Tiesa-Bericht über die französischsprachige und englischsprachige Darstellung der Lage der Katholischen Kirche in Litauen: Die Moskauer französische Wochenschrift Les Nouvelles de Moscou — Nr. 31, vom 31. Juli 1976 —und die englische Moscow News vom 12. Juni 1976 — brachten ein Inter­view mit dem Rektor des Priesterseminars Kaunas, Dr. V. Butkus, zum Thema „Die römisch-katholische Kirche in der Sowjetunion". Dies ist nicht das erste Interview, das Dr. V. Butkus der Atheistenpresse gibt. Die für Amerika bestimmte (Kommunistenpublikation) Laisve (Freiheit) brachte bereits am 31. Dezember 1965 ein Interview in bescheidener Form, mit entsprechenden Weglassungen. Das Moskauer Interview ist schon erheb­lich mutiger und mit zahlreichen „Wahrheitsperlen" geschmückt. Man darf wohl annehmen, daß hier — wie bei uns üblich — gleich zwei Autoren am Werk waren. Zweifellos hat der Zeitungsredakteur die Erklärungen des Dr. V. Butkus entsprechend „verbessert". Und im Sinne der Wahrhaftigkeit ist der Artikel wirklich ergänzungs- und präzisierungsbedürftig.

1.        Da lesen wir:

„Jedem Bürger steht es frei, eine Kirche zu besuchen . . ." Sicher darf er das, nur werden ihn entsprechende Dienststellen hinterher „umerziehen". Sollte er gar einen führenden Posten bekleiden, werden Auswirkungen auf das Be­rufsleben wohl unvermeidlich sein, und der Titel eines „Finsterlings" wird ihm unbedingt angehängt werden. Warum ersuchen eigentlich so viele Leute um religiöse Dienste nur bei Nacht und streng geheim!? Warum verwahren sie sich unbedingt dagegen, daß religiöse Eheschließungen und Taufen in die offiziellen Tauf- und Trauregister der Gemeinden eingetragen werden!? Warum verlangt man von manchen Priestern — im Rayon Varena (Komitee­vorsitzender J. Visockas) sogar von allen Priestern — eine Vorlage der Bücher über geleistete religiöse Dienste bei den Exekutivkomitees? Dasselbe verlangt übrigens auch die Staatsanwaltschaft.

2.        Wir lesen:

Es stehe jedem frei: „sein Haus mit einem Kreuz oder beliebigen religiösen Bildern zu schmücken". Schmücken ist erlaubt, nur kann es unangenehme

Folgen haben. Warum verbirgt man denn sonst Gebetbücher, religiöse Lite­ratur, selbst Zierkreuzchen ängstlich vor fremden Augen? Warum beginnen Geheimdienstangestellte, sobald sie während einer Haussuchung bei Laien religiöse Literatur finden, die Inhaber alsbald zu beschimpfen!? Warum wird bei Durchsuchungen gefundene religiöse Literatur sofort konfisziert!? Warum wird so eifrig danach geforscht, wo einer wohl religiöse Bildchen erworben hat?

Am 30. September 1974 wurde Fräulein V. Vertelkaitė, Obererzieherin in der Kinderkrippe Nr. 32, Vilnius, von der vorgesetzten Bildungsabteilung vorgeladen. Man wollte sie wegen aktiver Religiosität entlassen und ver­suchte sie zur Unterzeichnung einer Erklärung zu zwingen, daß sie auf — an­geblich — eigenen Wunsch ausscheide. Sie weigerte sich und erklärte: „War meine Arbeit schlecht — so beweisen Sie es, war sie gut —warum wollen Sie mich zwingen, auszuscheiden!?" Der Leiter der Bildungsabteilung, J.Kazlaus­kas, gestand offen: „An Ihrer Tätigkeit ist nichts zu beanstanden . . .", doch warf ein anderer Vorgesetzter ein: „... in ihrem Zimmer aber hat sie sich einen Altar aufgebaut!" Daraufhin wurde eine Dreierkommission aus den Frauen Cakatauskienė, Kepalienė und V. Nugarienė gebildet, die, ohne viel zu fragen, zur Wohnung von Fräulein Vertelkaitė fuhren und nach „Uber­prüfung" feststellten, es gebe dort Zeichen der Religiosität. Da Fräulein Vertelkaitė sich weiter weigerte, die gewünschte Erklärung ab­zugeben, versuchte man, sie „umzuerziehen" und zur Unterschrift zu über­reden. Schließlich drohte man ihr mit Arbeitsentlassung nach Artikel 263 § 3 —„amoralisches Verhalten".

