Aus den Briefen des Priesters Sigitas Tamkevičius :

»Ich wurde aus Staro-Sainakowo nach Kriwoscheino verlegt, lebe am Ufer des Flusses Ob. Die Briefträgertasche habe ich nur zwei Tage getragen, nachher wurde sie mir abgenommen. Der Postvorsteher erklärte mir, daß es nicht rechtens sei, wenn ich an einer Kontaktstelle arbeite. Noch am selben Tag fand ich eine Arbeit in einer Sportartikelfabrik. Dort werden Eisstöcke gefertigt, und ich muß die Stiele hobeln. Lärm und Staub könnte es weniger geben - die Augen, Ohren und die Lunge sind voll davon. Sie dürfen selbstverständlich nicht denken, daß das eine unerträgliche Last ist. Die Menschen arbeiten hier jahrelang und es passiert ihnen nichts. Außer­dem habe ich fünf Jahre lang an einer Werkbank gearbeitet, dort gab es ebenfalls Staub und alles Unvorstellbare. Und Gott sei es gedankt, daß ich nicht vergesse zu beten, nicht verlernt habe zu lachen und auch nicht ver­gessen habe, daß mich sehr viele gute Menschen unterstützen, denen ich für ihre Gebete und ihre moralische Stärkung so viel schulde. Die Arbeit selbst ist nicht schwer, aber man muß von 9 Uhr morgens bis 18 Uhr abends an der Hobelbank auf den Beinen stehen. Im Lager war die Arbeit an der Werkbank etwas bequemer, auch beten konnte man viel leichter, hier aber kann man nur während der „Zigarettenpause" Rosenkranz oder sonst etwas beten. Dafür werde ich aber die Samstage und Sonntage frei haben, im Lager haben wir nur die Sonntage frei gehabt. Ich danke Gott für alles, denn Er gibt mir alles zur Genüge, was ich brauche: Gesundheit, Kraft, Zeit und alles andere, wir dürfen nur die vom Allmächtigen geschenkten Talente nicht in der Erde vergraben. (...)

Wenn man Jahr für Jahr nur Fremde um sich sieht, Leute, denen dein Schicksal gleichgültig ist, ja sogar feindliche Gesichter, dann wird man gei­stig hungrig. Unser, der Gläubigen, Glück ist es, daß wir mit der unsichtba­ren Welt geistig zu verkehren gelernt haben, und auch das Glück, daß man weiß, daß jemand für uns betet und uns moralisch stärkt. Ich habe dies auch damals gewußt, als meine Briefe haufenweise konfisziert wurden, und auch dann, als sie spurlos verschwanden.

Und es geschieht so: Der Zensor kommt ins Lager und beginnt die Namen von denen vorzulesen, die dir geschrieben haben, die dir gratuliert, dir Gutes gewünscht, dich gestärkt haben, ihre Briefe wirst du aber niemals sehen und niemals lesen dürfen. Er liest dir die Namen einen nach dem anderen vor, zehn, fünfzehn, oder sogar zwanzig... und er beobachtet dich, wie du darauf reagierst... Ich sagte nur danke und entfernte mich. Wieviele Briefe hat es aber gegeben, die überhaupt nicht erwähnt wurden, wie wenn sie überhaupt nicht geschrieben worden wären?! Das ist das Schicksal eines Gefangenen. Damals wollte man mich sichtlich zu der Überzeugung bringen, daß ich von niemandem mehr benötigt werde, ich kam aber nicht einmal in Versuchung, so zu denken, denn das Volk Gottes betete für mich. Jetzt schreiben mir viele. Ich danke allen. Ich bekomme Briefe aus Deutschland, England. Man möchte gerne allen wenigstens ein Wort schreiben.

