vorwand der Taufe der Litauer diese zu versklaven suchte, hat nicht den Geist Christi und die Liebe im Sinne des Evangeliums gehabt. Der erste Herrscher Litauens, der sich taufen ließ, war Mindaugas - im Jahre 1250. Zu der Zeit war es aber dem Christentum noch nicht gegönnt, in unserem Volke anzuwachsen: Mit der Ermordung von Mindaugas wurde auch das Christentum umgebracht. Es mußten noch etwa 140 Jahre vergehen, bis die Litauer dem Heidentum entsagten.

Es waren noch nahe Verbindungen mit den Polen nötig, es war noch die Heirat zwischen dem Litauer Jogaila und der Hedwig aus Krakau nötig, wenn auch diese Freundschaft zwischen Trakai und Krakau, die Anleihe der polnischen Kultur, Litauen viel gekostet hat: Es kam die Zeit (1697), wo die polnische Sprache durch ein Gesetz in Litauen als offizielle Sprache eingeführt wurde.

Der Kirche Litauens fehlte es an eifrigen, ergebenen Geistlichen, und das war eine schmerzliche Wunde; der Litauer hatte keine Möglichkeit, die Lehre Christi tiefer kennen zu lernen.

Das Schicksal hat Litauen im Laufe der Geschichte keine ruhigen Zeiten geschenkt. Im 17. Jahrhundert verwüsteten die eingedrungenen Schweden unser Land, später die Russen, die Vilnius in Brand steckten. 17 Tage lang lag die Stadt des Gediminas in Flammen, die Universität brannte nieder. Die Fremdlinge plünderten, mordeten und brandschatzten. Auf die Kriege folgten die Pest und die Hungersnot. Noch eine schmerzliche Seite der Geschichte wurde aufgeschlagen, als Ende des 18. Jahrhunderts die Russen Litauen besetzten. Sein Name verschwand von der Landkarte - Litauen wurde „Nordöstliches Gebiet" - „Severo-zapadnij kraj" genannt.

Das 19. Jahrhundert ist für Litauen besonders bitter gewesen. Die Russen verfolgten jegliche Erscheinung des Litauertums. Sie führten an der Uni­versität von Vilnius (1816) die polnische Sprache ein - so wurde die Univer­sität zur Bastion der Polen, bis sie nach einiger Zeit (1832) ganz geschlos­sen wurde; das litauische Volk verlor die Schmiede seiner Intelligenz. Es wurden viele Kirchen und Klöster geschlossen. Die russische Regierung fing an, die Vorbereitung der Priester zu behindern. Zar Nikolaus I. hat 1837 den Söhnen einfacher Bauern verboten, das Priesterseminar zu besu­chen, und die Söhne der Adligen benötigten zu diesem Zweck eine Geneh­migung des Generalgouverneurs. Die Kandidaten für das Priesterseminar mußten Treue der Regierung gegenüber geloben. Sieben Jahre lang (1863 bis 1870) wurde überhaupt niemandem erlaubt, in das Priesterseminar ein­zutreten. Später wurde die Zahl der Kandidaten für das Priesterseminar derart eingeschränkt, daß in den Priesterseminaren - in Vilnius, Kaunas und Mogilew - nur 60 junge Männer studieren durften. Viele Priester wur­den in die Tiefe Rußlands verbannt. Allein 1863 verlor die Diözese Nieder­litauen (Schemaiten) ein Sechstel ihrer Priester - 106 Priester wurden in die entferntesten Ecken Rußlands verbannt. Der Bischof Motiejus Valančius selbst wurde aus Varniai nach Kaunas gebracht und hier unter Hausarrest gestellt. Die Regierung wollte erreichen, daß das Volk ohne Priester bleibt. Das Los der Verbannten ging auch an den Bischöfen nicht vorbei: Die Oberhirten der Diözese Vilnius, Krasinskis, Grinoveckis, Zvieravičius und Ropp mußten fern von ihrer Herde sterben.

Den Katholizismus betrachteten die Russen als antistaatliches Element. Der Generalgouverneur von Vilnius, Murawjow, schrieb: „Man muß die Schulen vor dem Einfluß der katholischen Geistlichen schützen". Ein sehr schmerzlicher Schlag war für Litauen das Verbot der litauischen Presse in lateinischen Buchstaben. Der Litauer wurde gewürgt, er durfte die Kostbar­keit der Kultur, das Buch, nicht benutzen. A. Baranauskas schrieb damals:

„Der Tau perlt nicht so sehr

wenn graut der Tag,

wie sich ergießen

bittre Tränen unsrer Brüder."

Der Litauer verlor aber in diesen 120 Jahren der russischen Unterdrückung seine Nationalität nicht, in 40 Jahren des Presseverbots hat er auf die litau­ische Schrift nicht verzichtet - das Volk der einfachen Landbewohner hat sich dem Willen der Fremden nicht gebeugt. Den Kampf um die litauische Schrift haben die Litauer gewonnen, weil sie nicht aufgehört haben zu kämpfen: Sie verfaßten neue Bücher, vervielfältigten sie heimlich und ver­breiteten sie und gingen deswegen in Gefängnisse oder nach Sibirien...

 

Der Märtyrer der deutschen Lager, Professor Balys Sruoga, schrieb:

„Wir sind nicht müde geworden,

wenn wir auch unterdrückt,

wenn wir auch geschädigt,

wenn wir auch gejagt wurden."

