Priester Sigitas Tamkevičius schreibt:

»Der Morgen des 21. Juni war für mich der erste nach der Operation... und wie gut tat es mir, die guten Wünsche lesen zu dürfen.

Und so bin ich nach Staro Sainakowo gekommen. Am 18. Mai um 5 Uhr morgens kam ich, wie gewöhnlich, aus der Arbeit in die Baracke zurück. Ich wurde in die Wache gerufen, mir wurden Fingerabdrücke abgenommen und befohlen, alle meine Sachen zu bringen. Nach einer Durchsuchung wurde ich zum Bahnhof nach Wseswetskaja gebracht und in einen „Stoly-pin" gesetzt. Hier erfuhr ich, daß ich nach Tomsk fahre. Am nächsten Tag war ich im Gefängnis von Swerdlowsk. Hier verbrachte ich einige Tage in der Einzelzelle, und in der Nacht des 22. Mai fuhr ich weiter. Über Tiumen, Omsk und Nowosibirsk ratterten wir bis Mariinsk (im Gebiet von Kemerowo). Nachdem wir hier eine Nacht die Wanzen gefüttert hatten, reisten wir wieder zurück in Richtung Tomsk.

Am 27. Mai waren wir schon im Gefängnis von Tomsk. Ich durfte zwi­schen einer Gemeinschafts- oder Einzelzelle wählen. Ich wählte mir die letztere, denn ich hatte schon genug Gesichter der Kriminellen gesehen und ihre Reden gehört. Meine Einzelzelle war wesentlich kleiner als eine Zelle der Ordensleute, es zog, es gab aber keine unersättlichen Viecher, und als ich mich eingerichtet hatte, fühlte ich mich gar nicht schlecht. -Man kann sogar Exerzitien machen. Die Vorgesetzten geizten nicht mit der Zeit - wie wenn es ihnen von Oben eingegeben worden wäre. Man will ja möglichst schnell in die Freiheit hinaus, aber man will auch das vollenden, was man begonnen hat. Da ich vom 27. Mai bis 10. Juni in Tomsk geblie­ben bin, hatte ich für alles zur Genüge Zeit.

Am 10. Juni wurde ich mit einem „Woronok" nach Kriwoschein gebracht und von hier, nachdem sie mich den Samstag und Sonntag über in einer Arrestzelle der Miliz eingelocht hatten, bekam ich am Montagnachmittag meine Dokumente, wurde dann in das Dorf Staro Sainakowo gebracht. Das Arbeitergemeinschaftshaus, in dem zwei Weltenbummler und ich leben, ist in einem einräumigen Bauernhaus untergebracht. So ein Gemeinschafts­haus habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Deswegen schaute ich alles fast mit offenem Mund an. Meine Nachbarn waren nicht übel­gesinnt, sie wirtschafteten aber sonderbar: Überall, auf dem Tisch wie auf dem Boden, lagen Kartoffelschalen, Abfälle, Dreck, Zigarettenkippen usw. In der Nacht um 12 Uhr wird noch Tee oder das Abendessen gekocht. Später lassen einen dann die „Fallschirmspringer" Sibiriens nicht schlafen, und erst gegen Morgen, wenn sie sich mit Blut vollgesaugt haben, beruhi­gen sie sich. Ich habe mein „Gemeinschaftshaus" meinen Vorgesetzten gezeigt, und sie versprachen, mir etwas besseres zu geben. Da nach all die­sen Etappen mein altes Leiden mich unerträglich quälte und unter solchen Bedingungen ich noch kaum fähig war, Kälber zu füttern, ging ich ins Krankenhaus, und am nächsten Tag (21. Juni) wurde ich operiert. Ich fühle mich gar nicht so schlecht. Ich versuche zu sitzen und mich wenigstens minimal zu bewegen. Und das ist auch alles, oder vielleicht doch noch nicht, aber kann man denn schon alle kleinen „Perlen" finden? Alles habe ich Gott als Opfer dargebracht und Gott sei es gedankt, daß ich nach 5 Jah­ren Lager und 7 Etappen so bin, wie ich bin.

