Es hat viele internationale Abmachungen in der Geschichte der Mensch­heit gegeben. Die einen waren ehrenvoll; sie haben den Weg zum Frieden und zu einem unabhängigen Leben der Völker geöffnet. Die anderen aber waren voller Tücke; sie trugen dazu bei, Kriege zu entzünden und anderen Völkern die Freiheit zu rauben. Wahrscheinlich werden wir in der Ge­schichte der Menschheit keine tückischere und lügenhaftere Abmachung finden können als die zwischen Stalin und Hitler, die die Menschheit in die grausamste Katastrophe, in den II. Weltkrieg geführt hat, der das Opfer von Millionen unschuldiger Menschen gefordert hat.

Nachdem die stalinistische Sowjetunion und Hitlerdeutschland das inter­nationale Recht mit Füßen getreten hatten, gaben sie sich durch geheime Zusatzprotokolle zum Molotow-Ribbentrop-Pakt vom 23. August 1939 gegenseitig den Segen für ihre imperialistischen Ziele, einigten sich über ihre zukünftigen Aktionen und bestimmten die Grenzen für die geplanten Eroberungen der unabhängigen Staaten Mitteleuropas. So brach die Sowjet­union, die die Selbstbestimmung der Nationen als Propagandamittel betrachtet hat und immer noch betrachtet und die als erster Staat der Welt 1920 die Unabhängigkeit der baltischen Staaten anerkannt hatte, alle ihre internationalen Verträge und besetzte 1939 einen Teil Polens und 1940 einen Teil Finnlands, Estland, Lettland, Litauen und einen Teil Rumäniens.

Schon im ersten Besatzungsjahr haben Massenverhaftungen und Ver­schleppungen nach Sibirien begonnen. Die baltischen Staaten werden die von den Besatzern durchgeführte Deportation seiner Bewohner vom 14. Juni 1941, die einem Genozid gleichkam, nicht vergessen. Aus Litauen allein wurden an diesem Tag etwa 40000 Menschen verschleppt.

So paradox es klingt, wie durch ein unvorhersehbares Wunder hat der Krieg, der zwischen der Sowjetunion und Deutschland ausbrach, diese Ver­nichtung des Volkes gestoppt. Die roten wie die braunen Weltveränderer trampelten unbarmherzig auf dem litauischen Boden. Wieviel Blut unschuldiger Litauer hat die Hitlerbesatzung Litauens abverlangt! Aber man konnte die Zahl der Opfer noch bei weitem nicht mit denen der stali­nistischen Besatzung vergleichen. Nach dem Sieg gegen Hitler setzte Stalin den Genozid der baltischen Völker wieder fort. Die Verhafteten fanden in den Gefängnissen keinen Platz mehr. Tausende von Familien wurden ohne Rücksicht auf Kleinkinder oder Schwerkranke in Waggons nach Sibi­rien transportiert, die für den Transport von Tieren bestimmt waren. Die einen starben unterwegs, weil sie die gesundheitsschädlichen Belastungen nicht mehr ertragen konnten, die anderen kamen durch Kälte, Hunger oder durch Schwerstarbeit ums Leben und jene, die am Leben geblieben sind, kehrten erst nach vielen Jahren als Invalide und Kranke zurück.

Das litauische Volk dieser Jahre zog, vom Selbstverteidigungsdrang getrie­ben, aus in einen ihm aufgezwungenen ungleichen Kampf, nicht um die Unabhängigkeit seines Staates wiederherzustellen (wenn auch das Verlan­gen nach Unabhängigkeit nicht gebrochen war), sondern viel mehr für das Recht und die Möglichkeit, als Mensch auch Mensch zu bleiben. Die stali­nistische Besatzung ließ den Litauern nur zwei Möglichkeiten übrig: Die Entmenschlichung oder den Kampf bis zum Tode. Die Kräfteverteilung war ungleich; deswegen rief das blutüberströmte Litauen um die Hilfe anderer Völker. Es rief aber vergebens, denn die Regierenden der anderen Staaten dieser Zeit, berauscht von vorübergehenden Siegen und dem Wunsch nach Frieden, waren selbst taub für unser Rufen und hinderten auch ihre Völker, dieses Rufen zu hören. Die Regierung der sowjetischen Besatzungsmacht aber nannte und nennt die Teilnehmer dieses Aufstandes deswegen auch heute noch „Handlanger der Spionage der ausländischen Staaten".