 

Ähnliche Wogen wälzen sich auch jetzt über unser Land. Nach dem zwei­ten Weltkrieg wurden zahlreiche Kirchen geschlossen, alle Klöster auf­gelöst, die religiöse Presse wird verboten und verfolgt, die Zahl der Semi­naristen ist eingeschränkt, der Atheismus ist zur Staatsreligion erhoben. Die Erzdiözese Vilnius hat fast während der ganzen Nachkriegszeit keinen eigenen Bischof: Der Erzbischof M. Reinys ist im Gefängnis von Wladimir gestorben, und Bischof J. Steponavičius lebt schon seit über 26 Jahren in der Verbannung und darf seinen Pflichten nicht nachgehen. Eifrige und der Kirche treue Geistliche werden „Extremisten" genannt, als Zerstörer der Einheit hingestellt, und mancher von ihnen mußte hinter den Gittern eines Gefängnisses einsitzen. Die Regierungsgottlosen mischen sich, ohne weder auf die eigenen, noch auf die internationalen Verpflichtungen zu achten, auf gröbste Weise in die inneren Angelegenheiten der Kirche, in das Gewissen jedes einzelnen Menschen ein. Die Presse hört nicht auf, das Christentum zu verleumden und verächtlich zu machen, obwohl nicht sel­ten ein nüchtern denkender Russe zugibt, daß gerade die Einführung des Christentums Rußland nur noch gestärkt habe. Wir kennen es also aus der Geschichte und sind auch dieser Tage Zeugen, wie schwer es der Baum des Christentums hat, sich zu erheben, stehen zu bleiben und zu leuchten, wenn er ständig grob und erbarmungslos gebrochen wird. Was bringt die­ses Zerbrechen der Kreuze? Vielleicht einen noch leuchtenderen mensch­lichen Geist, ein leuchtendes Herz? Nein! Der Schriftsteller A. Zurba schreibt: „Jetzt, wo die Kreuze am Wegrand abgebrochen werden, wo Gott vor Kindern und Jugendlichen verschwiegen wird, gibt es immer weniger Hilfsbereitschaft." „Finster ist es im Herzen ohne göttlichen Gedanken" -hat vor einigen Jahrhunderten der orientalische Dichter Nizamy gesagt. Der Schriftsteller P. Dirgla bemerkt: „Es ist grausam, wenn der Mensch erst als Heranwachsender von dem wahren Gott dieser Welt etwas erfährt, nicht schon als Kind."

Nicht nur die Stürme der Geschichte können die Kreuze abbrechen, nicht nur jene, in deren Seelen, wie der Nobelpreisträger des Jahres 1980, Czeslaw Milosz, sagt, die Achtung des Absoluten, die zum Gebet wird, noch nicht entwickelt ist. Ein Kreuz abbrechen können auch jene, die sich als Gläubige betrachten. Und das ist noch grauenvoller. Die Selbstsucht, die Eigenliebe, die Gleichgültigkeit schädigen und verzerren in uns das Christsein. Man muß mit dem Christsein zusammenwachsen. Umsomehr wir damit verwachsen, destomehr können wir es verstehen, und jemehr wir es verstehen, destomehr wachsen wir auch selber. Wir entnehmen aus dem Christsein oft nur das, was uns „paßt", was uns „gefällt" und verwerfen das, was wir nicht verstehen und was wir gerade wegen unserer Liederlichkeit nicht verstehen wollen. Wir sind getauft worden, ist aber unsere Seele wirklich christlich? Das ist gerade die wichtigste und die essentielle Frage, auf die wir alle in allem Ernst eine Antwort geben sollten. Denken wir also wie Christus?

Man braucht sich vor den äußeren Stürmen nicht zu fürchten - Christus hat seiner Kirche keine ruhigen Tage versprochen... Er versprach nur ihr Fortbestehen sogar bei größten Stürmen, und das beruhigt und tröstet uns. Am meisten muß man Angst davor haben, daß der Baum des Christen­tums in einem selber nicht abbricht, nicht beschädigt wird, denn das wäre das Furchtbarste. Und das geschieht dann, wenn wir, obwohl wir uns für Christen halten, das heidnische Benehmen nicht ablegen, wenn wir das Christentum nicht mit allen seinen Forderungen schätzen, nicht nach ihm leben, uns fürchten unter seinem Banner zu stehen oder wegen unserer Vergehen und Nachlässigkeiten nicht mehr stehen können. Nicht ohne Grund schreibt der Dichter Justinas Marcinkevičius:

„Wirst du, von den Stürmen geschüttelter Baum,

am Ende abbrechen in mir wie ein Blitz?"

Auf dem Zeichen, das unsere Kirchen schmücken wird, sehen wir auch ein siebtes Kreuz, ein aufrechtes Kreuz... Das bedeutet, daß die Seele Litauens christlich sein muß, daß das Land Litauen das Land Jesu und Mariae bleiben muß. Das Kreuz in unserem Herzen muß beim Eintritt in das siebte Jahrhundert des Christentums aufgerichtet bleiben, ungebro­chen, auch wenn der morgige Tag ebenso stürmisch und bitter ist! Wir müssen ein reines Gewissen, einen festen Glauben, edle Herzen, fromme Seelen, fleißige Hände, feste und unauflösbare Familien erhalten. So muß unsere Zukunft aussehen. Wir müssen der Taufe unserer Ahnen und unse­rer eigenen Taufe treu bleiben.

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