Nijolė Sadūnaitė wurde am 27. August 1974 verhaftet. Bei der Hausdurch­suchung wurde festgestellt, daß zu der Zeit die Nummer 11 der „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche" (Chronik der LKK) mit der Schreib­maschine abgeschrieben wurde.

In der Voruntersuchung verweigerte N. Sadūnaitė" die Aussage, worauf die Untersuchungsrichter ihr mit einer Einweisung in ein psychiatrisches Kran­kenhaus drohten. Zwei Monate lang wurde es nicht gestattet, ihr Nahrungs­mittel zu übergeben.

Ende Januar 1975 verfaßte N. Sadūnaitė eine Beschwerde an den Staats­anwalt, in der sie gegen die Willkür der Untersuchungsrichter und die Drohungen bezüglich der Einlieferung in ein psychiatrisches Krankenhaus protestierte.

Im März 1975 richteten die Untersuchungsrichter ein Schreiben an das Psycho-neurologische Krankenhaus in Vilnius, Vasarosstr., und an das Psycho-neurologische Krankenhaus in Naujoji Vilnia (Neu-Wilna) mit der Anfrage, ob N. Sadūnaitė jemals dort behandelt worden sei. Die Antwor­ten waren negativ.

Im April 1975 wurde der Prozeß gegen N. Sadūnaitė aus dem Prozeß Nr. 345 ausgeschlossen und zum separaten Prozeß Nr. 416 erklärt.

Am 16. Juni 1975 eröffnete das Oberste Gericht der Litauischen SSR die Verhandlungen gegen N. Sadūnaitė. Die Gerichtsverhandlung begann um 10 Uhr vormittags. Gerichtsvorsitzender war Kudriasovas, Staatsanwalt war Bakučionis.

Folgende Zeugen wurden vom Gericht vorgeladen:

Jonas Sadünas (Nijoles Bruder) Vladas Sadünas (Nijolės Vetter) Regina Sadünienė (Ehefrau von Vladas) Povilaitis (Direktor der Mittelschule) Kušleika und Bronė Kibickaitė

Zu Beginn der Gerichtsverhandlung befanden sich die Zeugen in einem geschlossenen Sonderzimmer und wurden nach der Zeugenaussage wieder aus dem Gerichtssaal geführt, damit sie den Prozeßverlauf nicht verfolgen konnten.

Im Gerichtssaal waren nur sechs Soldaten und fünf Sicherheitsbeamte (Pile-lis, Jankauskas, Platinskas u. a.) anwesend. Der Gerichtsvorsitzende ge­stattete lediglich Nijolės Bruder Jonas im Saal zu bleiben. Andere Personen wurden in den Gerichtssaal nicht eingelassen. Die Sicherheitsbeamten er­klärten ihnen, daß die Gerichtsverhandlung für sie geschlossen sei. Nijolė Sadūnaitė beantwortete die Frage des Gerichtes nicht. Ihre Erklä­rung lautete:

„Nicht ich, sondern ihr seid die Schuldigen, denn ihr brecht die elemen­tarsten Menschenrechte, die durch die Gesetze, die Verfassung und die Konvention der Menschenrechte garantiert werden, und ihr unterstützt Lüge, Gewalt und Terror, denn ihr quält unschuldige Menschen in Ge­fängnissen und Lagern, nachdem ihr sie verleumdet und verurteilt habt, und deshalb beantworte ich, wie auch vorher in der Voruntersuchung, keine Fragen des Gerichtes. Damit protestiere ich gegen diesen Prozeß." N. Sadūnaitė erklärte auch ihre Ablehnung eines Rechtsanwaltes: „Der Prozeß gegen den Priester A. Šeškevičius im Jahre 1970 hat mir die Augen geöffnet. Er wurde dafür verurteilt, daß er seine priesterlichen Pflichten erfüllte, und weil ich für ihn einen Rechtsanwalt besorgte, drohte mir der Beamte des Staatssicherheitsdienstes, Leutnant Gudas, mit dem gleichen Prozeß wie gegen Priester A. Šeškevičius und mit Gefängnis. Der in demselben Zimmer 225 anwesende Beamte des Sicherheitsdienstes, Kol-govas, stellte mir, wenn ich meine Bemühungen um die Verteidigung des Herrn Šeškevičius nicht aufgebe, Strafen für meinen Bruder und meine Verwandten in Aussicht. Offenbar gilt es als ein „gewaltiges Verbrechen", wenn man sich um einen Rechtsanwalt für einen Priester bemüht. Und da ich ihrer Meinung nach eine für den Staat besonders gefährliche Verbreche­rin bin, verzichte ich auf einen Rechtsanwalt, denn ich will diejenigen, die für mich einen solchen besorgen würden, eurem Terror nicht ausliefern. Das ist die eine Seite der Medaille, und die andere — die Wahrheit braucht man nicht zu verteidigen, denn sie ist allmächtig und unbesiegbar! Nur Falschheit und Lüge bedürfen der Waffen, Soldaten und Gefängnisse, da­mit sie ihre niederträchtige Herrschaft erhalten können, aber auch das nur vorübergehend, denn sie sind ohnmächtig gegen die Wahrheit. Man sagt mit Recht, daß sich eine parteiische Regierung mit den eigenen Händen ihr Grab schaufelt. Ich bin im Recht und bin bereit, für die Gerechtigkeit nicht nur die Freiheit zu verlieren, sondern auch mit Freuden mein Leben hinzu­geben. Es gibt kein größeres Glück, als für die Gerechtigkeit und für die Menschen zu leiden. Deshalb brauche ich keinen Verteidiger. An seiner Stelle spreche ich selbst:

Verteidigungsrede

Zunächst möchte ich ihnen sagen, daß ich alle liebe wie meine Brüder und Schwestern, und wenn es sein müßte, würde ich ohne Zögern für jeden einzelnen mein Leben hingeben. Heute ist das nicht nötig, aber man muß ihnen die bittere Wahrheit ins Gesicht sagen. Es heißt, daß nur derjenige das Recht hat zu tadeln und zu schelten, der liebt. Und auf Grund eben dieses Rechtes wende ich midi an euch. Jedesmal, wenn Menschen wegen der „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche" verurteilt werden, pas­sen die Worte von Putinas sehr gut:

(Eigentlich Vincas Mykolaitis, ein von allen Litauern aberkannter Dichter, 1893—1967. — Anmerkung des Ubersetzers.)

„Und in den Gerichtshöfen ganz stolz Verdammen Mörder die Gerechten. Ihr zertretet die Altäre,

Und durch Euer Gesetz brachtet Ihr zum Einsturz Die Sünden und die Tugenden ..."

Ihr wißt genau, daß diejenigen, die die „Chronik der LKK" unterstützen, die Menschen lieben und nur deshalb für ihre Freiheit und Ehre kämpfen, damit ihnen das Recht eingeräumt wird, von ihrer Gewissensfreiheit Ge­brauch zu machen, die allen Bürgern, ohne Rücksicht auf ihre Uberzeu­gung, durch die Verfassung, die Gesetze und die Konvention der Menschen­rechte garantiert wird, und damit alle diese Grundsätze nicht nur schöne Worte auf dem Papier sind, nicht nur eine verlogene Propaganda bleiben wie bisher, sondern im Leben verwirklicht werden. Die Worte der Verfas­sung und der Gesetze bleiben ohnmächtig, wenn sie nicht im Leben ange­wandt werden und überall eine legalisierte Diskriminierung der Gläu­bigen herrscht. Die „Chronik der LKK" zeigt wie ein Spiegel die Ver­gehen der Atheisten gegenüber den Gläubigen.

Weil aber die Schlechtigkeit keinen Gefallen findet an ihrer Niederträch­tigkeit, erschreckt sie vor ihrem eigenen Abbild im Spiegel. Deshalb sind euch alle diejenigen verhaßt, die euch den Schleier der Lüge und Doppel­züngigkeit abreißen. Aber dadurch verliert der Spiegel nicht seinen Wert! Ein Dieb nimmt den Menschen das Geld weg, ihr aber beraubt die Men­schen dessen, was ihnen das Teuerste ist — die Treue zu ihrer Überzeu­gung und die Möglichkeit, dieses hohe Gut ihren Kindern, der jungen Ge­neration, zu vererben. Dabei wird doch in der „Konvention gegen Diskri­minierung auf dem Bildungssektor" vom 14./15. Dezember 1960, § 5, verlangt, den Eltern die religiöse und moralische Erziehung ihrer Kinder nach ihrer eigenen Überzeugung zu gewährleisten. Aber in den Verneh­mungsprotokollen zu meinem Prozeß schreibt die vernommene Lehrerin Rinkauskienė: „Da es nur eine Sowjetschule gibt, besteht keine Notwen­digkeit, die Kinder zu verwirren und zum Heucheln anzuleiten." Wer lehrt die Kinder das Heucheln? Solche Lehrerinnen, oder vielleicht die Eltern, denen die Erziehung ihrer Kinder nach ihrer eigenen Weltanschauung zu­gestanden wird? Erst wenn die Kinder, bei denen die Schule die elterliche Autorität zerstört hat, auf Abwege geraten, werden merkwürdigerweise nicht die Lehrer, sondern die Eltern beschuldigt.

