Am 28. Juni 1978 erhielt Frl. Irena Dumbrytė eine Mitteilung von der Adresse: Mordovskaja ASSR, Zubovo-Polianski Rayon, pos. Sosnovka UC ZX 385/1. Unterschrift der Mitteilung — Lagerchef A. A. Satajev und Bürochef V. S. Da-vidov. Inhalt der Botschaft — Registrierung der Eheschließung der I. Dumbrytė mit Balys Gajauskas findet am 22. Juli 1978 statt. Falls zeitiges Erscheinen nicht möglich, rechtzeitig Mitteilung erbeten.

Am festgesetzten Tage erschien in Sosnovka Frl. Irena Dumbrytė in Begleitung von Pfarrer Zdebskis und ihrer Schwester L. Šulskienė. Als Katholikin wünsch­te Irena Dumbrytė eine Bekräftigung der standesamtlichen Eheschließung durch eine kirchliche Trauung, zu der es zweier Zeugen bedarf. So erfüllte sie auch den Wunsch von Balys, daß ein Priester an der Zeremonie teilnehme. Nach Ankunft wurde der Spezialabteilung mitgeteilt, man sei zur Eheschießung bereit. Von dort erging Gegenbescheid, die genaue Uhrzeit der Zeremonie werde telefonisch dem Wohnheim gemeldet, in dem Frl. Dumbrytė untergekommen war. Dort wartete man den Tag hindurch vergeblich. Am Morgen des 27. meldete sich Ire­na Dumbrytė daher persönlich bei der Spezialabteilung. Dort verlautete, man habe leider keine Telefonverbindung mit Javas bekommen, sie möge daher ins Heim zurückkehren und warten. Um 15 Uhr wurde die Wartende dann ange­wiesen, sich zum Lagertor zu begeben. Hier warteten dann Irena Dumbrytė, ihre Schwester Laima und Pater J. Zdbeskis eine weitere halbe Stunde. Als Frl. Irena Dumbrytė am 5. Juni ihre Dokumente zur Spezialabteilung ge­bracht hatte, war ihr erklärt worden, sie könne mit zwei Zeugen zur standesamt­lichen Registration ihrer Eheschließung erscheinen. Jetzt gestattete man den Zeugen erst gar nicht, das Gebäude des Standesamts zu betreten. Die Registrationsprozedur dauerte 10—15 Minuten. Alle Dokumente lagen be­reits zur Unterschrift bereit. Erst führte man Irena Dumbrytė ins Zimmer, spä­ter B. Gajauskas. Letzterer erschien in gestreiftem Lagerdreß, zerrissenen Schu­hen, kahlgeschoren und bezeichnete seinen Aufzug als »Ausgehanzug«. Die Braut war in weißem Brautkleid erschienen.

Bei der vorbereitenden Ausfertigung der Dokumente war den Brautleuten eine dreitägige persönliche Begegnung zugesagt worden. Doch noch vor Beginn der Eheschließungszeremonie erklärte der Lagerleiter, es werde keine solche persön­liche Begegnung geben, denn Balys habe bereits am 6. Juni eine persönliche Be­gegnung gehabt — ein zweitägiges Treffen mit seiner Mutter (drei Tage sind er­laubt). Ein weiterer Termin komme nicht in Frage. Wegen eines gemeinsamen Beisammenseins müsse man noch beraten und werde morgen Bescheid geben. Am morgigen Tage fuhr Frau Dumbrytė-Gajauskienė zu dem stellvertretenden Leiter der Lagerverwaltung, Novikov, nach Javas. Dieser eröffnete ihr grob, es werde kein Treffen geben, außerdem betreffe die Sache gar nicht sie, sondern Balys. Um ihre Tränen nicht zu zeigen, lief Frau Gajauskienė aus dem Dienst­zimmer. Nach Sosnovka zurückgekehrt,ging Frau Gajauskienė wegen des Tref­fens zum Lagerleiter Nekrasov, schrieb eine Erklärung und wartete zwei Stun­den am Lagertor, bis eine Aufsichtsperson des Lagers geruhte, das Schriftstück in Empfang zu nehmen. Nach mehreren Stunden wurde Frau Gajauskienė die Genehmigung eines zweistündigen Zusammenseins mit ihrem Mann mitgeteilt, und sie habe um 15.30 Uhr am Lagertor zu sein.

Als erste wird Frau Gajauskienė in das Besucherzimmer geführt und an einen Tisch am Fenster gesetzt, eine weibliche Aufsichtsperson daneben. Im Abstand von zwei bis 2,5 Meter, am Eingang,befindet sich ein anderer Tisch . . . B. Ga­jauskas wird hineingeführt und an diesen Tisch gesetzt, ein Wachmann des La­gers an seiner Seite. Die Tür zum Korridor bleibt offen, dauernd gehen Men­schen hin und her, um die Aufmerksamkeit abzulenken und keine Konzentra­tion auf ein Gespräch zuzulassen. Ein persönliches Treffen erhoffend, hat Frau Irena ihre Handtasche mitgenommen; sie wird ihr weggenommen und erst zu Ende zurückgegeben! Sie hat ferner einige Lebensmittel mitgebracht, sieht jetzt aber keine Möglichkeit, diese zu übergeben. Als sie ihrem Mann davon berichtet und die Unmöglichkeit einer Übergabe erwähnt — schlägt die weibliche Über­wachungsperson hilfsbereit vor — sie selbst könne die Lebensmittel ja überneh­men, zumal im Lager ohnehin ein Mangel an Lebensmitteln herrsche. Doch Ba­lys warnt seine Frau, wenn sie die Lebensmittel an die Wachen übergebe, werde man sie nach einem entsprechenden Paragraphen für mehrere Jahre einsperren — wegen »Spekulation«.

Gajauskas war befohlen worden, bei dem Zusammentreffen nur russisch zu sprechen, obwohl doch er und seine Frau Litauer sind. Die Wachhabenden er­klären, ein litauisch verstehender Zensor könne erst nach einer oder mehreren Wochen gestellt werden. So sind beide gezwungen russisch zu sprechen, und die Bewachung mischt sich laufend in die Unterhaltung ein. Die Neuvermählten dürfen sich zu Beginn und Ende des Treffens nicht einmal die Hand reichen. Ein weiteres Zusammentreffen wird Balys Gajauskas erst in einem Jahr geneh­migt werden. Doch erklärt der Lagerchef bereits vorsorglich, es sei ja möglich, daß der Häftling inzwischen mit Strafen belegt werde, die ein persönliches Tref­fen auch nach einem Jahr verunmöglichen. Diese Art von humanistischem Geist herrscht heute im Dschungel des GULAG. Eine zivile Eheschließung gilt der Kirche als nichtig. Angesichts der obwaltenden Umstände erhielt Pater J. Zdebskis daher die bischöfliche Genehmigung, zuzulassen, daß die Eheleute selbst den Treueeid leisten und die Kommunion zu sich nehmen. Die Eidesfor­mel konnten sie zwar sprechen, doch als Frau Gajauskienė ihrem Mann das Al-lerheiligste reichen wollte, wurde dies von den höhnischen Wachen auslachend verhindert. So endete dies lang erwartete und ersehnte »Zusammensein«. Die Wachen schlössen das Lagertor, doch konnte man durch einen Spalt inmitten des Platzes Balys Gajauskas mit hocherhobener Hand winkend erkennen — da­hinter, ebenfalls winkend, eine Gruppe seiner Freunde — eine Bekundung unge­brochener Moral politischer Häftlinge.