An den Vorsitzenden des Komitees für Staatssicherheit (KGB) Durchschriften an:

Katholisches Komitee zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen, Bischöfe des Erzbistums Kaunas und der Diözese Vilkaviškis

Erklärung

des Gemeindepfarrers von Kybartai Sigitas Tamkevičius, wohnhaft Kybartai, Darvino gatve 12.

Auf der Straße nach Vilnius, unweit der Ortschaft Pircupis, stieß mein PKW am 1. Juni 1978 mit dem motorisierten Rollstuhlfahrzeug des Aleksandras Raz-vinavičius zusammen. Nach Klärung der Umstände befand die Autoinspektion Varėna Razvinavičius schuldig (s. beiliegende Bescheinigung). Nach etwa zwei Monaten erfuhren Mitarbeiter des Komitees für Staatssicherheit von dem Unfall. Nachstehende Einzelheiten über die Tätigkeit dieser Beamten wurden mir von Razvinavičius berichtet, bevor dieser selbst Mitarbeiter des Ge­heimdienstes wurde.

Ich besuchte ihn am 23. August 1978, am selben Tage seiner Vorladung nach Šalčininkai, wo er sich mit einem aus Vilnius angereisten KGB-Beamten traf. Dieser Gast erkundigte sich eingehend nach Einzelheiten des Unfalls und ob ich (Pfarrer T.) nicht etwa die Autoinspektion bestochen habe! Der KGB-Mann forderte Razvinavičius auf, den Schuldspruch der Autoinspektion abzulehnen, gerichtlich Klage zu erheben, mit dem Begehren, daß mir (Pfarrer T.) schuld an dem Unfall gegeben werde. Der KGB-Mann versprach Hilfe und günstigen Aus­gang. Aus seinen Ausführungen zog Razvinavičius den Schluß, das KGB wolle ihn unterstützen, den Prozeß zu gewinnen, denn der Geheimdienst hasse mich (Pfarrer T.). Der Beamte erklärte, ich sei ein höchst gefährlicher Mensch, dem man leider nichts anhängen könne, so daß nur noch eine Kompromittierung möglich sei, denn ich gehörte nun einmal »in Ordnung gebracht« zu werden. Der KGB-Beamte hatte Razvinavičius zu verstehen gegeben, die Richter seien seine guten Bekannten, und er werde den Prozeß schon gewinnen. Auch in der Autoinspektion Varėna werde man alles zugunsten des Razvinavičius »regeln«. Der KGB-Mann gab zu verstehen, aus der Unfallakte der Autoinspektion Varė­na seien bereits einige Seiten verschwunden, und der Geheimdienst befasse sich bereits mit »Regelung der Dokumentation«. Der KGB-Beamte erbot sich sogar, den Text einer Anzeige an das Gericht zu entwerfen, die Razvinavičius dann nur noch zu unterschreiben habe. Er sagte ferner Hilfestellung des KGB bei der So­zialfürsorge zu, wo man eine Bezuschussung bei Anschaffung eines neuen Motor-Rollstuhls befürworten werde. Razvinavičius, der Invalide ist, brauche dann nur 20% des Neupreises von 200 Rubel zu zahlen. Razvinavičius war über die Großzügigkeit des Geheimdienstes natürlich höchst erfreut, doch kamen ihm gleichzeitig auch gewisse Bedenken. Er gab daher keine klare Antwort und erbat Bedenkzeit.

Bereits am nächsten Tag (24. August) suchten KGB-Beamte Razvinavičius in dessen Wohnung auf, inspizierten und fotografierten das beschädigte Unfallge­fährt und ermutigten den Inhaber erneut, die Sache vor Gericht zu bringen. Razvinavičius zeigte mir die vom Chef der Geheimdienststelle Šalčininkai per­sönlich hinterlassene Telefonnummer, die gegebenenfalls anzurufen war. Dermaßen von der Bedeutung des Falles überzeugt, ersuchte mich Razvinaviči­us um Hilfe, das beschädigte Fahrzeug zu reparieren, und bat, die seitens mei­ner Autoversicherung ihm abverlangte Summe von 800 Rubel zu vergüten (ge­nau diese Summe hat mir die Versicherung ausgezahlt). Angesichts der offen­sichtlichen Armut der Familie Razvinavičius und in Erkenntnis der Tatsache, daß der Geheimdienst hier versuchte, einen jungen Menschen zu einer schand­baren Lumperei zu verleiten, derentwegen diesen vielleicht ein Leben lang Ge­wissensbisse quälen würden, gab ich Razvinavičius die Summe von 1400 Rubel zu zahlen. Nach einer persönlichen Aussprache war mir klar, daß Razvinavičius weiter mit den KGB-Beamten Verbindung hielt und mich zu erpressen versuch­te. Deshalb weigerte ich mich, ihm weitere Hilfe zu geben. Inzwischen scheint Razvinavičius beim KGB wieder als »zuverlässig« zu gelten — er arbeitet wieder in seinem geheimnisvollen Betrieb und bereitet sich darauf vor, die Unfallsache vor Gericht zu bringen.

Angesichts der oben geschilderten Tätigkeit von Beamten des Ihnen unterste­henden Komitees protestiere ich gegen den Mißbrauch des Staatskomitees für Staatssicherheit zu Repressionszwecken gegen einen Priester (nach Artikel 246,

Abs. 1 des Strafgesetzbuches droht dem Unfallschuldigen Freiheitsentzug bis zu drei Jahren).

Jedermann ist klar, daß hinter Razvinavičius Beamte des allmächtigen Geheim­dienstes stecken, vor dem die Justiz, die Richter, Staats- und Rechtsanwälte und alle anderen kriechen, die zur Einschüchterung oder Vernichtung der wirklichen oder vorgeblichen Feinde des Geheimdienstes zu mißbrauchen sind.

3. Januar 1979

Pfarrer Sigitas Tamkevičius

Mitglied des Katholischen Komitees zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen

Auszug aus dem Beschluß der Autoinspektion Varėna

»Angesichts der schwerwiegenden Verstöße des A. S. Razvinavičius gegen Arti­kel VI, Abs. 70, § 2 der Straßenverkehrsordnung, in deren Folge Razvinavičius selbst zu Schaden gekommen ist, wird abgelehnt, gegen den Fahrer Tamkeviči­us, S J, ein Strafverfahren einzuleiten, da in dessen Verhalten keinerlei Straffäl­ligkeit zu entdecken ist.

gez. T. Grazevičius, Leutnant der Miliz, Oberinspekteur für Straßenkontrolle

Bestätigt

L. Mališauskas, Oberstleutnant der Miliz, Leiter der Abteilung des Innern (VRS) vom Rayon Varena«

 

Im Februar hat die Staatsanwaltschaft Varėna gerichtliche Klage erhoben. Raz­vinavičius, Pfarrer Tamkevičius und andere Personen wurden als Zeugen ver­nommen.

Man darf also den Ablauf eines Lynch-Verfahrens abwarten, dessen unsicht­bare, doch eigentliche Triebkraft das KGB ist.

Vielleicht handelt es sich überhaupt um Auftakt und Beginn einer Geheim­dienstaktion gegen die Mitglieder des Katholischen Komitees zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen.