Die alljährliche religiöse Prozession nach Šiluva ist für die Gläubigen Li­tauens zu einer schönen und sinnvollen Tradition geworden, den Gottlosen der Regierung aber zu einem argen Dorn im Auge. Sie zerbrechen sich jedes Jahr ihre Köpfe darüber, wie man diese Prozession verhindern könnte. Zahl­reiche Wallfahrer mußten ihretwegen leiden — sie wurden gefilmt, geängstigt und sogar vor Gericht gestellt, wie z. B. Jadvyga Stanelytė, Mečislovas Ju­revičius und Vytautas Vaičiūnas. Diese demagogischen Maßnahmen erschüt­terten aber die Gläubigen nicht. Im Gegenteil, dieses Jahr bereitete sich ganz Litauen auf besondere Weise für diese fromme Reise nach Šiluva vor. Der Tag der Prozession wurde in den Kirchen angekündigt. Da die wegen der Prozession Verurteilten beschuldigt wurden, sie hätten für die Prozession von der Regierung keine Erlaubnis erbeten, schickte das Komitee der Katholiken zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen am 8. Juli an das Zentralkomitee der KPL und an den Ministerrat das Dokument Nr. 49, in dem geschrieben steht:

»Am 25. und 26. Juni d. J. fanden zwei Gerichtsverhandlungen wegen der religiösen Prozessionen der Jahre 1979-80 von Tytuvėnai nach Šiluva statt. Das Oberste Gericht der LSSR in Vilnius verurteilte den Arbeiter Mečislovas Jurevičius zu drei Jahren Freiheitsentzug, wobei die Strafe in einer Besse­rungarbeitskolonie mit strengem Regime verbüßt werden muß, und in Šir­vintai den Ingenieur Vytautas Vaičiūnas zu 2,5 Jahren Freiheitsentzug, und er hat seine Strafe in einer Besserungsarbeitskolonie mit gewöhnlichem Re­gime zu verbüßen. Es ist unverständlich, aus welchem Grund Vytautas Vaičiūnas in Širvintai verurteilt wurde. Beide Angeklagten, gute Christen und Menschen mit hoher Moral, wurden beschuldigt, daß sie ohne Erlaubnis des Exekutivkomitees die religiöse Prozession von Tytuvėnai nach Šiluva orga­nisiert und daran aktiv teilgenommen haben. Eine Prozession dieses Aus­maßes konnten die Angeklagten nicht organisieren und keiner der Zeugen hat diese Anschuldigung unterstützt. Da weder M. Jurevičius, noch V. Vaičiūnas eine religiöse Prozession von Tytuvėnai nach Šiluva organisiert ha­ben, baten sie auch um keine Erlaubnis dafür. Die religiösen Prozessionen von Tytuvėnai nach Šiluva sind traditionellen Charakters, und die Gläubigen versammeln sich zu ihnen ohne von irgendjemand organisiert zu werden.

Wir wollen darauf aufmerksam machen, daß die Exekutivkomitees des Volks­deputiertenrates keine Erlaubnis für religiöse Prozessionen erteilen. Ein Beispiel: Die Pfarrer von Viduklė, Kybartai und Skaudvilė haben sich schon öfters an die Exekutivkomitees gewandt mit der Bitte um Genehmigung religiöser Prozessionen. Sie haben nicht nur keine Erlaubnis, sondern auch keine Antwort auf ihre Gesuche erhalten. Der frühere Stellvertreter des Vor­sitzenden des Exekutivkomitees von Raseiniai, Z. Butkus, hat dem Pfarrer von Viduklė erklärt: >Wir werden niemals unsere Erlaubnis für religiöse Pro­zessionen erteilen !< Die Lebenserfahrung zeigt, daß die örtlichen Organe der sowjetischen Regierung nur als Vertreter der Atheisten tätig sind, die sich von irgendwelchen geheimen Instruktionen und Anweisungen leiten lassen. Aus diesem Grunde sollte man sich gar nicht wundern, wenn die Leute die Hoffnung auf eine Erlaubnis verloren haben und erst gar nicht mehr darum ersuchen.