Jesus Christus hat während seiner Versuchung einen bedeutungsvollen Gedanken gesagt: Damit der Mensch leben kann, benötigt er Brot und das Wort Gottes. Wenn ihm diese Sachen fehlen sollten, wird der Mensch nicht leben - er wird nur vegetieren. Das Wort Gottes erreicht mich oft durch Menschen, wenn sie für mich beten, damit ich aushalte, wenn sie mir schreiben, wenn sie nur in ihren Herzen mir Erfolg wünschen. Deswegen fühle ich mich glücklich und danke allen, allen für ihre Gebete und für die

Stärkung durch ihre Briefe. Es stimmt, solange ich im Lager war, sind viele von den Briefen im Abfallkorb der Zensoren verschwunden, für sie gilt mein besonderer Dank.«

Im Juli und August 1988.

Priester Sigitas Tamkevičius' Adresse:

Index 636300 Tomskaja obl. Kriwoseino Pionierskaja - 3.

Petras Gražulis schreibt an den Staatsanwalt der SSR Litauen:

»Ich möchte Ihnen, Staatsanwalt, kurz beschreiben, unter welchen Bedin­gungen die Gefangenen in der Zone OČ 12/8 des Lagers Pravieniškiai leben.

Als ich zum ersten Mal in den Speiseraum unserer Zone geführt wurde, war ich bestürzt über die unvorstellbare Unordnung und Armut, die dort herrschen. Die Türen, Fenster und Wände des Speiseraumes sind schon seit langer Zeit nicht gestrichen worden, die Farben bröckeln ab, alles ist dreckig und der Zustand der Tische und Bänke ist genau so. Der Raum ist voll von verendeten Ratten, der Geruch unerträglich schlecht. Die Suppe ist schwarz, riecht wie Spülwasser.