Ich habe keinen Haß aus dem Lager mitgenommen, sondern nur miseri-cordiam, - Herr, vergib allen! Priester Alfonsas habe ich am 18. Mai in der Zone 35 zurückgelassen. Er hoffte sehr, daß wir beide nach Hause fahren werden. Es tat mir leid, von ihm mich trennen zu müssen. Mit Sicherheit wird ihm erlaubt, in den Westen auszuwandern. Seine Argumente sind ernst - solche kann ich für mich nicht anwenden. Deswegen habe ich auf das Angebot des Obersten Radzevičius negativ geantwortet und heute bin ich hier, in Sibirien. Gottes heiliger Wille geschehe - der Weg zum Him­mel ist über Sibirien kein bißchen länger, als über Litauen.

Grüßen Sie alle von mir, die mich auf dieser Reise über den Ural, über Mordowien und Sibirien mit Gebet und Liebe begleitet haben. Wir wollen verbleiben in der Einheit des Gebetes.«

Am 23.6.1988.

Aus einem Brief von Balys Gajauskas:

»(...) In Litauen ist schon Frühling. Die Felder und Wiesen sind grün geworden und die Erde wird sich bald mit bunten Farben schmücken, die Obstgärten werden weiß.

Christus ist auferstanden. Ich glaube, daß wir auch auferstehen werden. In diesem „Jammertal" unseres Volkes braucht man einen starken Geist. Wenn wir den starken Geist bewahren, werden wir alle Schwierigkeiten überwinden. Und es gibt Berge von Arbeiten und Schwierigkeiten. Mit Hilfe Gottes werden wir alles überwinden und bewältigen.

Bei uns wird es etwas wärmer. Die Leute freuen sich über den baldigen Frühling. Der Schnee ist noch nicht weg und es gibt noch Fröste, aber der Frühling ist schon ganz nahe. Ich habe solche Sehnsucht nach der Wärme, nach Sonne, nach etwas Grünem, nach Wasser.

Im Winter ist der Blutdruck oft angestiegen, was mich stark ermüdete und mich arbeitsunfähig machte. Im Frühling ist es besser. Ich wünsche allen Gottes Segen.«

Am 19.4.1988.

*

Aus dem Gefangenschaftsort von Petras Gražulis.

Petras Gražulis, der gemäß § 211 des StGB der LSSR verurteilt wurde, ver­büßt die ihm auferlegte Strafe in dem Lager mit allgemeinem Regime OC12/8 in Pravieniškiai.

Aus Protest über seine Gefangenhaltung mit Kriminellen wandte sich der Gefangene P. Gražulis am 10. April 1988 mit einer Erklärung an den Staats­anwalt der LSSR. Er beschreibt darin, wie er nach der Gerichtsverhand­lung, in Anwesenheit der Teilnehmer des Gerichtsprozesses, von dem Beamten geschlagen und schleunigst aus dem Gerichtssaal hinausge­schleppt wurde, so daß er nicht einmal seine Sachen, wie Nahrungsmittel und Dokumente, mitnehmen, geschweige denn von seinen Geschwistern und Verwandten sich verabschieden konnte. Später, als es die Leute nicht mehr sehen konnten, wurde er mit atemhemmenden Chemikalien ange­spritzt. Als Folge davon schwoll sein Gesicht an und die Haut wurde rot.

Gleich nach dem Gerichtsprozeß wurde er in das Gefängnis nach Lukiškės gebracht, wo der Besuch seiner Schwestern Monika Baciuškienė und Albina Gražulytė abgebrochen wurde, als er erklären wollte, warum sein Gesicht rot geworden ist; denn die Beamten hörten dieses Gespräch mit. Während eines Besuches seiner geistlichen Brüder Antanas und Kazimieras Gražulis untersagten die Verwaltungsangestellten ebenfalls, dieses Thema anzu­schneiden, brachen aber den Besuch nicht ab. Nach diesem Besuch nötigte der Vorsteher der Operativabteilung, Oberstleutnant Adomaitis, den Gefangenen P. Gražulis, einen Rapport zu unterschreiben, daß er während des Besuchs die inneren Regeln des Gefängnisses verletzt habe. Deswegen wurde ihm der nächste Besuch gestrichen. Mit der Begründung, daß er nur die in dem „demokratischsten Lande" geltende Redefreiheit in Anspruch genommen habe, verweigerte P. Gražulis die Unterschrift. Der Oberstleut­nant Adomatis schimpfte den Gefangenen mit unanständigen Worten aus und drohte ihm, ihn für zwanzig Jahre ins Lager zu bringen und den Gefangenen zu verkünden, daß P. Gražulis ein Verräter sei und ähnl.