3. Wir lesen:

Es stehe jedem frei, „Gebetbücher, Bibeln und andere religiöse Schriften zu erwerben". Dr. V. Butkus hätte lieber verraten sollen, wie ein Gläubiger während der 30jährigen Sowjetherrschaft in Litauen Gebetbücher, Bibeln und andere religiöse Schriften, z. B. Katechismen, kaufen konnte! In welchen Buchhandlungen werden diese wohl verkauft? Es trifft sicher zu, daß manche solche Literatur besitzen, nur ist sie illegal erworben. Die Mehrzahl der vor­handenen Gebetbücher wurde illegal hergestellt, was strafbar ist. Das unter der Sowjetmacht herausgegebene „Neue Testament" besitzt hohen Selten­heitswert, und die Gläubigen konnten es gebührend bewundern — im Fern­sehen. Welche „anderen religiösen Schriften" es sonst noch gibt, weiß anschei­nend nur Dr. V. Butkus allein. Warum werden selbst Devotionalienhänd­ler auf kirchlichem Gelände festgenommen und in Polizeiautos abtranspor­tiert — wie neulich in Nemenčine, anläßlich der Spendung des Sakraments der Firmung durch den Administrator des Erzbistums Vilnius (18. Januar 1976).

4. Wir lesen:

„Sowjetische Gesetze garantieren den Gläubigen den Schutz aller ihrer Rechte." Haben gläubige Eltern etwa das Recht, ihre Kinder davor zu schüt­zen, daß man sie zwangsweise zu Atheisten macht, daß man religiös ein­gestellte Kinder verhöhnt!? Hat ein Gläubiger wirklich das Recht, das Grab eines verstorbenen Angehörigen mit einem religiösen Symbol oder Denkmal zu schmücken? Die Werkstätten dürfen solche Denkmäler nicht herstellen, den Architekten wird untersagt, die Errichtung solcher Denkmäler zuzulas­sen. Welches Recht haben die Gläubigen wohl, sich gegen verleumderische Artikel zu wehren, die Tatsachen verdrehen und kirchliche Lehren verzer­ren? In welcher Zeitung können sich Gläubige rechtfertigen oder verteidigen? Hat ein gläubiger Künstler gar ein Recht, Werke religiöser Thematik zu schaffen? Warum müssen Autoren religiöser Werke ihren Namen ängstlich verschweigen? Warum werden Künstler, die es wagen, Werke religiösen In­halts zu schaffen, aus dem Künstlerverband ausgeschlossen — wie z. B. im Falle A. Chmieliauskas, der auf einer Internationalen Exlibris-Ausstellung in Italien 1976 mit Preisen ausgezeichnet wurde?

Darf ein gläubiger Sänger in seiner Kirche singen? Warum dürfen weder Musikstudenten noch Berufsmusiker in Kirchen spielen? Warum werden Stu­denten, die in Kirchen zu singen wagten, vom Konservatorium verwiesen (s. den Fall J. Matulionis)? Darf ein Lehrer zur Kirche gehen? Wieviel Lehrer gibt es doch, die sich wegen eines wagemutigen Kirchgangs hinterher schrift­lich rechtfertigen mußten? Warum wurde die Lektorin des Tallat-Kelpsa-Musiktechnikums in Vilnius, Fräulein A. Kezyte, Inhaberin mehrerer Belo­bigungsdiplome, 1975 aus ihrer Arbeit entlassen? Sie konnte sich auf kein Gesetz berufen, das vor Entlassung wegen religiöser Überzeugung schützen würde! Und es gibt heutzutage viele solcher Entlassungen.