Mit dem für die Gefangenen vorgesehenen Tee wird hier Schwarzhandel getrieben: Es wird sechs mal mehr dafür verlangt, als der Preis im Laden ist. Aus diesem Grund bekommen die Verurteilten überhaupt keinen Tee. Anstatt Tee wird gekochtes Wasser ausgegeben, und damit es eine bräun­liche Farbe bekommt, wird etwas gebrannter Zucker beigegeben. Es fehlt an Schöpflöffeln, Eßlöffeln und anderem Geschirr, und deswegen kommt es beim Austeilen unter den Gefangenen zu Konflikten. Das Geschirr wird schlecht abgespült, es ist fettig, alte Speisereste kleben darauf. Ob für die Gefangenen auch Fleisch zugeteilt wird oder nicht, weiß ich nicht, ich kann nur sagen, daß ich hier noch keines gesehen habe. Manchmal wird am Abend ein Stück von sehr schlechtem Fisch gegeben, aber auch das ist nur halb so groß, wie es sein sollte. In der Frühe wird ein nicht voller Löf­fel Zucker auf dem Tisch ausgeleert. Man weiß aber nicht, was man damit anfangen soll; soll man ihn mit der Zunge ablecken oder mit dem Brot abtupfen, denn wie ich schon erwähnt habe, für den Tee wird kein Geschirr ausgegeben; wir müssen ihn aus demselben Geschirr trinken, aus dem wir die Suppe oder auch den Brei essen. Das Brot wird für uns aus Abfällen gebacken, oft ist es aber nicht ganz durchgebacken. Manchmal kommt der ernste Verdacht, daß es aus vom blanken Boden zusammengekehrten Mehl gebacken wird, weil man darin alles mögliche finden kann: Erde, Asche, Kohle, Betonbrocken und sogar... Rattendreck. Das Brot ist oft von Mäu­sen oder Ratten angenagt. Die Verurteilten, die eine gefahrvolle Arbeit ver­richten müssen (wenn hier auch alle diese Arbeit verrichten), bekommen pro Tag einen halben Liter Milch, die aber ständig mit Wasser verdünnt wird. Während der Heizperiode wird es zur Verdünnung der Milch dem Heizungssystem entnommen, damit man das Wasser für diesen Zweck nicht weit zu tragen braucht; so wird der Organismus der Schwerarbeiter geschädigt. Im Gefängnis von Lukiškes in Vilnius sind für die Verpflegung eines Verurteilten 9 Rubel vorgesehen, hier sind es aber 18. Viele Verur­teilte nehmen hier kein Frühstück oder Abendessen zu sich, weil man durch eine Stunde Schlaf mehr Kalorien sparen kann, als man durch das Essen bekommt. Ich nehme ebenfalls kein Frühstück und kein Abendessen zu mir, ich hole nur, wie auch viele anderes es tun, das Brot ab. Verurteilte, die etwas Geld verdient haben, sind berechtigt, für 15 Rubel im Monat im Laden der Zone Lebensmittel einzukaufen, aber nicht alle können verdie­nen; ungeachtet dessen, daß gegen manche Verurteilte nichts vorliegt und sie schon mehr als eine Jahr gearbeitet haben und die Fertigung ihr Soll erfüllt, bleiben für den Verurteilten nicht einmal 10 Rubel pro Jahr, denn die Prämie von Tausenden von Rubeln nimmt jemand anderer an sich. Ich habe ebenfalls kein Geld auf meinem Konto, und ich weiß es auch nicht, ob ich jemals was verdienen werde. Es ist überhaupt möglich, daß meine Haftzeit eher zu Ende gehen wird, als ich meinen Verdienst bekommen werde. Für das aus der Freiheit zugeschickte Geld darf man nichts kaufen, und deswegen beachte ich, vom Hunger gezwungen, das Verbot nicht und gehe „betteln". Es gibt auch hier gute Menschen, die sich meiner erbar­men, die mir etwas Margarine aufs Brot streichen, oder mich mit Konser­ven bewirten. Jene aber, die von niemandem unterstützt werden und kein Geld zum Einkaufen haben, sammeln die Speisereste vom Boden auf oder verdienen sich ein Stück Brot durch das Reinigen eines Korridors, Saals oder ähnl. Die Raucher sammeln alle Zigarettenreste vom Boden auf. Es gibt aber auch solche, die sich zu helfen wissen, die in der Lage sind, auf irgendwelchen Wegen sich Lebensmittel aus der Freiheit zu beschaffen. Die Not ist der beste Lehrer. Wenn mir jemand früher so etwas erzählt hätte, hätte ich niemals glauben können, daß unter diesen Umständen und mit solchen Nahrungsmitteln die Verurteilten in Besserungsarbeitskolonien ernährt werden könnten. So etwas ist nur unter dem sowjetischen System möglich.

Mit der Forderung nach einer besseren Verpflegung und größeren Sauber­keit im Speiseraum haben die Verurteilten einstimmig Hungerstreiks ange­kündigt, ganze Abteilungen haben auf das Essen verzichtet. Am Vorabend des 16. Februar dieses Jahres haben die Gefangenen, bewaffnet mit Brech­eisen, Spießen, Stöcken, Rohren, Knüppeln und anderen Werkzeugen, die Zäune umgeworfen und die Arbeiter des Speiseraumes überfallen. Es gab sogar Verletzte. Um diesen Aufstand niederzuschlagen, wurde das Militär ins Lager gerufen. Trotz der Forderungen der Gefangenen hat sich die Lage im Speiseraum nicht gebessert.

Kommisionen besuchen oft die Zone, was sie hier aber überprüfen, was sie machen, ist völlig unklar. Man muß annehmen, daß sie hier gewöhn­lich mit der Lagerverwaltung Kaffee oder Kognac trinken und wieder weg­fahren.

Als ich mich wegen der Verbreitung der Ratten im Speiseraum beim Vor­steher der Operativabteilung, Nesterow, beschwert habe, lächelte er nur und antwortete mir: „Gražulis, du bist doch nicht in einen Kurort geraten. Ratten im Speiseraum habe ich aber seit zehn Jahren keine mehr gesehen." Der Vorsteher sieht scheinbar schlecht; und wie soll er sie auch sehen - er braucht hier nicht zu speisen.

