Am 16. Juni 1978 fand in der Stadt Kaišiadorys eine Konferenz der Stadt- und Rayonsekretäre der KP Litauens und ideologischer Propagandisten zum Thema »Weitere kommunistische Erziehung der Schaffenden« statt. Es wurde vorwie­gend über zivile Familienbräuche und neue Traditionen gesprochen, die religiöse Sitten und Bräuche ablösen sollen. Reden und Diskussionsbeiträge wurden 1979 in einer von P. Mišutis redigierten Broschüre Medžiga (Materialien) vom »Min-tis«-Verlag in Vilnius herausgebracht. Die Publikation ist für den internen Ge­brauch der Ideologieaktivisten bestimmt, wird öffentlich nicht vertrieben und ist in der geringen Auflage von nur 400 Exemplaren erschienen.

Die Broschüre enthält natürlich nicht das gesamte Material der Konferenz, doch selbst diese Auswahl ist sorgfältig gesichtet. Trotzdem ergibt sich ein Bild dessen, was das ZK zur Zeit beschäftigt und die Propagandadirektiven bestimmt hat. Zum Thema »Ziviles Brauchtum« erklärte der stellvertretende Vorsitzende des Ministerrats, A. Česnavičius: ». . . deren weitere Verbreitung soll dazu beitragen, den Einfluß von Kirche und Religion auf den Menschen zu vermindern und die Formierung einer materialistischen Weltanschauung positiv zu fördern« (S. 3). P. Mišutis zeigt sich besorgt darüber, daß in Litauen immer noch Namenstage ge­feiert werden und fragt: »Lohnt es sich, diese Tradition beizubehalten?« Er schlägt statt dessen vor: »Genügt da nicht der Geburtstag, wo der Anlaß zum Fei­ern klar zutage tritt?« (S. 41). Er möchte die Tradition der Namenstage unter dem Vorwand »unklarer Motivation« ausrotten. Doch hatte er noch kurz vorher ganz offen gesagt: ». . . Namenstage hatten stets eine religiöse Färbung und am aus­giebigsten wurde dabei einzelner >Heiliger< und >Schutzpatrone< gedacht. Auch heute beziehen sich die Namenstage meist auf Namen wie Antanas, Petras, Povi­las, Juozapas, Kazimieras« (Anton, Peter, Paul, Josef, Casimir — S. 41). Die Parteisekretärin des Stadtkomitees Panevėžys, Frl. T. Bitinaitė, sah sich ver­anlaßt, »auf eine Tatsache hinzuweisen, die einem keine Ruhe läßt; man weiß aus der Praxis, daß zivile Zeremonien meist zweimal vollzogen werden. Bei den Ju­gendlichen werden kirchliche Trauungen zur >ungesunden Mode<. Als besonders >schick< und Zeichen der Exklusivität gelten abendliche Trauungen in irgend wel­chen Kirchen am >Haff von Kaunas< (Stausee oberhalb der Stadt — Übs.). Religi­öse Dienstleistungen werden auch von Nichtgläubigen in Anspruch genommen, die damit einer nationalen Sitte zu entsprechen vermeinen« (S. 44). T. Bitinaitė betont weiter: »Es ist besorgniserregend, daß sich eine wachsende Zahl von Men­schen immer mehr für religiöse Reliquien begeistert, diese sammelt, die Wohnun­gen damit dekoriert und meint, es handele sich um nationale Werte. Alte Friedhö­fe sind bereits abgegrast, selbst Kirchen versucht man auszurauben. Man sollte sich ernsthafter mit diesen Kollektionären befassen. Vielleicht würde dann auch die Zahl der Jugendlichen zurückgehen, die mit Halskreuzchen auf den Standes­ämtern erscheinen« (S. 45).

Man möchte die Funktionärin zunächst fragen, wie man eigentlich feststellt, wie nichtgläubig Menschen wirklich sind, die religiöse Dienste in Anspruch nehmen. Zweitens trifft absolut zu, daß die Religion unsere nationalen Traditionen erhält und daß wir uns dieser Wahrheit immer deutlicher bewußtwerden — auch wenn T. Bitinaitė' und andere Kollaborateure religiöse Traditionen zur »ungesunden Mode« erklären. Auch ist es weder »schick« noch Sucht nach Exklusivität, viel­mehr ein Zeichen größerer Vorsicht, wenn weniger mutige Naturen versuchen, Repressalien vorzubeugen. Man höre auf, die Religion zu verfolgen und Gläubige zu quälen, und jede Kirche wird als »schick« und »exklusiv« empfunden werden. Allerdings landet T. Bitinaitė auf dem Niveau absurder Kolportagen, wenn sie be­hauptet, alte Friedhöfe würden ausgerechnet von Andenkensammlern verwüstet. In Litauen tobt sich gegenwärtig unter staatlicher Leitung und Duldung ein ideo­logisches Rowdytum aus. Es wird von Ideologieaktivisten wie T. Bitinaitė noch intensiviert, die sich hier untersteht, üble Schandtaten atheistischer Rowdys harm­losen Sammlern zu unterstellen — womit wohl antireligiöse Aktionen gerechtfer­tigt werden sollen, die nie ohne Nötigung und Gewalttätigkeit vor sich gehen.