Die Lehrerin der 10. Mittelschule in Klaipeda, Keturkaite, schreibt in ihrem Vernehmungsprotokoll: „Da ich Geschichtslehrerin bin, muß ich mit den Schülern auch Religionsfragen erörtern. Bei der Erklärung der Entstehung des Christentums und zugleich auch den Mythos über Christus..." Wie kann die Lehrerin Keturkaitė Religionsfragen erklären, für die sie nicht kompetent ist, wenn sie sogar in Geschichtsfragen Analphabetismus zeigt, denn sie hält an der überholten Atheistenlüge fest, Christus sei eine Legende. Solche Analphabeten „erziehen" und „bilden" die junge Gene­ration; unter Mißbrauch der Autorität eines Lehrers trichtern sie dem Be­wußtsein der Schüler Lügen ein.

Die Untersuchungsrichter Oberstleutnant Petruškevičius, der Chef der Vernehmungsunterabteilung, Rimkus, und der stellvertretende Chef der Vernehmungsabteilung, Kazys, haben oft damit gedroht, mich in ein psychiatrisches Krankenhaus einzusperren, weil ich ihre Fragen nicht beantwortet habe, obwohl ich erklärt hatte, daß ich aus Protest gegen die­sen Prozeß schweige. Der ständigen Drohungen überdrüssig, habe ich Protesteingaben beim Staatsanwalt der Republik, dem Chef des Sicher­heitskomitees und dem Chef der Vernehmungsabteilung eingereicht, mit der Bitte, die Eingaben zu meinen Akten zu legen. Meine Eingaben wurden den Akten nicht beigelegt, und der hier anwesende Stellvertreter des Staatsanwaltes der Republik, Bakučionis, antwortete nur schriftlich, daß das Recht zu einer psychiatrischen Untersuchung bestünde, nach der Mei­nung der Untersuchungsrichter dafür aber noch kein Anlaß vorhanden sei. Davon war aber in der Eingabe nicht die Rede gewesen, sondern ich hatte gegen die Willkür der Untersuchungsrichter protestiert, die mit Dro­hungen den Untersuchungsgefangenen einschüchtern und ihn zwingen wollen, sein Gewissen zu verraten. In der Eingabe steht folgendes: „Hat ein Untersuchungsrichter das Recht, dem Angeklagten mit einem psychia­trischen Krankenhaus zu drohen, wenn der Angeklagte an seiner Meinung festhält und sein Gewissen und seine Weltanschauung nicht verrät? Wäh­rend der Verhöre drohte Oberstleutnant Petruškevičius sehr oft, mich in ein psychiatrisches Krankenhaus einzusperren, wo es viel schlimmer sei als in einem Gefängnis, und zwar nur deshalb, weil ich seine Fragen nicht beantwortete. Kaum hatte er mich zum ersten Mal gesehen, so erklärte mich der stellvertretende Chef der Vernehmungsabteilung autoritär als schizophren mit typisch schizophrenem Denken und drohte mit einer Un­tersuchung durch eine psychiatrische Kommission, der er auch selbst als Mitglied angehöre. Der Chef der Vernehmungsabteilung, Major Rimkus, drohte mir wiederholt mit einer psychiatrischen Untersuchung, als ich seine Fragen nicht beantwortete. Gründet sich denn die gesamte Sowjet­justiz nur auf Furcht? Wenn ich psychisch krank wäre, müßte man mich heilen, mir aber nicht mit Krankheit drohen. Was kann ein Mensch dafür, wenn er krank ist? Aber an eine Krankheit glauben die Untersuchungsrich­ter selbst nicht, denn es sind nun schon fünf Monate vergangen, seit sie mir mit dem psychiatrischen Krankenhaus drohten, um meinen Willen zu brechen. Dieses Verhalten der Untersuchungsrichter verletzt die mensch­liche Würde, und ich lege dagegen Protest ein, daß ich von ihnen so be­handelt werde." (Die Untersuchungsrichter verstoßen mit dem Zwang zur Aussage gegen den § 187 des Strafgesetzbuches der Litauischen SSR, in dem es heißt: „Der von den untersuchenden oder vorbereitende Ver­höre durchführenden Personen ausgeübte Zwang, durch den beim Befra­gen mit Drohungen oder anderen unrechtmäßigen Handlungen Aussagen erzwungen werden, wird mit Freiheitsentzug bis zu drei Jahren bestraft. — Dieselbe Handlungsweise, in Verbindung mit Gewaltanwendung oder Verhöhnung der Person des Untersuchungsgefangenen, wird mit Frei­heitsentzug von drei bis acht Jahren bestraft!" — Anmerkung der Redak­tion.)