Während unserer Unterhaltung versuchte Nesterow mich zu überzeugen, daß ich ein Agent des amerikanischen Geheimdienstes sei, der jetzt isoliert ist. Es ist sehr schade, daß ich von hier aus nicht ins Ausland schreiben darf, damit die Amerikaner oder die Litauer im Ausland mich hören, sonst würden vielleicht, wie Nesterow sagte, Geheimdienstmänner mich, als ihren Mann, unterstützen und durch das Rote Kreuz Lebensmittel mir zuschicken, damit ich nicht hungern muß. Vielleicht würden sie mich mit Vitaminen, Medikamenten versorgen, denn hier mangelt es an allem. Viel­leicht würden sie Rattengift gegen die Ratten schicken, die beinahe schon die ganze Kolonie unter ihrer Herrschaft haben...

Es gibt in unserer Zone eine Sanitätsabteilung, aber die ernstlich Kranken können dort nicht hineinkommen, weil dort vielleicht vier oder mehr gesunde Menschen dauernd „behandelt" werden. Manche von ihnen wer­den schon seit einem halben Jahr oder sogar noch länger „behandelt"; manchmal kommt es vor, daß einer bis zum Ablauf seiner Haftzeit behan­delt wird, jene aber, die von der Arbeit freigeschrieben werden sollten, wer­den nicht freigeschrieben, wie z. B. der Arbeiter unserer Brigade Gintas. Er hat sich mit der elektrischen Säge an der Hand verletzt, die Wunde wurde genäht, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wurde aber nicht ausge­stellt, obwohl er einen ganzen Monat nicht arbeiten konnte. Als ich an der Grippe erkrankte und Fieber bekommen hatte, wurde ich nur für zwei Tage arbeitsunfähig geschrieben, und ich mußte noch mit Fieber zur Arbeit gehen.

In zellenartigen Räumen und Strafisolatoren werden Medikamente vom Vorsteher der Operativabteilung Nesterow oder vom Obersten Gruodis ver­teilt. Der Arzt ist hier dazu nicht berechtigt. Das ist aber Mißbrauch der Medizin. Die Verurteilten sagen ganz offen, daß man für 25 Rubel für etwa einen Monat zur Erholung in die Sanitätsabteilung kommen kann. Für denselben Preis kann man sich eine „Diät", eine bessere Verpflegung, besorgen. Das kann man dadurch erreichen, daß man das Geld einem der in der Sanitätsabteilung liegenden gesunden Kranken bezahlt, der bis zu seiner Entlassung dort liegt. Seine Aufgabe ist, die Abgaben einzusammeln und sie mit dem Oberarzt zu teilen. Zu diesem Zweck halten sich die Ärzte einige gesunde Menschen in der Sanitätsabteilung. Anders kann man die langdauernde „Behandlung" gar nicht erklären.

Zu der Zahnärztin, die hier an drei Tagen in der Woche von 8 bis 13 Uhr arbeitet, kommen die Verurteilten, die die ganze Zeit in der ersten Schicht arbeiten, überhaupt nicht hin, weil sie zu diesem Zweck nicht aus der Arbeit freigelassen werden. Sich vorzudrängein hat auch keinen Zweck, weil die Zahnärztin selber sagt, daß in der Zone die Behandlung schlecht ist: Die „Bohrmaschine" ist alt, die Bohrer sind stumpf, die Füllungen und anderes Material von schlechter Qualität.

