In Litauen findet eine Erneuerung des wirtschaftlichen, sozialen, politi­schen und kulturellen Lebens statt. Dieser Prozeß ist kompliziert und viel­deutig. Der Kreml, der diese Umgestaltung gebilligt hat, fürchtet sich jedoch davor, daß dieser Prozeß der Demokratisierung die Grenzen der „sozialistischen Demokratie" überschreiten könnte, und müht sich darum, daß die führende Rolle der KP in allen Lebensbereichen erhalten bleibt.

Die schon beinahe vor einem Jahr ins Leben gerufene Bewegung der Umgestaltung Litauens (LPS, Sąjūdis) hat die gesamte Intelligenz Litauens in ihren Reihen vereinen können, sehr beunruhigend wirkt aber die Tatsa­che, daß auch die Stalinisten von gestern sich der Bewegung anschließen. Die Mehrheit der Priester Litauens unterstützt die positiven Schritte dieser Bewegung.

Die Beziehungen zwischen der Kirche und dem Staate haben sich stark verändert: Friedliche Verhandlungen und ein Dialog haben die lang andau­ernde scharfe Konfrontation abgelöst. Die Regierung Litauens gab einige der wichtigsten Heiligtümer der Kirche zurück, wie die Kirche „Königin des Friedens" zu Klaipėda, die Kathedrale von Vilnius und die St. Casimir-Kirche und erlaubte den Neubau einer Kirche in Vilnius und Naujoji Akmenė.

Der Totengedenktag - Allerseelen - wurde zu einem arbeitsfreien Tag erklärt und es scheint, daß die Regierung auch die Feier des Weihnachts­festes und des Festes Mariae Himmelfahrt erlauben will.

Im Herbst vorigen Jahres wurden 46 neue Alumnen in das Interdiözesan-priesterseminar zu Kaunas aufgenommen. Es ist Tatsache, daß der Bevoll­mächtigte des Rates für Religionsangelegenheiten versucht hatte, die Kan­didatur von sechs Alumnen aus der Liste zu streichen, das Priesterseminar nahm sie aber, auf Anordnung des Kardinals, auf und der Bevollmächtigte versuchte nicht, einen Konflikt mit dem Kardinal einzugehen.

Seine Exzellenz der Bischof der Erzdiözese Vilnius, Julijonas Steponavi­čius, ist nach 28-jähriger Verbannung aus Žagarė nach Vilnius zurückge­kehrt. Dem Kardinal Vincentas Sladkevičius erweisen nicht nur die Gläubi­gen ihre Verehrung, sondern auch die Regierungsbeamten; selbstverständ­lich wird erst die Zukunft zeigen, wieviel Herzlichkeit in dieser Verehrung steckt.

Der ehemalige Stil der Artikel in den Zeitschriften über die Kirche und ihre Priester hat sich geändert; es wird mehr Ehrerbietung und Verständnis gezeigt. Die Behörde des Bevollmächtigten hat den Bischöfen erlaubt, die Priester für ländliche Pfarreien selbständig zu ernennen. Im Sommer haben die Priester mit dem Katechismusunterricht mit den Kindern begonnen, und die Regierungsbeamten hinderten sie nicht daran, obwohl das alte Sta­tut der religiösen Gemeinschaften, das den Priestern verbietet, die Kinder in der Religion zu unterrichten, noch nicht widerrufen ist.

Die Priester werden aufgefordert, sich an der Tätigkeit der Bewegung der Umgestaltung Litauens, des Abstinenzbundes, des Vereins „Ethos", wie auch an verschiedenen Veranstaltungen und Zusammenkünften zu betei­ligen.

Die neuentstandenen Bedingungen im Leben des Volkes und der Kirche haben viele Fragen aufgeworfen, auf manche von ihnen aber kann man heute schon eine klare Antwort geben. Es ist daher unbedingt notwendig, daß die Priester diese neue Möglichkeit ergreifen und mit ganzem Eifer mit der Katechese der Kinder beginnen, Jugendgottesdienste und Religi­onsunterricht veranstalten, die wieder ins Leben gerufene Föderation der „Ateitininkai", den Verein der Pfadfinder, den Bund der Katholischen Frauen „Caritas", die Gesellschaft „Ethos", die Abstinenzbewegung mit dem Namen des Bischofs M. Valančius und alle anderen positiven Bewe­gungen, die konstruktiv der Heimat und der Kirche dienen, vollkommen unterstützen.