Nachdem die Eingabe eingereicht war, machte mir der Chef der Verneh­mungsunterabteilung, Rimkus, wegen meiner Beschwerden Vorwürfe und sagte ironisch: „Wenn du so reagierst, dann bist du wirklich nicht normal. ..Du kennst nicht alle juristischen Feinheiten ..."

Es ist wahr, ich kenne weder juristische Feinheiten noch Grobheiten, denn das habe ich nicht studiert, aber jetzt weiß ich, daß für sowjetische Unter­suchungsrichter Lüge, Drohung und Verleumdung nicht nur dem Beschul-

 

Blick auf die Stadt Vilnius.

St.-Anna-Kirche in Vilnius, in der heute noch Gottesdienst gefeiert wird. Die Kirche ist im 16. Jh. entstanden.

digten gegenüber, sondern auch gegenüber ganz unbeteiligten Personen normal sind. Das aber ist geistiger Terror, der bestraft werden müßte, denn geistige Wunden heilen schwerer als physische.

Ihr habt gar kein Interesse daran, Verbrechen zu verfolgen, im Gegenteil, ihr toleriert und fördert sie noch. Das ist dadurch erwiesen, daß die in meinem Prozeß befragten Zeugen, die die Wahrheit der in der „Chronik der LKK" beschriebenen Fakten bezeugten, zuerst einmal befragt wurden, wer wohl diese Nachrichten an die Herausgeber der „Chronik der LKK" ver­mittelt haben könnte, wem sie das Geschilderte erzählt haben, wer es ge­sehen und gehört hat usw. Das ist es, was ihr fürchtet — das Wort der Wahrheit! Die Untersuchungsrichter verhörten diejenigen nicht, ja luden sie nicht einmal vor, die aus Haß gegen Andersdenkende die Lehrerin der Mittelschule in Kulautuva, St. Jasiūnaitė, wegen des Tragens eines kleinen Kreuzes entlassen, verhöhnt und ihr lange Zeit nicht einmal die einfachste Beschäftigung in der Küche gegeben haben. Die Untersuchungsrichter lu­den weder den Vorsitzenden des Exekutivkomitees des Deputiertenrates der arbeitenden Menschen in Panevėžs, Markevičius, noch den Leiter der Finanzabteilung, Indriūnas, vor, die die Sekretärin Marija Medišau-skaitė wegen ihres Kirchenbesuches nach neunjähriger Tätigkeit entließen. Aber ihr behauptet überall, die Religion ist eine Privatangelegenheit der Bürger, und alle besitzen die gleichen Rechte, ungeachtet ihrer Weltan­schauung. Wie schön ist eure Propaganda, und wie häßlich ist die Wirk­lichkeit des Lebens! Die Untersuchungsrichter beachteten das Vergehen des Direktors der Mittelschule von N. Akmenė, Kuprys, und der Mitglieder der Unterrichtsabteilung nicht, als diese die Lehrerin deswegen entließen, weil sie während eines Ausfluges mit Schülern nach Kaunas in der Park­anlage, in der Romas Kalanta sich verbrannte, eine Toilette aufsuchte (sie­he „Chronik der LKK" Nr. 10 — Anm. der Red.). Welches Verbrechen! Die Lehrerin ist nun für die Erziehungsarbeit ungeeignet!? Es ist doch lächerlich, daß das Gespenst von Romas Kalanta euch immer noch schreckt. Aber was kann die Lehrerin dafür?

Die Untersuchungsrichter verwarnten nicht einen Oberarzt, wenn ein sol­cher, unter Mißbrauch seiner Stellung, den Sterbenden den Dienst eines Priesters verweigerte, obwohl die Kranken und ihre Angehörigen darum gebeten hatten. Sogar den Verbrechern wird ihre letzte Bitte erfüllt. Ihr aber wagt, die heiligsten Gefühle eines Menschen im schwersten Moment seines Lebens — in seiner Todesstunde — zu verhöhnen, und wie Räuber beraubt ihr moralisch Tausende von Gläubigen. Das ist eure kommunisti­sche Moral und Ethik!

In Kauno Tiesa (Kaunas Wahrheit) verleumdete der Dozent der Universi­tät Vilnius, Augus, Papst Paul VI., den verstorbenen Bischof Būčys, die Priester Laberge und Račiūnas in gröbster Weise (s. „Chronik der LKK" Nr. 10. — Anm. d. Red.). Wann wurde diese abscheuliche Ver­leumdung widerrufen? Sie wurde nicht widerrufen, denn Lüge und Ver­leumdung ist euer tägliches Brot!