5. Zur Frage, „ob die Zahl der katholischen Geistlichen unter der Sowjet­macht zurückgegangen" sei, lesen wir als Antwort: „die Zahl der Priester ist heute etwas geringer, vor allem weil etliche der Kultdiener Litauen während des Zweiten Weltkrieges verlassen haben". Nach dreißig Jahren sind selbst von den Priestern, die Litauen verlassen haben, wohl nur noch wenige am Leben. Die verminderte Zahl hat andere Gründe, die Dr. V. Butkus ver­schweigt, darunter: a) eine bedeutende Anzahl von Priestern wurde, wie viele andere Mitglieder des Volkes, dem Archipel Gulag geopfert; b) die atheistische Staatsmacht läßt nicht zu, daß genügend Geistliche herangebildet werden, die Zahl der Studienkandidaten wird begrenzt, die Aufnahme Stu­dienwilliger erschwert. Trotz „Garantie durch Sowjetgesetze" haben die Gläubigen kein Recht auf eine ausreichende Anzahl von Priestern, umgekehrt haben auch studienwillige Jugendliche, die sich zum Priesteramt berufen füh­len, kein Recht auf freien Antritt des Studiums. Sie müssen jahrelang warten, wenn sie nicht überhaupt von der Kandidatenliste gestrichen werden. Warum erwähnte Dr. V. Butkus eigentlich mit keinem Wort, welchen Kreuzweg die Studienkandidaten des Priesterseminars durchpilgern müssen? Alle werden vom Staatssicherheitsdienst genötigt, für den Geheimdienst zu arbeiten, d. h., mit der einen Hand die Kirche zu bauen und sie mit der anderen zu zerstö­ren. Und das sollte der Rektor des Priesterseminars nicht wissen? Sollte er, der Moraltheologie unterrichtet, nicht wissen, daß die Aussage eines Teils unwesentlicher Wahrheiten, bei Verschweigen der wirklich schmerzhaften Tatsachen, einer wissentlichen Irreführung der Weltöffentlichkeit gleich­kommt?

6.        Wir lesen:

„Die Regierung Sowjetlitauens hindert die Verwalter dieser Bistümer nicht an der Ausübung ihrer Ämter." Wie steht es eigentlich um die Amtsausübung der Bischöfe J. Steponavičius und V. Sladkevičius? Sie sind verbannt. Dür­fen dann wenigstens die eingesetzten Administratoren in Freiheit die Ge­meinden aufsuchen (seit 32 Jahren wird ihnen dies Recht verweigert), oder dürfen sie nach freiem Ermessen Gemeindepfarrer einsetzen und Professoren für Seminare ernennen? Dürfen sie wirklich frei und unbehindert das Sakra­ment der Firmung spenden!? Das ist nach den kanonischen Bestimmungen schließlich ihre Pflicht. Richtig, ihnen wird gestattet, das Sakrament der Fir­mung zweimal im Jahr in den Pfarrgemeinden zu spenden — doch das ist zu wenig — es herrscht ein zu großer Andrang, für die Menschen ergeben sich große Ungelegenheiten.

7.        Wir lesen:

„Ein Meßbuch, die ,Psalmen' und das ,Neue Testament' wurden heraus­gegeben." Ein kleiner Fehler: kein Meßbuch, sondern ein Gebetbuch wurde herausgegeben, nur — wie viele Menschen haben die Bücher überhaupt zu sehen bekommen?

8.        Dr. V. Butkus erwähnt wiederaufgebaute und reparierte Kirchen, schweigt sich aber darüber aus, wie viele Kirchen nicht wiederaufgebaut, ja geschlossen und entweiht wurden. Die Gemeinde Kučiūnai, im Rayon Lazdijai, wollte den Bau ihres Gotteshauses beenden — man ließ es nicht zu. In Ignalina versuchten die Gläubigen, ihre in ein Klubhaus umgewandelte Kirche zurückzubekommen — vergeblich. Übrigens, soweit Kirchen wiederaufgebaut wurden, geschah dies mehr unter Störmanövern statt mit Hilfe der Staatsbediensteten.