Ein großer Teil der Priester Litauens ist der Meinung, daß man die Bewe­gung der Umgestaltung Litauens unterstützen solle, weil ihr Programm im allgemeinen positiv und dem Volke wie auch der Kirche nützlich sei. Die anderen aber, besonders in Niederlitauen (Schemaiten), trauen sich nicht, die Bewegung zu unterstützen, mit der Begründung, daß sie ein aus der KP geborenes Kind sei und einen propagandistischen Zweck habe, nur der Regierung ermögliche, einen Kredit im Westen zu bekommen, und die Handelsbeziehungen erleichtere. Viele beunruhigt das im Programm der Bewegung deklarierte endgültige Ziel - die Selbständigkeit Litauens in der Föderation mit der Sowjetunion, wenn es auch scheint, daß dieses Ziel in der Bewegung grundsätzlich nur von den Mitgliedern der KP und ihren Anhängern befürwortet wird. Völlig zu Recht vermissen die christlichen

Laien die Aktivität und die Unterstützung der Priester. Es ist eine Tatsache, daß viele Vertreter der Kirche sich nur mit Schwierigkeiten der Einwirkun­gen des Stalinismus und der Stagnation entledigen; sie beobachten taten­los, wie dieser Prozeß der Umwandlung enden wird - womöglich werden doch die reaktionären Kräfte siegen?! Nur ein kleiner Teil der Priester ergreift die notwendige Initiative, die meisten warten aber auf Instruktio­nen aus den Zentren der Diözesen und vergessen dabei, daß unter den jetzigen Bedingungen alle denken müssen und alles tun sollten, damit die Katholische Kirche ehrenvoll die Aufgaben dieser Tage lösen kann: das Volk aus dem religiösen und moralischen Verfall zu heben.

Es ist erfreulich, daß am 5. Februar die erste Nummer der Veröffentlichung „Katalikų pasaulis" - („Die katholische Welt") erschienen ist. Die Gläubi­gen und die Priester begrüßen diese Erscheinung und hoffen, daß sie in dieser Veröffentlichung Antwort auf die Fragen dieser Zeit finden werden, die auf gesunder christlicher Doktrin beruhen. Man muß aber bedauern, daß diese Veröffentlichung wegen Papiermangel bislang nicht regelmäßig erscheinen kann. Man muß Papier sogar aus anderen Republiken besorgen.

Positiv wirkt im katholischen Leben der Bund der Katholischen Frauen, „Caritas", in dessen Programm wahrhaftig edle Ziele eingetragen sind - den Menschen in ihrer geistig-seelischen und materiellen Not beizustehen. Wenn die Priester diesen Bund genügend unterstützen, kann man ohne Zweifel hoffen, daß er greifbare Früchte sowohl für die Heimat als auch für die Kirche bringen wird.

Zielstrebig ebnen sich den Weg ins Leben die Pfadfinder und die Ateitinin­kai (Zukünftler) Litauens. Die KP macht sich ernste Sorgen, daß die neuen Jugendorganisationen die Jugend spalten könnte, d.h. sie befürchtet, daß die Organisationen der Kommunistischen Jugend und der Pioniere immer mehr an Popularität verlieren könnten. Die Priester sollten aktiv diese wieder ins Leben gerufenen Jugendbewegungen, die formell noch nicht existieren, unterstützen, besonders aber jene, in deren Zielen religiöse und moralische Werte einen angemessenen Platz finden.

Viele der Priester und Gläubigen fragen, wie es mit dem weiteren Schicksal der „Chronik d. L. K. K." aussehe, wenn sich die Beziehungen zwischen der Kirche und dem Staat bessern. Auf diese Frage kann man eine ganz klare Antwort geben: Ihre Aufgabe bleibt immer dieselbe - die reale Lage der Kirche und der Gläubigen stets festzuhalten. Sollten die Bedingungen sich auch ändern, dann wird sich nur ihr Inhalt verändern.

Die Redaktion bittet ihre Mitarbeiter, auch weiter Material über die Lage der Katholischen Kirche Litauens im Laufe der Zeit ihr zuzuschicken.