Der Tod Stalins hat diesen Massenverhaftungen und Deportationen Einhalt geboten, der späteren Staatsführung der Sowjetunion fehlte es aber am nötigen guten Willen, um die Abmachungen zwischen Stalin und Hitler im Jahre 1939 zu verurteilen und ihre Folgen zu beseitigen. Im Gegenteil, den bewaffneten Widerstand der Litauer dieser Zeiten nennen sie auch heute noch Banditentum und der Versuch eines jeden, sich dem Regime zu widersetzen, gilt als Überlaufen zum Imperialismus und als Spionage für das Ausland.

Die Wunden, die dem litauischen Volke durch den Molotow-Ribbentrop-Pakt und seine geheimen Ergänzungsprotokolle zugefügt wurden, sind nicht verheilt. Aus Anlaß der Unterzeichnung dieses Molotow-Ribbentrop-Paktes vor 40 Jahren hat sich deswegen eine Gruppe von Balten am 23. August 1979 an die Regierungen der Sowjetunion, der BRD, der DDR, an die Regierungen der Unterzeichnerstaaten der Atlantik-Charta wie auch an den Generalsekretär der UNO gewandt, mit der Bitte, diesen schänd­lichen Pakt für nichtig zu erklären und seine Folgen auszulöschen, d. h. den Esten, Letten und Litauern das Recht der freien Selbstbestimmung zu gewähren.

Die Bitte wurde nicht erhört, und viele der Balten, die dieses Gesuch unterschrieben haben, hatten von Seiten des KGB wegen „Verleumdung der Sowjetunion" und „Fälschung der Geschichte" schmerzlich darunter zu leiden. Denn die sowjetische Regierung behauptet bis heute noch, die bal­tischen Völker hätten 1940 durch freie Wahlen die sowjetische Regierung gewählt und seien freiwillig dem Verband der Sowjetunion beigetreten.

Eine derartige Behauptung ist aber eine impertinente Lüge, denn die genannten Wahlen fanden erst dann statt, als die sowjetische Armee die baltischen Staaten bereits besetzt hatte; das Völkerrecht besagt aber, daß es unmöglich ist, das Recht der Selbstbestimmung zu verwirklichen, wenn auf dem Territorium dieser Völker eine Besatzungsarmee eingesetzt ist. Das­selbe behauptet auch Lenin in seinem Dekret über den Frieden, in dem es heißt: „Wenn ein Volk nicht das Recht bekommt, seine staatliche Existenz­form ohne den geringsten Zwang, also nach vollständigem Abzug der Streitkräfte des Nachbarstaates oder eines anderen mächtigeren Landes, durch freie Wahlen selbst zu bestimmen, ist sein Anschluß eine Annexion, d. h. eine gewaltsame Unterwerfung."

Das Leben bleibt nicht stehen. Man hört bereits in der Sowjetunion immer mutigere Stimmen, die fordern, die Politik der Offenheit nicht nur zu deklarieren, wie es jetzt geschieht, sondern sie auch im Leben zu verwirk­lichen und die ganze Wahrheit ans Licht zu bringen. Vielleicht begreift man endlich, daß Frieden und Demokratie in der Welt untrennbar sind. Wo es keine Demokratie gibt, dort gibt es auch keine Freiheit, und ohne Freiheit kann es auch keinen Frieden geben.

Aber die Kräfte, die den Demokratisierungsprozeß in der Sowjetunion behindern, sind noch sehr stark. Hier einige Tatsachen, die dies bezeugen:

- Noch immer werden die tüchtigsten unserer Priester, Alfonsas Svarins­kas, Sigitas Tamkevičius und Jonas-Kąstytis Matulionis, gefangengehalten.

- Die litauischen Patrioten Viktoras Petkus, Balys Gajauskas (bereits 35 Jahre in Gefängnissen), Gintautas Iešmantas, Povilas Pečeliūnas werden immer noch in der Verbannung gequält.