Es gehört eine gehörige Portion Unverschämtheit zu der absurden Behauptung, Brautleute schmückten sich beim Gang zum Standesamt mit Kreuzen, die sie vor­her von Friedhöfen und Kirchen gestohlen hätten! Es trifft sehr wohl zu, daß sich Brautleute — und nicht nur diese — mit Kreuzen und anderen religiösen Symbo­len schmücken und weiter schmücken werden — egal ob es T. Bitinaitė nun gefällt oder nicht. Und keineswegs sind alle, die ein Halskreuzchen tragen, deswegen schon gläubige Christen. Doch wird man annehmen dürfen, daß solche Jugendli­chen dem atheistischen Aberglauben noch nicht so verfallen sind, daß sie religiöse Symbole schmähen oder böswillig zerstören. Frl. Bitinaitė und ihren Gesinnungs­genossen kann versichert werden — auch ohne die Kollektionäre wird die Jugend Litauens heute und trotzdem Kreuze tragen. Und es gebe keineswegs weniger reli­giöse Bilder und nationale Symbole in den Privatwohnungen der Bürger, die reli­giöse Würde und nationale Selbstachtung noch nicht verloren haben. Die Konferenz schlug die »Etablierung einer soliden materiellen Basis« vor, um »Eheschließungen in feierlichem Rahmen« vorzunehmen und so »religiöse Ein­flüsse aufzuwiegen«. In diesem Zusammenhang ist eine Feststellung von P. Kürys bedeutungsvoll: Die Zahl der in der Republik (Litauen) registrierten Ehen ist mit 30000 pro Jahr im Verlauf der beiden letzten Jahrzehnte fast konstant geblieben. Doch ist die Zahl der Ehescheidungen in dauerndem Anstieg begriffen, obwohl fast 90% aller Eheschließungen in feierlichem Rahmen vorgenommen werden. Im Jahre 1977 haben Volksgerichte 9428 Ehescheidungen ausgesprochen, weitere 940 Ehen wurden standesamtlich (allerdings ohne feierlichen Rahmen) getrennt. Im Jahre 1957 wurden in der ganzen Republik aber nur 1678 Ehescheidungen re­gistriert (S. 50). Die Sekretärin des Rayonkomitees Anykščiai, Frau Z. Barkaus­kienė, erklärte der Konferenz: »Noch vor einigen Jahren wiederholten 60% aller Neuvermählten ihre standesamtliche Trauung in der Kirche. Ähnliches galt für die registrierten Geburten in unserem Rayon. Der Anteil kirchlicher Trauungen ist inzwischen auf 48% der Eheschließungen zurückgegangen« (S. 56). Warum hat die Parteisekretärin, die so gut über den Rückgang des Anteils kirchli­cher Trauungen Bescheid weiß, der Konferenz eigentlich Angaben über Eheschei­dungen, Abtreibungen und Anstieg des Alkoholmißbrauchs in ihrem Rayon ver­schwiegen? Leider wurden zu diesem Themenkreis keine statistischen Angaben gemacht — denn jeden anständigen Menschen würde das Entsetzen packen. Die Angaben würden aber und vor allem zeigen, wie mit dem Anstieg der Zahl der Atheisten und Indifferenten auch die Häufigkeit jener Laster zunimmt, die unser kleines Volk mit sicherem Untergang bedrohen.

Man sollte annehmen, daß die Teilnehmer der Konferenz wohl auch nach Mitteln und Wegen geforscht hätten, um aus diesem Pfuhl moralischer Verkommenheit herauszukommen. Doch leider interessierte dieses Thema nicht. Unter Mißach­tung der von ihnen selbst konstatierten Wirklichkeit, diskutierten sie dagegen, wie man am besten religiöse Traditionen ausrottet, den Glauben bekämpft und Mos­kaus Aufträge erfüllt.

Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang der Schlußbeitrag der Broschüre aus der Feder von J. Kuolelis, Abteilungsleiter, Agitation und Propaganda im ZK der KP Litauens. Er liest sich wie eine Zusammenfassung im Sinne der Parteilinie. J. Kuolelis mahnt darin: ». . . mit allen Mitteln müssen wir beweisen, wie viel ein Mensch durch Abbruch aller Beziehungen zur Religion gewinnt, und aufzeigen, was ihm die wissenschaftlich-atheistische Weltanschauung gibt« (S. 70). Was die­se wissenschaftlich-atheistische Weltanschauung Litauen bisher beschert hat, ist heute jedermann klar — auch ohne statistische Angaben und ohne die wenigen Tropfen bitterer Wahrheit, die Bitinaite und Kūrys in anderer Absicht beigetragen haben.

J. Kuolelis selbst aber wäre als atheistischer Propagandist nur halb so groß, wenn er aus den Tatsachen des Lebens selbst logische Schlüsse ziehen würde. Dies unterblieb, denn J. Kuolelis' größte Sorge ist, was der Kreml dazu sagt, und er stellte dies besonders deutlich heraus: »Eine Brigade des ZK der KPdSU hat vor einiger Zeit unsere Republik besucht und die Lage auf diesem Arbeitsgebiet analy­siert, dessen Fragen des zeitgenössischen Lebens uns von der ideologischen Situa­tion selbst diktiert werden. Das Politbüro hat diesen Fragen seine ernste Auf­merksamkeit gewidmet. Das geschieht zum ersten Mal« (S. 74). Nach Darlegung dessen, was die ZK-Brigade der KPdSU interessierte und nach freudiger Kundgabe, seine Oberherren hätten immerhin »Ableistung einer gewis­sen Arbeit« anerkannt, ängstigt J. Kuolelis seine Genossen dann höchstbeküm­mert mit dem, was Moskau mißfallen hat: »Es wird zu wenig getan, um den Ein­fluß der Priester auf Kinder und Jugendliche zu vermindern . . . Vorhandene Überbleibsel religiöser Residuen bei Kommunisten und Komsomolzen müssen in­tensiver bekämpft werden, denn es gibt Fälle, daß Verbindungen zur Kirche wei­ter aufrechterhalten werden. So etwas darf nicht unbeachtet bleiben . . . Dem Ta­tendrang der Menschen mit mönchischen Neigungen wurde der Weg nicht ver­sperrt. Die Anzahl solcher Leute nimmt nur nicht ab, sondern zu. Das Schlimm­ste jedoch — sie sind im Untergrund tätig, und für das Bestehen eines Unter­grunds, Genossen, wurde noch nie jemand gelobt« (S. 75). Der Kummer des J. Kuolelis ist begreiflich, zumal seine höchsten Arbeitgeber ihm soviel »ernsthafte Aufmerksamkeit« schenkten, dabei noch »erstmalig«. Da­zu dieser »Untergrund«, dessen Existenz Moskau nicht nur nicht lobt, sondern deswegen man evtl. sogar seinen Propagandaposten verlieren kann. Daher ist J. Kuolelis denn auch entschlossen, Taten zu zeigen. Vorrang hat nach Meinung des Propagandisten, die Kontrolle der Geistlichkeit. Er meint dazu: »Die Lage ist zu analysieren, zu erforschen, praktische Schlußfolgerungen sind zu ziehen, der Taktik Aufmerksamkeit zu widmen, Predigten und andere Mittel kirchlicher Einflußnahme zu studieren. Eine gewisse Arbeit mit der Geistlichkeit wird durch­geführt . . . Die Tätigkeit der Sonderkommissionen bei Rayon- und Ortssowjets hat positiven Einfluß auf die Geistlichen und hilft deren schädliche Tätigkeit ein­zuschränken. Die Exekutivkomitees führen Akten über religiöse Organisationen« (S. 75).

Diese Positiva erfreuen sich denn auch der Approbation der Brotherren des J. Kuolelis. Doch genügt das natürlich nicht. Er ermahnt die Exekutivkomitees, die Geistlichen noch mehr zu behindern.