Während der Arbeit stellen wir Kisten her. Der Raum ist eng, schlecht beleuchtet. Da es sehr eng ist, ist es schwer, an den Arbeitenden vorbeizu­kommen, um Material zu holen: Man zerreißt die Kleider, verkratzt die Hände. Die Arbeitstische sind zusammengebrochen, für die Herstellung der Kisten überhaupt nicht geeignet. Nicht einmal Hämmer gibt es ausrei­chend. Anstelle eines Hammers gibt es an einem Rohr befestigte Metall­stücke, deswegen haut man sich leicht auf die Finger. Es gibt keine Arbeitskleider. Wir haben uns einmal in dieser Angelegenheit mit dem Meister unterhalten. Er antwortete uns, daß es keine gebe. Deswegen arbeiten wir, leben wir und gehen spazieren in der Zone mit denselben dreckigen, staubigen Kleidern.

Die in „Jaunimo gretos" („Jugendreihen") von Algirdas Pivelis aufgenom­menen Verurteilten sehen vorbildlich aus: Sie sind mit sauberen neuen Steppjacken angezogen, tragen glänzende Schuhe. A. Pivelis hätte in unse­rer Zone seine Aufnahmen von den Gefangenen der 21., 23. oder 24. Bri­gade machen sollen. Ihre Schuhe sind zerrissen, einer von ihnen hat sogar seine Schuhe mit einem Strick festgebunden. Sie sehen erbärmlich aus, die Barte unrasiert, ihre Körper und Gesichter sind voller Grind. Weil sie nicht gebadet, ihre Kleider nicht gereinigt sind, verbreiten die Gefangenen einen unangenehmen Geruch. Was es bei ihnen zu finden gibt, das ist ein Stück Brot in der Tasche, damit sie bis zum Arbeitsschluß aushalten können. Ohne nur ein bißchen zu übertreiben, kann man sie mit Verhafteten des

Konzentrationslagers „Dievų miškas" („Götterwald") von B. Sruoga verglei­chen, die man dort die Widerwärtigen nannte.

Die Verurteilten, die in der Rundfunkfertigung beschäftigt sind, arbeiten ohne freie Tage, obwohl sie nach dem Gesetz einen Tag in der Woche frei haben dürfen und nur 8 Stunden pro Tag arbeiten sollten. Sie arbeiten aber von 8 Uhr morgens bis 21 Uhr und manchmal sogar bis 1 Uhr in der Nacht durch. Das ist eine Arbeit von Sklaven. Die Sklaven wurden aber gekauft und man mußte Geld für sie bezahlen, deswegen hütete sie der Sklaven­halter wie sein Eigentum, schonte sie, wie eine Sache, damit sie ihm länger dienen konnten. Wir sind aber Eigentum des Staates, verurteilt, erniedrigt, ohne Stimmrecht; unsere Gesundheit, unsere Nöte kümmern niemanden. Es kümmert niemanden, was wir zum Essen bekommen, unter welchen Bedingungen wir leben und arbeiten.

Wenn neue Gefangene in die Zone gebracht werden, werden ihre Kleider ihnen abgenommen, die besseren verkauft, die restlichen irgendwohin weg­geschafft. Wenn sie eines Tages nach Hause gehen, bekommen sie ihre Kleider nicht mehr. Es ist gut, wenn ihre Angehörigen kommen, um sie zu empfangen und ihnen Kleider mitbringen. Wenn aber niemand kommt zum Abholen?

In der Wöhnzone gibt es, könnte man sagen, überhaupt keinen Raum. Das ganze Gelände ist voll von Rattenlöchern. Die Toiletten, sowohl in der Wöhnzohne als auch in der Arbeitszone, sind unsauber, werden nicht gereinigt, Abflüsse sind verstopft, ständig herrscht ein unerträglicher Geruch. Die Sektionen (so werden Räume genannt, wo die Verurteilten wohnen und schlafen) sehen ordentlich aus, die Wände sind schön getüncht, sie sind aber so winzig klein, daß es nicht einmal Platz gibt, einen Hocker hinzustellen. Es gibt keine Anschlüsse für Rundfunkgeräte. Sich wegen der Platzgröße beklagen darf man nicht, denn wie der Major Baršketis sagt, „das Gesetz sieht für den Verurteilten keinen Mindestplatz oder bestimmte Quadratmeterzahl vor". Das steht ihnen nicht zu.