Die Gläubigen haben sich wiederholt an das Komitee der Katholiken zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen gewandt mit der Bitte, ihre Rechte, die durch die Artikel 48 und 50 der Verfassung der LSSR garantiert sind, zu verteidigen. Aus diesem Grunde wenden wir uns an den Ministerrat der LSSR und bitten, den Gläubigen die traditionelle, rein religiöse Prozession von Tytuvėnai nach Šiluva, die am 23. August 1981 stattfinden wird, zu er­lauben.«

Anfang August wurden die Priester Alfonsas Svarinskas, Sigitas Tamkevičius, Algimantas Keina, Vaclovas Stakėnas, Kastytis Krikščiukaitis und andere in die Rayonexekutivkomitees vorgeladen. Es wurde ihnen eine Er­mahnung des Bevollmächtigten P. Anilionis vorgelesen: »Die Rayonexekutiv­komitees des Volksdeputiertenrates der Rayons Raseiniai und Kelmė ver­weigerten auf Grund des Artikels 50 der Statuten der religiösen Gemein­schaften« die Erlaubnis, die Prozession von Tytuvėnai nach Šiluva am 23. August zu organisieren.

Deswegen warne ich Sie; gegen die Organisatoren solcher Prozessionen kön­nen Maßnahmen administrativen Charakters angewendet werden, die in der Verordnung des Präsidiums des Obersten Rates der LSSR vom 12. 5. 1966 »Über administrative Verantwortlichkeit bei Verletzung religiöser Kulte« vor­gesehen sind, oder sie können gemäß § 143 StGB der LSSR bestraft werden.« Dieses Jahr wurde für die Katholische Kirche Litauens ohne Vergleich. Das Rosenkranzgebet brachte die Miliz, den Sicherheitsdienst und das Militär, den gesamten sowjetischen Regierungsapparat auf die Beine, der alle nur erdenkliche »prophylaktischen« Maßnahmen fieberhaft anwendete.

In den Ämtern und in den Fabriken (in Telšiai, Panevėžys und auch anders­wo) versuchten die Beamten den Leuten klarzumachen, daß es nicht nötig sei, nach Šiluva zu reisen. Den Leitern der verschiedenen Fabriken und Be­hörden in Vilnius, Kaunas und anderen Städten wurde verboten, ihre Mitar­beiter und Autos bis zum 23. August in die Richtung nach Niederlitauen (Žemaitija) abzukommandieren. Der erste Sekretär der Kommunistischen Partei des Rayons Jurbarkas verpflichtete die Leiter der Kolchosen, den Leu­ten bis zum 27. August keine Transportmöglichkeiten zu geben.

Am 9. August 1981 hat in Kaunas eine Nachricht aus dem Mitarbeiterkreis des Tiermedizinischen Instituts Aufsehen erregt, nämlich daß die Verwaltung für Veterinärwesen der Republik den ihnen unterstellten Mitarbeitern auf dem Sowjetgut Žaiginys (das 8 km von Šiluva entfernt ist) befohlen hat, eine Viruserkrankung der Schweine, die Teschener Krankheit, zu finden und wegen der Schweinepest eine Quarantäne über dieses Gebiet zu verhängen. Obwohl keine Erkrankungen bei den Schweinen festgestellt wurden, ver­öffentlichte die Rayonzeitung von Raseiniai am 13. August folgende Be­kanntmachung:

 

Den Einwohnern des Rayons zur Kenntnis.

In Verbindung mit dem Auftreten einer krassen ansteckenden Schweine­krankheit auf dem Sowjetgut Žaiginys wird über das Sowjetgut Žaiginys und über das Territorium des angrenzenden Sowjetgutes Skaraitiškė und der Kolchosen »Atžalynas«, M. Kalininas und Pikčiūnai eine Quarantäne ver­hängt.

Das Passieren der genannten landwirtschaftlichen Betriebe durch Trans­portmittel jeder Art, sowie das Betreten durch unbefugte Personen ist ab 15. August untersagt.

    Das Rayonexekutivkomitee des Volksdeputiertenrates von Raseiniai.

Am 15. August erschienen in »Valstiečių laikraštis« (»Zeitung der Landbe­wohner«) und in den meisten Rayonzeitungen Artikel, die dazu aufforder­ten, Maßnahmen gegen ansteckende Tierkrankheiten zu ergreifen. Die Tier­ärzte in Litauen erhielten jedoch keinerlei Mitteilungen, daß im Rayon Raseiniai eine Seuche ausgebrochen ist, obwohl normalerweise die Land­wirtschaftsbetriebe in Litauen bereits unterrichtet werden, wenn es auch nur den Anschein hat, daß Tiere erkrankt sind; das geschieht selbst dann, wenn in Nachbarrepubliken wie Lettland oder Weißrußland eine Epidemie auftritt.