- Bischof Julijonas Steponavičius darf immer noch nicht sein Bischofsamt ausüben.

- Immer noch werden Hausdurchsuchungen bei jenen Personen durch­geführt, die vom Sicherheitsdienst verdächtigt werden, an der Herausgabe der „Chronik d. L. K. K." beteiligt zu sein.

- In der Sowjetunion, die mit solcher Wut nach Kriegsverbrechern sucht, die sich irgendwo in den Staaten des Westens versteckt haben sollen, wird kein Finger gekrümmt, um wenigstens einen der vielen hier noch lebenden Sadisten zu bestrafen, die sogar noch Privilegien genießen, oder wenigstens aufzuklären, wer Massenermordungen unschuldiger Menschen und ihre Quälereien zu Zeiten Stalins organisiert und ausgeführt hat.

- In Zusammenhang mit dem Gedenken der Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus am 23. August d. J. in Vilnius, Riga und Tallinn, ergoß sich durch die sowjetischen Medien eine Wöge abgedroschener Lügen und

Verleumdungen gegen die Veranstaltung und ihre Teilnehmer (über Nijolė Sadūnaitė, die 20 Jahre Berufserfahrung hat, wurde z.B. gesagt, sie habe niemals gearbeitet, u. ä.).

- Die Agenten des Sicherheitsdienstes wenden immer noch Terror und Gewalt an. Am 28. - 29. August dieses Jahres sind z.B. Robertas Grigas und der Priester Rokas Puzonas zusammengeschlagen worden; Nijolė Sadūnaitė wurde 30 Stunden lang in einem Auto ohne amtl. Kennzeichen herumkutschiert. Alle drei wurden mit weiteren Gewalttaten bedroht.

Diese und viele andere Fakten zeigen, daß in der Sowjetunion Lüge und Gewalt sehr tiefe Wurzeln geschlagen haben, daß noch viele Anstrengun­gen seitens der Bürger der Sowjetunion, wie auch seitens der Öffentlichkeit aller Länder der Welt nötig sind, damit Offenheit und Demokratie siegen.

Deswegen wenden wir uns auch an alle Menschen guten Willens in allen Ländern der Welt:

Seid nicht gleichgültig dem Unrecht und dem Leiden der anderen gegen­über! Beleuchtet die Lage der Baltischen Staaten mit allen euch zur Ver­fügung stehenden Informationsmitteln und bittet die Oberhäupter Eurer Staaten, die Frage der Zwangseinverleibung der Baltischen Staaten in der nächsten Session der Vollversammlung der Vereinten Nationen zu erheben und sie zu behandeln, damit den Bürgern dieser Länder das Recht der freien Selbstbestimmung zugebilligt wird.

Möge Gott euch helfen!

Es unterschrieben:

Priester Juozas Razmantas (in Žalpiai)

Priester Jonas Kauneckas (in Skaudvilė)

Priester Vaclovas Stakėnas (in Kriokialaukis)

Priester Jonas Danyla (in Bijotiškis)

Priester Antanas Gražulis (in Alytus)

Priester Leonas Kalinauskas (in Josvainiai)

Priester Vincas Vėlavičius (in Telšiai

Priester Kazys Gražulis (in Šiauliai)

Priester Vytautas Prajara (in Garliava)

Priester Petras-Kąstytis Krikščiukaitis (in Čiobiškis)

Priester Rokas Puzonas (in Kiaukliai)

Dozent Vytautas Skuodis (Mitglied des Komitees der Katholiken

zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen in Vilnius) Liudas Simutis (in Kaunas) Nijolė Sadūnaitė (in Vilnius) Liudas Dambrauskas (in Kaunas) Vytautas Vaičiūnas (in Kaunas)

Robertas Grigas (in Kiaukliai) Kazimieras Kryževičius (in Kaunas) Jonas und Jadvyga Paškeviči (in Šiauliai) Vidas Abraitis (in Kaunas) Petras Gražulis (in Sasnava) Saulius Kelpšas (in Garliava) Bronė Valaitytė (in Sasnava) Aldona Raižytė (in Garliava)

Im Jahre 1987.

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