Natürlich verfügt man über reiche Erfahrungen aus der Religionsvernichtung in Rußland ... Da diese in Litauen noch nicht voll genutzt werden, erteilt Kuolelis auf Moskaus Sagen und Segen den Teilnehmern der Konferenz seine Aufträge: ». . . in Erfahrung zu bringen — registrierte und nicht registrierte religiöse Ge­meinschaften und Gruppen, wieviel, Anzahl der Anhänger, Zusammensetzung, Charakteristik der Kultdiener, Personalbestand der ausführenden Organe. Kirch­liche Aktivisten . . . Wie werden nationale und konfessionelle Besonderheiten be­rücksichtigt? Wer sind die Gläubigen — Alter, Geschlecht, Beruf, soziale Stel­lung . . .? Stand der religiösen Dienstleistungen, der Taufen, Trauungen, Bestat­tungen u. a. w.? Charakteristik der meistverbreiteten Feste und Ablaßfeiern — wieviel Besucher, wer sind sie, welches ihre Motive . . .? Untergrund der Mönchi­schen, anders gesagt, der Parasiten. Seine Tätigkeit. Müssen wir wissen. Es darf keinen Untergrund geben! Und kennen wir ihn erst mal, so kann man sagen, es gibt ihn bereits nicht mehr« (S. 76).

Die Devise heißt also: Beobachten, bespitzeln und, das Wichtigste — den Unter­grund aufdecken. Und ausspionieren ist, in Kuolelis' Meinung, gleich liquidie­ren. Und wie man liquidiert, wissen alle genau. Zu dem Zweck wirbt man Agen­ten im Priesterseminar Kaunas, züchtet man Spitzel in Schulen, unterhält man ein Heer von Informanten an allen Arbeitsplätzen. Auch das »Statut der Religions­gemeinschaften« dient diesem Zweck —denn es ermöglicht KGB-Agenten, als Gläubige getarnt, alsbald in Glaubensdingen wichtige Positionen einzunehmen. Die Rede des J. Kuolelis ist eine Offenbarung des Moskauer Willens, und aus ihr ergibt sich zweifelsfrei: die Zeit ist gekommen, die Kirche von innen zu sprengen. Da Moskau auf diesem Gebiet wirklich über reiche Erfahrung verfügt, ist es un­verzeihlich, daß die gewünschten Resultate in Litauen bisher ausgeblieben sind, wenn Kuolelis auch betont, mit der Geistlichkeit sei eine gewisse Arbeit geleistet worden.

Wie nicht anders zu erwarten, erinnerte keiner der Teilnehmer an Verfassungsbe­stimmungen oder die Schlußakte von Helsinki. Schließlich handelte es sich bei ih­nen um die Anführer der Unterdrückungsaktion gegen die Gläubigen. Sendungen von Radio Vatikan wurden während der Konferenz angegriffen. Tat­sachen, die eine Verfolgung der Kirche in Litauen beweisen, wurden natürlich als Verleumdung abqualifiziert. Mehr noch. Beweise über Verletzung elementarster Rechte der Gläubigen, grobe Verstöße gegen die Helsinki-Schlußakte, selbst Bruch sowjetischer Rechtsbestimmungen wurden als »unberechtigte Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten« abgetan.

Was Moskau, Kuolelis und Gleichgesinnte aber am meisten ärgert, ist die mutige Haltung der Gläubigen, ihre Eingaben, das Bestehen auf ihren Rechten. Obwohl sie kaum jemals eine Antwort erhalten, geben die Gläubigen nicht auf und prote­stieren bei der nächst höheren Instanz. Oft passiert es, daß solche Schreiben in die ausländische Presse gelangen oder über Rundfunkwellen um die ganze Welt ge­hen. Prompt werden die Beschwerden dann zu »Verleumdungen«. Kuolelis ver­mahnte die Seinen ausdrücklich, alle Kampfmittel einzusetzen, daß solchen Be­schwerden kein Glaube geschenkt werde.

Am liebsten würde Kuolelis wahrscheinlich alle Beschwerdeführer vernichten. Doch — welch vertrakter »circulus vitiosus« — von einer solchen Vernichtungs­aktion würde alle Welt erst recht erfahren . . .

Kurz und gut, die Konferenz verlief auf wahrlich »hohem ideologischen Niveau«. In Moskau abgefaßte Direktiven wurden durch Vertrauensleute und Kollabora­teure ordnungsmäßig weitergegeben und werden jetzt »im Leben verwirklicht«. Die Religionsverfolgung verstärkt sich, die »Zerstörung von innen wird akti­viert«. Doch gibt es auch eine andere Seite der Medaille: Die Gläubigen geben den Kampf für ihre elementaren Rechte nicht auf, mehr und mehr Menschen über­winden die Barriere der Angst und Gleichgültigkeit. Langsam vielleicht, doch si­cher vollzieht sich in Litauen eine religiöse Wiedergeburt. Das brutale Verhalten der Atheisten und die Verfolgungsmaßnahmen zeitigen unerwartete Resultate: die Gläubigen werden stärker in Wahrhaftigkeit und Entschlußkraft.