Aufgeschreckt durch die Gedanken des Ingenieurs für Denkmalpflege, Kan­didat der technischen Wissenschaften, Mindaugas Tamonis, habt ihr ihn im psychiatrischen Krankenhaus auf der Vasarosstr. eingesperrt, um ihn von ...seiner Weltanschauung zu „heilen"!

Wer gab den Atheisten das Recht, den Pfarrern vorzuschreiben, welche Priester sie zu Einkehrtagen und Ablaßfesten einladen dürfen und wen nicht? Im historischen Dekret „Uber die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche" steht deutlich, daß sich der Staat in die in­neren Angelegenheiten religiöser Vereinigungen nicht einzumischen hat. Aber in Litauen ist die Kirche vom Staat nicht getrennt, sondern wird von ihm unterjodit. Die Organe des Staates mischen sich in gröbster und un­zulässigster Weise in die innerkirchlichen Angelegenheiten und den kanoni­schen Bereich ein, machen den Priestern nach eigenem Gutdünken Vor­schriften und bestrafen sie ohne Rücksicht auf die Gesetze. Diese und Hunderte anderer Tatsachen bezeugen, daß das Ziel der Athei­sten, alle geistig zu versklaven, alle Mittel heiligt — Verleumdung, Lüge und Terror!

Und ihr freut euch über euren Sieg? Worüber erhebt sich euer Siegestriumph? Über einem moralischen Trümmerfeld, über Millionen getöteter ungebore­ner Kinder, über erniedrigte Menschenwürde, über jämmerlichen, nichts­würdigen Menschenwesen, angesteckt von Furcht und giftigem Lebenshun­ger. All das sind eure Früchte. Treffend hat Jesus Christus gesagt: „An euren Früchten sollt ihr sie erkennen." Eure Verbrechen schieben euch mit wachsender Geschwindigkeit zum Müllhaufen der Geschichte ab. Gott sei Dank, noch sind nicht alle Menschen gebrochen. Wir haben in der Öffentlichkeit keinen Rückhalt durch Quantität, aber auf unserer Seite steht die Qualität. Ohne jede Rücksicht auf Gefängnisse und Zwangsarbeitsla­ger müssen wir alle Handlungen verurteilen, die Unrecht und Erniedrigung bringen, Ungleichheit und Unterdrückung säen. Im Leben für die Menschen­rechte zu kämpfen ist die heilige Pflicht eines jeden! Ich bin froh, daß mir die Ehre zuteil geworden ist, für die „Chronik der LKK" zu leiden, von deren Wahrhaftigkeit und Notwendigkeit ich überzeugt bin und bleibe bis zu meinem letzten Atemzug. Ihr könnt Gesetze erlassen soviel ihr wollt, aber behaltet sie für euch selbst. Man muß unterscheiden zwischen dem, was Menschen schrieben, und dem, was der Herrgott befohlen hat. Die Steuer an Cäsar ist ein kleiner Rest der an Gott gezahlten Steuer. Das Wichtigste im Leben ist, Herz und Verstand von Furcht zu befreien, denn dem Bösen gegenüber zu kapitulieren, ist ein großes Verbrechen."

Jonas Sadūnas erklärte, er habe die „Chronik der LKK" nicht gelesen und von den beschlagnahmten Sachen seiner Schwester habe er lediglich aus dem Durchsuchungsprotokoll erfahren.

Vladas Sadünas sagte aus, Nijolė habe ihm drei Nummern der „Chronik der LKK" und das Buch Simas gegeben (Publikationen, die bei V. Sadünas während der Haussuchung gefunden worden waren).

Regina Sadūnienė erklärte, Nijolė habe ihr keine „Chronik der LKK" zum Lesen gegeben.

Direktor Povilaitis und die Lehrerin Šlimaitė hatten bei der Voruntersu­chung ausgesagt, der Schüler der achtjährigen Volksschule, Robertas Andri-jauskas, sei zwischen dem 26. und 28. August gestorben, bei der Gerichts­verhandlung behauptete der Direktor jedoch, der Schüler sei am 23. Au­gust gestorben, er sei außerhalb der Schulzeit beerdigt worden und niemand sei daran gehindert worden, an seinem Begräbnis teilzunehmen. Er hätte die Schüler niemals terrorisiert und sie auch nicht zum Beitritt in die Pionier-und Komsomol-Organisation gezwungen (siehe „Chronik der LKK" Nr. 8). Kušleika bezeugte, daß sein Sohn Bronius gewaltsam in die Pionier-Orga­nisation eingeschrieben werden sollte und deshalb aus dem Lehrerzimmer nach Hause gelaufen sei (siehe „Chronik der LKK" Nr. 11). Bronė Kibickaitė verneinte die Behauptung des Gerichtes, Nijolė Sadū­naitė habe ihr die „Chronik der LKK" und Patarimus kaip laikytis tardymo metu (Ratschläge, wie man sich bei Verhören verhalten muß) zu lesen ge­geben.

Auf die Frage des Richters:

„Als gute Freundinnen seid ihr wohl auch gemeinsam zur Kirche gegan­gen?" erklärte B. Kibickaitė, diese Frage habe mit dem anstehenden Pro­zeß nichts zu tun. Daraufhin erhob der Richter seine Stimme und sagte:

— „Wenn ich frage, müssen Sie antworten!"

Hier schaltete sich die Angeklagte ein:

— „Ganz richtig! Sie haben kein Recht, zu schnüffeln. Der Glaube ist eine individuelle Angelegenheit!"

Nach der Zeugenbefragung folgte eine Pause von zehn Minuten. Dann wur­den die Zeugen wieder in den Gerichtssaal gebeten und der Richter fragte Nijolė Sadūnaitė, ob sie an die Zeugen keine Fragen zu stellen habe. Die Angeklagte erklärte, die Zeugen hätten das Recht, bis zum Schluß des Pro­zesses im Gerichtssaal zu bleiben.

— „Wir haben Gesetze!" — unterbrach der Richter.

— „Das ist Willkür! Lesen Sie doch, was dort geschrieben steht", sagte die Angeklagte, mit einer Handbewegung auf ein beim Richter liegendes Büchlein. — „Die Zeugen haben das Recht, beim Gericht zu verbleiben bis zum Schluß."

— „Ich verbitte mir die Gerichtsbeleidigung", schrie der Richter, drohte Sadūnaitė abführen zu lassen und den Prozeß in ihrer Abwesenheit zu be­enden. Den Zeugen wurde befohlen, den Gerichtssaal zu verlassen.

Der Staatsanwalt Bakučionis beantragte für Nijolė Sadūnaitė vier Jahre Freiheitsentzug unter Strafverbüßung in Lagern verschärften Regimes und fünf Jahre Verbannung.

Am 17. Juni nahm das Gericht die Verhandlung wieder auf. Zusdiauer wurden zum Gericht wiederum nicht zugelassen.

Das Schlußwort von Nijolė Sadūnaitė

„Heute ist der glücklichste Tag meines Lebens", sagte die Ange­klagte. — „Ich werde verurteilt wegen der ,Chronik der LKK', die gegen die physische und geistige Versklavung kämpft. Das bedeutet, daß ich ver­urteilt werde wegen Wahrheit und Menschenliebe! Was kann es im Leben Wichtigeres geben, als die Menschen, ihre Freiheit und Ehre zu lieben. Die Liebe zu den Menschen ist die höchste Liebe, und der Kampf für die Men­schenrechte ist das schönste Liebeslied. Möge dieses Lied in allen Herzen er­klingen und niemals enden! Mir ist ein beneidenswertes Los, ein ehrenvol­les Schicksal zuteil geworden — nicht nur für die Menschenrechte und die Gerechtigkeit zu kämpfen, sondern auch dafür verurteilt zu werden. Meine Strafe wird mein Triumph sein! Nur bedauere ich, daß ich so wenig für die Menschen tun konnte. Mit Freuden gehe ich in die Sklaverei für die Freiheit anderer und bin bereit zu sterben, damit andere leben. Heute stelle ich mich an die Seite der ewigen Wahrheit — Jesus Christus, eingedenk seiner vier­ten Seligpreisung: ,Selig die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden!' Wie soll man sich nicht freuen, da der Herr­gott selber sagte, daß das Licht die Finsternis und die Wahrheit den Irr­tum und die Lüge besiegen werden! Und damit das schneller geschieht, bin ich nicht nur zur Gefangenschaft, sondern auch zum Sterben bereit. Euch aber will ich an den Spruch des Dichters Lermontov erinnern: ,Und trotz allem: es gibt ein gerechtes Gericht Gottes!' Gott gebe, daß das Urteil die­ses Gerichtes für uns alle gnädig sei. Darum werde ich für euch alle zum lieben Gott beten, jeden Tag meines Lebens. Ich möchte mit einigen Versen, die im Gefängnis entstanden sind, schließen:

Je schwerer der Weg, den du gehen mußt,

um so stärker spürst du das Leben.