Ein neu angekommener Gefangener stößt auf gewisse Probleme. Es gibt keine Möglichkeit sich zu rasieren. Rasiere dich, womit du willst, aber rasiert mußt du sein. Wo soll man einen Faden, eine Nadel, Seife, Knöpfe, Schuhcreme, eine Bürste für die Schuhe oder für die Kleider, Briefpapier, Briefumschlag, Schreibzeug bekommen usw., usw.? Wo kann man die Klei­der waschen, und wenn man gewaschen hat, was soll man anziehen, wenn nur eine Kleidergarnitur herausgegeben wird? Zahnpulver gibt es in der Zone seit über einem Jahr nicht mehr. Zahncreme zu schicken ist verbo­ten, weil die Gefangenen sie aufessen. Man darf auch keinen Zucker schik-ken, weil die Gefangenen daraus Schnaps brennen. Etwa um den 20. April wurden zwei Schnapsbrennvorrichtungen gefunden. Das ist in der Zone überhaupt nicht Neues. Drogensucht, Trunksucht, Homosexualität sind in der Kolonie sehr weit verbreitet. Wenn jemand illegal Narkotika in die Zone bringt, dann ist die Hälfte der Zone voll mit Besoffenen.

Ich möchte in diesem meinem Brief auch die Haftbedingungen im Gefäng­nis von Lukiškes in Vilnius erwähnen. In Zellen, die vier Meter lang und etwa zwei Meter breit sind, wurden zu Zeiten des Zaren zwei oder sogar nur ein Verurteilter untergebracht, heute leben 6, 8 oder sogar 9 Verurteilte darin. In der Zelle stehen sechs Betten zweistöckig aufgebaut, der Stroh­sack ist auf einer Blechplatte ausgebreitet, die im Bettgestell an Stelle des Bettrahmens eingeschweißt ist. Sechs Gefangene schlafen also in Betten und die anderen am Boden. Der neunte muß dann unter den Betten schla­fen, weil man am Boden nur zwei Strohsäcke unterbringen kann. Die Toi­lette befindet sich in der Zelle selbst (wie es darin riecht, kann man sich gut vorstellen). Dort steht auch eine Waschgelegenheit und ein kleiner Spind für die Nahrungsmittel. Es gibt in der Zelle so wenig Platz, daß die Gefangenen nicht einmal ihre Betten alle auf einmal verlassen können -man hat keinen Platz zum Stehen. Unter diesen Bedingungen leben die Verurteilten, die nur einmal am Tag für eine Stunde zu einem Spaziergang hinausgelassen werden; sie verbringen hier aber nicht selten bis zu einem Jahr, deswegen sind Läuse und Krankheiten hier keine seltenen Gäste.

Als wir aus Vilnius in das Lager nach Pravieniškiai transportiert wurden, wurden wir in eine quadratische Abteilung, in eine Waggonabteilung, die für vier Mann berechnet ist, gepfercht - 17 Gefangene! Damit wir dort alle Platz bekommen, mußten uns die Soldaten mit ihren Marschstiefeln hineinpressen.

So sieht, kurz betrachtet, unser Leben in der Zone OČ 12/8 und so sehen die Haftbedingungen im Gefängnis von Lukiškes aus. Der Zweck dieser Erklärung ist, daß eine Ordnung in der Zone eingeführt werden soll, die in die innere Ordnungsregelung für alle, und nicht nur für mich allein, bes­sere Haftbedingungen bringen soll. Wenn die Lagerverwaltung nur mir ermöglicht, meine Zähne behandeln zu lassen, nur mir ein Trinkgefäß (wie es vorgekommen ist) oder einen Stuhl gibt, eine Arbeitskleidung zuteilt und ähnliches, damit bin ich nicht einverstanden.

An manchen Stellen dieser Erklärung sind die Namen nicht erwähnt worden. Um eine Ordnung einführen zu können, sind keine Namen nötig. Beispielsweise kann man bei der Überprüfung der Sanitätsabteilung auch ohne Namen feststellen, ob dort ein Gesunder liegt und wie lange. Man kann jene befragen, die in Isolatoren oder in zellenähnlichen Räumen untergebracht sind, wer dort die Verurteilten medizinisch behandelt und ihnen die Medikamente ausgibt - das medizinische Personal oder die Lagerverwaltung. Man kann auch ohne Namen überprüfen, ob die Verur­teilten Überstunden leisten müssen, ob sie Ruhetage haben. Man kann auch ohne Namen sehen, wie die Gefangenen der Brigaden 21, 22 oder 24 angezogen sind.

Aus Ihrem Gespräch mit mir am 4. Mai d. J. war zu entnehmen, daß Sie, verehrter Staatsanwalt, die Haft- und Arbeitsbedingungen der Verurteilten in der Zone überhaupt nicht interessiert haben. Sie waren nur darum bemüht, mich einzuschüchtern, damit ich nicht schreibe, mich nicht beschwere, denn sonst, wie Sie behaupten, könnte ich wegen der Schreibe­rei bestraft werden und ähnliches.

Mir ist überhaupt nicht wichtig, was Sie sagen möchten, oder wie Sie mich bestrafen möchten. Wenn ich das alles sehe, kann ich nur über mich allein nicht schreiben. Als Gläubiger bin ich verpflichtet, mit meinem Nächsten mitzufühlen und ihm beizustehen. Die Verurteilten, die hier durch die Schwerstarbeit erschöpft sind und ausruhen wollen, schädigen oft ihre Gesundheit, indem sie Drahtstücke, Schweißelektroden verschlucken, ihre Venen durchschneiden oder Nägel so in die Venen stecken, daß sie nicht mehr sichtbar sind, oder sie versetzen sich einen Stich in die Lunge. Um diese Fremdkörper entfernen zu können, werden die Verletzten in ein Krankenhaus gebracht und auf diese Weise können sie sich ausruhen.

Die Medizin im Lager wird von der Lagerverwaltung kontrolliert, die Lagerverwaltung und der Staatssicherheitsdienst sind aber gegen mich, sollte ich also hier krank werden, könnte die Medizin nicht zu meiner Heilung, sondern zur Schädigung angewendet werden.«

Am 15.5.1988.

Gintautas Iešmantas schreibt:

(Auszüge aus einem Brief vom 8. November 1987 an die Redaktion des Journals „Literatūra ir menas" - „Literatur und Kunst".)

»Am U. August dieses Jahres habe ich an den Sekretär des ZK der KPL, L. Šepetys, einen Brief abgeschickt mit der Bitte, Maßnahmen zu ergreifen, damit die Manuskripte meiner dichterischen Schöpfungen, die mir die Mit­arbeiter des Staatssicherheitsdienstes der SSR Litauen, beginnend mit dem Jahr 1974 bis 1986 abgenommen hatten, mir zurückgegeben werden. Der Sekretär L. Šepetys unternahm diesbezüglich keinerlei Schritte und gab meinen Brief, ohne mich davon zu benachrichtigen, an die Staatsanwalt­schaft weiter. Diese teilte mir durch einen Brief vom 10. Oktober, unter­zeichnet von J. Bakučionis, mit, daß die von mir geforderten „Schöpfungen als Beweismaterial anerkannt worden seien, und daß der Gerichtsbeschluß nicht aufgehoben sei". Aus diesem Grunde gebe es keine Möglichkeit, meine Manuskripte mir zurückzugeben. (...) Man möchte schon direkt fra­gen, ob ein derartiges Benehmen nicht den Bestimmungen widerspricht, die mit dem Begriff „Umgestaltung" in Verbindung stehen? Hat nicht L. Šepetys selbst in der Presse behauptet, daß man „in voller Verantwor­tung behaupten kann, daß es bei uns keine künstlerische Schöpfungen gibt und gegeben hat, die wegen ideeller und politischer Motive verboten waren..." Aber gerade auf Grund solcher Motive sind die Satiren von V. Kudirka, das Werk „Blūdas" („Schüssel") von Dobilas, „Algimantas" von Pietaris, manche Werke von Maironis nicht gedruckt worden... Ist vielleicht nicht wegen derselben ideelen oder politischen Motive der Roman „Juodųjų eglių šalis" („Das Land der schwarzen Tannen") von J. Mikelinskas ein gutes Jahrzehnt in der Tischschublade liegen geblieben oder die Herausgabe der Geschichte Litauens von Kojelavičius eingestellt worden?