Am 8. März wurde P. Gražulis in das Lager nach Pravieniškiai gebracht und nach einigen Tagen der 2. Brigade der 2. Kolonne zugeteilt, die aus solchen Verurteilten zusammengesetzt ist, die die anderen Gefangenen der Lagerverwaltung verraten oder etwas anderes gegen andere Gefangene getan haben. Wenn diese Brigade an den anderen Häftlingen vorbeizieht, werfen die anderen Häftlinge mit allerlei Sachen auf sie oder bespucken und beschimpfen sie. Als Verräter verleumdet, wird P. Gražulis sogar in dieser Brigade von persönlichen Spitzeln verfolgt. Der Gefangene hat schon dreimal gebeten, ihn in eine andere Brigade zu versetzen, die Lager­verwaltung war aber damit nicht einverstanden. P. Gražulis bittet in seiner Erklärung den Staatsanwalt, ihm zu erlauben, die hl. Schrift, ein Gebet­buch und einen Rosenkranz bei sich zu haben. Solche Sachen bei sich zu haben, wurde nicht nur in den Gefängnissen des Zaren, sondern auch in den Konzentrationslagern Hitlers erlaubt. Wenn diesem Ersuchen nicht entsprochen wird, ist P. Gražulis entschlossen, so lange zu hungern, bis er die von ihm gewünschten Sachen bekommen wird. Wegen Hungerstreik verhängt die Lagerverwaltung für den Gefangenen Karzer und andere Strafen.

Am 10. Mai fuhr Priester K. Gražulis in das Lager von Pravieniškės mit dem Ziel, seinem dort inhaftierten Bruder auf seinen eigenen Wunsch hin die hl. Schrift, ein Gebetbuch und einen Rosenkranz zu übergeben. Der Lagervorsteher nannte den Priester K. Gražulis einen Schmarotzer, einen' Zerstörer der Kultur und verweigerte damit die Annahme der ge­nannten Sachen, ohne sich die Mühe zu machen zu erklären, aus welchem Grund.

P. Gražulis wurde vom 13. bis 28. Mai mit Karzer bestraft. Der Lagervorste­her Oberst Arlauskas erklärte seinen Verwandten den Grund der Bestra­fung: „Er hat nicht an seinem Platz gegessen". (In Wirklichkeit hat der Häftling auf dem ihm zugeteilten Platz gegessen.) Aus Protest gegen die ungerechte Bestrafung kündete P. Gražulis einen Hungerstreik an. Nach der Verbüßung der Karzerstrafe, körperlich total erschöpft, wurde er in das Lagerkrankenhaus gebracht. Auf Anordnung des Obersten Arlauskas wurde P. Gražulis aus dem Lagerkrankenhaus abgemeldet und am 8. Juni wiederum mit einer Karzerstrafe bestraft, diesmal aber deswegen, weil er, als er das letzte Mal im Karzer war, gehungert hatte.

Am 9. Juni erklärte der Lagerverwalter Arlauskas dem Bruder des inhaftier­ten P. Gražulis, Priester Kazimieras Gražulis, der ins Lager gekommen war: „Wenn er herauskommt, werden wir ihn wieder für 15 Tage einsper­ren, Gründe haben wir dafür..." Auf die Feststellung des Priesters K. Gra­žulis hin, daß das unmenschlich ist, daß die Welt davon erfahren wird, erklärte Oberst Arlauskas spöttisch, daß wegen so einem wie P. Gražulis die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den USA sich, seiner Mei­nung nach, bestimmt nicht verschlechtern würden.

*

Gintautas Iešmantas schreibt:

»Danke für Ihren Brief, voll mit warmen, guten Worten. Diese Worte sind wie eine Arznei für das Herz. Es wird heller und leichter, wenn man die Güte der Menschen, die Empfindsamkeit der einfachen Seelen und ihr Verständnis in sich verspürt. Auch das Kreuz, das man, selbst gewählt, tra­gen muß, ist dann nicht so schwer, und der Weg erscheint nicht so dornen­voll. Heute haben wir es unvergleichbar besser als jene, die vor 40 oder noch mehr Jahren den Weg der Verbannung und der Gefängnisse gehen mußten. Das waren die wahren Helden und Märtyrer! Unbekannt, überall zerstreut, der Kälte, dem Hunger und dem Tode preisgegeben... Wenn ich daran denke, ist mein Leiden und mein Los nur ein Schatten. Und nie­mand konnte ihnen helfen. Und was ertragen wir? Es ist nicht einmal der Rede wert. Man weiß, daß man nicht allein ist, daß viele, viele Herzen mit dir sind. Die Wahrheit und die Gerechtigkeit aber, von der Sie reden... ? Ich gestehe, ich warte nicht auf sie. Damit es Ihnen klarer wird, was und wie, bin ich entschlossen, Ihnen ein Gedicht beizulegen, und Sie werden es verstehen, wenn Sie es gelesen haben. Selbstverständlich habe ich nicht über mich selber geschrieben, es ist verallgemeinert; aber, weil einige Ähn­lichkeiten darin zu finden sind, wird es einiges auch über mich erklären. Schade, daß es sehr lang und deswegen auch langweilig ist. Aber trotzdem, habt Geduld und lest es doch durch. Es nennt sich „Der Prophet". Ein ewiges Thema.«

Warum lauschest du, Prophet, so schweigend

auf der Tiefe Grollen ? Rascher eilt, mir scheint,

die Zeit. Der Weg aus dem Dunkel ist wie verzaubert,

wie vielschichtig schillernd erscheint seine Glätte.

Aus dem Schlaf reckt sich auf das Bewußtsein.

Der heimliche Kummer, bislang in der Stille

verborgen - jetzt drängt er nach oben

und grell wie die Sonne blitzt auf der Gedanke.

Der Alltag von gestern, dem man sich beugte,

wird heute „der Zwang" und „das Finster" genannt.

Das Unrecht, die Tränen - jetzt haben sie Worte.

Und die Herzen erbeben: Wie riesig das Unrecht,

wie drückend die Lüge! Und wieviel davon gibt es noch immer!

Jetzt bangen all jene, die schaurige Burgen

aus Unrecht sich bauten. Schau nur um dich!

Bleich weicht die Verdammnis, sich windend vor Angst.

War es nicht das, was du damals begehrtest,

als ohnmächtiger Schmerz, sich des Geistes bemächtigt,

Worte schwang in den Raum, die Lüge entblößte

und die Wahrheit enthüllte. Wie schön warst du damals,

wie strahlte dein Antlitz! Wir schauten dich an voll sorgender Angst:

Was wird nun geschehen ? Doch du zeigtest kein Wanken,

bliebst standhaft im Unheil und beugtest dich nicht,

wie auch gebrandet der wütende Haß: „Ans Kreuz

nur mit diesem, ans Kreuz!" Und die Menge klatscht

in die Hände. Das Leiden von Golgotha wartet auf dich!

Daß Gutes erwachse, nahmst du es an wie den Segen

und wußtest es gleich: Du wirst es ertragen,

was dir die Vorsehung bringt. Mit brennendem Herzen

gingst du als Licht und als Vorbild voran.

Und nun bist du bange ? Was ängstigt dein Herz ?

Könnte die Heiterkeit trüben, weil mit dem Banner all deiner

Wünsche auch jene sich aufwärts erheben,

die einstens voll Ingrimm mit Schmutz dich bewarfen ?

Auch sie ziehen voran, wenn auch ohne Parolen,

und geben nichts zu... Man könnte fast meinen,

daß dieses, aber nur dieses auch sie immer wollten...

Und wer könnte es glauben, daß sie um dich sich bemühen,

dich ehren für alles? Ich frage, wofür?

Vielleicht, weil du ohne Erbarmen entblößt'

ihre häßliche Kleinheit? O nein, welch ein Irrtum!

Dies werden sie niemals vergeben. Du fern der Lüge

in Wahrheit gewachsen, sie stürzen auf dich

und werden dir ewigen Schaden zufügen.

Aber das Schmerzlichste ist dir wohl dies, daß jene,

für die du dein Streben und all deine Kühnheit

geboten als rettendes Ufer, nun auch nicht begreifen

und halten dein Tun für ein Unrecht... Du weißt aber

doch, daß dies immer so war und daß sich die Welt

nur so immer vorwärts bewegt. Warte es ab !

Dies ist erst der Anfang. Noch hat deine Stimme so klar

nur wenige Herzen erreicht. Und bedenke zu dem:

Nicht wegen Ehren gingst du ans Werk,

nicht wegen Ehrung lebst du auf Erden...

Im Mai 1988.