Wir müssen brennen vom Drang nach Gerechtigkeit,

das Böse besiegen, sei es auch noch so schwer.

Kurze Erdentage sind zum Ausruhen nicht,

sie sind zum Kampf um vieler Herzen Glück.

Und nur wer alles im Kampfe einsetzt

wird spüren, daß den geraden Weg er geht.

Keiner kann größeres Glück erfahren,

als die Bereitschaft, für die Menschen zu sterben.

Dann ist ein hehrer Feiertag im Herzen,

nicht Gefängnis und Lagerkälte können ihn trüben!

Deshalb laßt uns einander lieben und wir werden glücklich sein. Unglück­lich ist nur der, der nicht liebt. Gestern wart ihr über meine Gelassenheit in einer solch schweren Stunde erstaunt. Das ist der Beweis dafür, daß in meinem Herzen die Liebe zu den Menschen brennt, denn nur für den Lie­benden wird alles leicht! Das Böse müssen wir mit aller Schärfe verurteilen, aber den Menschen, auch den irrenden, müssen wir lieben. Das kann man aber nur in der Schule Jesu Christi lernen, der allein für alle der Weg, die Wahrheit und das Leben ist. Guter Jesus, dein Reich komme in unser aller Herzen!

Das Gericht möchte ich bitten, alle Menschen, die für die Menschenrechte und die Gerechtigkeit kämpfen, aus den Gefängnissen, Lagern und psychia­trischen Krankenhäusern zu entlassen. Damit könntet ihr euren guten Wil­len zeigen, und es wäre ein schöner Beitrag zu größerer Harmonie und Güte im Leben, und der schöne Spruch: ,Ein Mensch ist des anderen Bruder' würde Wirklichkeit werden."

Das Gerichtsurteil

In der Nachmittagssitzung erfolgte die Urteilsverkündung. Nijolė Sadūnaitė wurde gemäß Strafgesetzbuch der Litauischen SSR, Arti­kel 68, Teil 1, der Vervielfältigung und Verbreitung der „Chronik der LKK" angeklagt und zu Freiheitsentzug von drei Jahren, Verbüßung der Strafe in einem Lager mit strengem Regime und zu Verbannung von drei Jahren verurteilt.

Nach der Urteilsverkündung fragte Nijolė Sadūnaitė das Gericht: „Warum habt ihr mich nur so gering bestraft?"

Laut Gerichtsbeschluß wurde die Schreibmaschine von N. Sadūnaitė konfis­ziert.

Am Nachmittag des 20. Juni 1975 nahmen die Beamten des Sicherheits­dienstes N. Sadünaite alle Notizen ab und deportierten sie nach sehr sorg­fältiger Durchsuchung in ein Lager mit folgender Adresse: Mordovskaja ASSR, pos. Javas, učr, z x — 385/3.

Nijolė wurde 1938 in Dotnuva geboren. Ihr Vater war Dozent an der landwirtschaftlichen Akademie. Die tiefgläubigen Eltern gaben sich alle Mühe, ihre Tochter gut zu erziehen.

1955 beendete sie die Mittelschule in Anykščiai. Obwohl die gläubigen Schüler in der Schule diskriminiert wurden, fehlte Nijolė an keinem Sonn­tag in der hl. Messe. Wenn bei Schulausflügen Kirchen besucht wurden, brachte Sadūnaitė den Mut auf, in Gegenwart von Schulkameraden und Lehrern niederzuknien und das Allerheiligste Sakrament anzubeten. Fünf Jahre lang pflegte Nijolė ihre kranke Mutter, die 1970 starb. Ihr Vater starb 1963. Einige Jahre hindurch pflegte sie Herrn Kanonikus P. Rauda sorgfältig. Das Leid eines jeden Menschen fand ein Echo in Nijoles Herzen.

Ihre eigenen Bedürfnisse bemühte sich Nijolė Sadūnaitė auf das Minimum zu reduzieren, um so den anderen helfen zu können. Manchmal gab sie so­gar das Allernotwendigste an andere ab.

Am 20. April hatte Povilas Petronis seinen Inhaftierungsort erreicht. (Zu seinem Prozeß s. „Chronik der LKK" Nr. 13.) Seine derzeitige Adresse: Mordovskaja ASSR, 431200 Tengusevskij raj., pos. Barasevo, ucr. zx 385/ 3—5.

Der am 17. März 1975 verurteilte Juozas Gražys (siehe „Chronik der LKK" Nr. 16) ist im Gebiet Perm eingekerkert: Permskaja obl., Cusovskij raj., pos Kucino, ucr. v s 389/36.

Am 2. Mai 1975 begann Virgilijus Jaugelis im Gefängnislazarett von Lu-kiškiai einen Hungerstreik, weil die Staatsanwaltschaft der UdSSR auf seine Eingabe nicht reagiert hatte (siehe „Chronik der LKK" Nr. 16). Am 7. Mai 1975 wurde Virgilijus wegen schwerer Krankheit entlassen und in sehr schwachem Zustand mit dem Auto nach Hause gebracht. Am 20. Juni 1975 durfte er sich in der onkologischen Klinik von Kaunas einer schweren Darmoperation unterziehen, nach der er im besten Falle Invalide bleiben wird.

Zur Zeit stellen die Katholiken Litauens eine begründete Frage: Ist ein Dialog mit denjenigen überhaupt möglich, die nur Lüge und Gewalt gelten lassen, die die besten Söhne und Töchter Litauens physisch vernich­ten?

Vilnius

Am 7. April 1975 wurde bei einer Vilnaer Ärztin, Jadvyga Lapienytė (Tiltostr. 12—6), eine Hausdurchsuchung vorgenommen, geleitet vom Major des Sicherheitsdienstes, Markevičius. Die Beamten des Sicherheitsdienstes suchten nach „antisowjetischer" Literatur, konnten aber nichts finden. Das anschließende Verhör dauerte noch fünf Stunden an, wobei die Ärztin J. Lapienytė über die verhaftete Nijolė Sadūnaitė ausgefragt wurde. Die Ver­nehmungsbeamten zeigten sich erstaunt darüber, daß eine Ärztin mit akade­mischer Bildung gläubig sein könne . . .

Kurz nach Ostern 1975 wurde der Pfarrer von Kabeliai (Rayon Varena), J. Lauriūnas, vom Sicherheitsdienst in Vilnius vorgeladen. Während des

Gespräches erklärte man ihm, daß die „Chronik der LKK" der katholi­schen Kirche in Litauen nicht nützen, wohl aber ihr schaden könne.

Ignalina

Nach Ostern wurde auch der Pfarrer von Ceikiniai, H. Herr K. Garuckas, vom Sicherheitsdienst in Vilnius vorgeladen. Wegen seines hohen Alters lehnte er die Reise ab. Daraufhin kamen die Beamten des Sicherheitsdien­stes nach Ignalina und „belehrten" den Pfarrer Garuckas über den von der „Chronik der LKK" ausgehenden Schaden .. .

Vilnius

Der Bevollmächtigte des Rates für religiöse Angelegenheiten, K. Tumenas, verlangte von Bischof L. Povilonis, er solle sich dafür einsetzen, daß die „Chronik der LKK" ihr Erscheinen einstellt. Der Bischof soll geantwortet haben, daß er das Erscheinen der Chronik nicht veranlaßt habe, und daß er nichts unternehmen könne. Uber diese passive Haltung des Bischofs sei der Bevollmächtigte sehr ungehalten gewesen.

Kaunas

Am 3. März 1975 wurde der Ingenieur Vytautas Vaičiūnas vom Komitee des Sicherheitsdienstes vorgeladen. Da Vaičiūnas die in den Briefkasten eingeworfene Vorladung mit Verspätung vorgefunden hatte, war er beim Sicherheitsdienst nicht erschienen. Nach einer gewissen Zeit bekam er vom Sicherheitsdienst mehrere Telefonanrufe und wurde „wegen alter Rech­nungen" zum Erscheinen aufgefordert. Vaiciūnas antwortete, der Prozeß sei vorüber und alte Rechnungen gäbe es keine mehr. „Für Sie ist er noch nicht vorüber", erklärte der Sicherheitsbeamte. Vaičiūnas erwiderte, er werde nur dann kommen, wenn ihm eine amtliche Vorladung zugestellt würde.

Am 12. Mai erschien Ingenieur Vaiciünas beim Sicherheitsdienst in Kaunas, wo er wegen seines Briefes in der „Chronik der LKK" mit Vorwürfen überschüttet wurde (s. „Chronik der LKK" Nr. 15). Der Untersuchungs­beamte des Sicherheitsdienstes wollte Vaiciünas veranlassen, eine Verwar­nung zu unterschreiben, die beinhaltete, daß er dem Staatsverbrecher P. Petronis in seinem Hause Unterkunft gewährt, diesem und Plumpa zum Erwerb der „ERA" verholfen und mit Motorradfahrten an den Verbrechen des Petronis teilgenommen habe. Wenn ähnliche Tätigkeit nicht aufhöre, werde er dafür bestraft. Vaičiūnas verweigerte die Unterschrift und er­klärte, man werde ihn ja wohl auch ohne Unterschrift bestrafen können.