Es gab und es gibt noch krassere Fälle, als der mit meinen Manuskripten. Das sonderbarste ist dabei, daß sogar jene Werke, die nach unschuldigen Motiven wie Natur, Liebe, menschliche Existenz geschaffen sind, als inkri­minierend angesehen werden. Die meisten aber sind solche! Überlegen Sie nur, wo, in welchem Lande dichterische Werke, ihr Wert ist gar nicht wich­tig, als Beweismaterial der Anklage, als Sachbeweismaterial verwendet wer­den können? Es hat aber nicht einmal Wert, darüber zu reden! Ich habe im Gerichtsbeschluß eines Gefangenen gelesen, daß ein Transistor als Sachbeweismaterial anerkannt wurde (man habe Auslandssendungen gehört). Und deswegen wurde der Transistor nach Gerichtsbeschluß zur Zerstörung verurteilt. Siehe nur, bis zu welcher Stumpfsinnigkeit man kommen kann, wenn man weder das Gewissen, noch die Gerechtigkeit be­achtet! (...) Eine solche ausgedörrte Denkweise ist mit einem auf dem Weg liegenden Stein vergleichbar, der ohne Anstrengung nicht beseitigt werden kann. (...) Es muß einmal dem Verbrechertum und der Barbarei ein Ende gemacht werden.«

P.S. Die Redaktion der „Literatūra ir menas" verweigerte die Veröffent­lichung dieses Briefes, dessen Ausschnitte wir hier wiedergegeben haben.

*

„Es ist erfreulich gute Worte aus der Heimat hören zu dürfen. Sie geben Kraft, wenn die Minuten der Trauer und der Unruhe einen überkommen.

Im Lager habe ich einen Brief bekommen, in dem, genau wie in Ihrem, geschrieben stand: Mit Dankbarkeit und Liebe. Es wundert mich - für was? Warum?

Wofür sagst Du Dank mir, zitterndes Herz? Wofür mir Armem, der nur gewagt? Für meinen Schmerz, vom Schicksal gegeben? Wofür sagst Du Dank mir, zitterndes Herz? Für meinen Kummer, den traurig gewebten? Für meine Opfer, vom Winde verweht? Wofür sagst Du Dank mir, zitterndes Herz? Wofür mir Armem, der nur gewagt?

Ja, so war es wirklich. Wir wanderten in Finsternis und sahen kein Licht, aber wir wanderten im Glauben an das Licht. Heute ändert sich die Lage. Wir sehen schon, wenn auch noch nicht deutlich, einen Lichtschimmer. Man möchte glauben, daß das keine Fata Morganą ist, und daß unsere Ziele erreicht werden. Diesmal aber noch deutlicher, als jemals zuvor:

Und unsere Schwäche zur Stärke uns wird,

wie auch Hoffnungslosigkeit zur Hoffnung...

Oh Verlorenheit! Gegen die Finsternis und die Gemeinheit

gehst du von einem Leiden in ein anderes.

Wie eine Erwartung... und deine glitzernden Tränen

fallen wie Sterne in die Seelen als Feuer."

Am 22.4.1988.

*