9.        Auf die Frage, ob die katholische Kirche Litauens Priester heranbilden könne, ergeht die Antwort: Die Leitung und Professur des Priesterseminars würden von den Ordinarbischöfen ernannt, unerwähnt bleibt dabei die Voraussetzung — Bestätigung durch die Atheisten. Kein Wort der Erklärung, daß der Rektor des Seminars kein Recht hat, Studienkandidaten nach freiem Ermessen aufzunehmen — die Aufnahme ist ein Gnadenakt der Atheisten (Geheimdienst, Bevollmächtigte des Rates für religiöse Angelegenheiten usw.). Ebenfalls unerwähnt bleibt auch die Tatsache, daß nicht etwa Personen, die den Ordinarien genehm sind, als Professoren des Seminars bestellt werden, sondern nur solche, die sich der Gunst des Geheimdienstes erfreuen. Warum gibt es im Personalbestand des Lehrkörpers so viele Umbesetzungen? Warum werden laufend Professoren aus ihren Ämtern entfernt, obwohl sie sich laut Brief des Dr. V. Butkus an die Zeitung Laisve vom 31. Juli 1965 durch „große Tugend und Erudition" auszeichnen!? Hier wird sichtbar, daß die Ordinarien eben keinerlei Rechte besitzen und die katholische Kirche in Litauen keine Möglichkeit hat, eine ausreichende Anzahl und Auswahl von Priestern heranzubilden, wie sie es gerne möchte.

Manche Priester in Litauen, die zur Teilnahme an der Berliner Friedenskon­ferenz 1966 befohlen waren, können sich noch sehr gut an die Antwort von Dr. V. Butkus auf die Frage eines Kirchenrektors aus Leipzig erinnern. Auf die Frage: „Wieviel Theologiestudenten haben Sie denn?", lautete die Ant­wort: „26". Der deutsche Gesprächspartner verwunderte sich: „Bei sechs Diö­zesen? Warum denn so wenig?" — Die Antwort lautete: „Uns genügt's." Worauf sich der deutsche Priester abwandte und das Gespräch mit den litau­ischen Geistlichen abbrach. Man muß sich ernsthaft fragen, ob Dr. V. Butkus selbst zum Kreis jener gehört, die sich durch „große Tugend und Erudition" auszeichnen und aus deren Mitte die leitenden Persönlichkeiten des Seminars erwählt werden. Lügen ist kein Anzeichen großer Tugend. Es sieht nicht so aus, als hätten die Ordinarien Dr. V. Butkus ausgewählt.

10.        Wir lesen:

„Vertreter unserer katholischen Kirche unternehmen Pilgerfahrten und be­suchen verschiedene katholische Kirchen des Auslands." Nicht gesagt wird, daß sich daran nur von den Atheisten approbierte Personen beteiligen dür-den. Warum eigentlich dürfen die Gläubigen aber in Litauen selbst nicht frei und unbehindert zur Kirche gehen — warum dürfen für Pilgerfahrten zu den Wallfahrtsorten Šiluva und Žemaičiu Kalvarija keine öffentlichen Transportmittel benutzt werden? Warum werden Chauffeure unter Drohung gewarnt, Pilger an ähnliche Orte zu befördern!? Warum wurde am 15. Juni 1976 der Fahrer verhaftet, der Menschen zur Kirche in Vidiškiai, Rayon Ignalina, transportiert hatte, die dort einer Primizfeier beiwohnen wollten!?

Warum wird Pfarrern im Todesfall nicht einmal das Recht auf eine normale Bestattung wie sonstigen Sowjetbürgern eingeräumt!? Warum verweigert man die Stellung von Transportmitteln zur Beförderung der sterblichen Uberreste!? So geschah es bei der Bestattung von Pfarrer E. Basys in Dukštas 1975, ebenso bei der Beerdigung von Pfarrer Z. Neciunskas in Kalviai 1976. Zum Abschluß dieser Anmerkungen sei auf jenes wahre „Juwel an Wahrhaf­tigkeit" am Ende des Interviews hingewiesen, das keiner der früheren Alum­nen des Dr. V. Butkus und keiner der Gläubigen ohne tiefen Seelenschmerz lesen kann:

„Abschließend möchte ich sagen, daß all dies die Erfindungen der reaktio­nären Presse des Auslands zerstört, in der die Lage der katholischen Kirche in Litauen und anderen Sowjetrepubliken in einem falschen Licht dargestellt wird."

„Wie man sieht, ist die Situation der katholischen Kirche in Litauen und an­deren Sowjetrepubliken dem Bild, das ein Teil der Westpresse zeichnet, gänzlich unähnlich."