Die Quarantäne umgab also Šiluva von allen Seiten. Eine interessante Tat­sache war aber, daß das Sowjetgut Vosiliškis, das sich auf der anderen Seite des Sowjetgutes Žaiginys befindet, nicht in die Zone der Quarantäne einbe­zogen wurde.

Vom Abend des 20. August an bis zum Abend des 23. August verfolgten die Autos der Tschekisten die Priester Sigitas Tamkevičius, Alfonsas Sva­rinskas und Jonas Kauneckas und begleiteten sie Tag und Nacht überall, wo sie auch hingingen oder hinfuhren.

Es ist nicht ausgeschlossen, daß diese Priester auch deswegen besonders iso­liert wurden, damit sie nicht den deutschen Bischöfen begegneten, die an die­sen Tagen zu Gast in Litauen waren.

Zu einer »Ermahnung« wurden in die Staatsanwaltschaft von Vilnius Nijolė Sadūnaitė, Vytautas Bogušis und Elena Šuliauskaitė vorgeladen; die Staats­anwaltschaft der Stadt Kaunas lud Volskis, Julija Kuodytė, Saulius Kelpšas, Aldona Raižytė und Angelė Ramanauskaitė vor; die von Klaipėda lud Teklė Steponavičiūtė, Ignas Petrauskas, Irena Česnauskienė vor; in Vilkaviškis Birutė Briliūtė, Bena Mališkaitė; die Staatsanwaltschaft von Šiauliai verteilte Vorladungen an Jonas Tamulis, Stasė Tamulienė, Jadvyga Petravičienė, Elžbieta Klimavičienė, Jonas Petkevičius und Juozas Šileikis; die Staatsan­waltschaft von Raseiniai lud Monika Gavėnaitė vor. Sie alle wurden für den 20. August vorgeladen. In der Staatsanwaltschaft wurde jedem, der der Vor­ladung gefolgt war (die meisten sind überhaupt nicht gekommen), erklärt, daß er nach vorliegenden Angaben einer der vermutlichen Organisatoren der religiös-politischen Prozessionen sei, daß solche Prozessionen die öffent­liche Ordnung verletzen, daß dadurch großer Schaden für die Öffentlichkeit entsteht usw. Nach dieser Einführung wurde eine offizielle Ermahnung auf­gesetzt: »Wer Gruppenaktionen unter religiösem Vorwand organisiert, wird zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen.« Es wurde verlangt, diese »Er­mahnungen« zu unterzeichnen, aber alle Vorgeladenen verweigerten dies. Ein Beamter in der Staatsanwaltschaft von Šiauliai verteidigte sich, daß diese gesamte »Prophylaxe« keine Erfindung der Ortsverwaltung sei. Die Vorlage für diese Ermahnung sei aus Moskau gekommen, und alle, die nach den der Regierung vorliegenden Angaben zu den Organisatoren der religiösen Pro­zessionen zählen, seien nach diesem Muster zu behandeln.

An der Omnibushaltestelle von Kelmė war seit 20. August eine Bekannt­machung angeschlagen: »Am 21. und 22. August d. J. werden nach Ty­tuvėnai keine Omnibusse verkehren. Ab 23. August 12 Uhr wird der Verkehr wieder aufgenommen. Quarantäne.« Am Busbahnhof in Šiauliai hing eine Mitteilung, die informierte, daß einige Linienbusse nach Kaunas oder Šiluva gestrichen seien oder in anderer Richtung, z. B. über Kryžkalnis fahren, und ein am Bahnhof ausgehängtes Schreiben verkündete: »Nach Tytuvėnai und Lyduvėnai werden keine Fahrkarten verkauft.« Die Züge hielten an diesen Bahnhöfen nicht. Außerdem hielten sich in jedem Waggon wenigstens einige Milizmänner auf, die jegliche Bewegung beobachteten. Fahrgäste, die am Bahnhof in Viduklė aussteigen wollten, wurden sogar ausgefragt, und wenn es sich herausstellte, daß der Reisende kein Einheimischer war, durfte er nicht aussteigen. An keiner Station, die an der Strecke der Linienbusse über Tytuvėnai oder Šiluva Hegen, gab es an diesen Tagen an der Kasse Fahr­karten nach Tytuvėnai oder Šiluva zu kaufen.

Schlagbäume »schmückten« die Landstraße Niederlitauens (Žemaičių plen­tas) sogar bis nach Stulgiai hinter Kryžkalnis. Auf der Straße von Kelmė nach Šiluva standen die Schlagbäume alle 5 Kilometer und Miliz und tier­ärztliches Personal bewachten sie. Neben den Schlagbäumen waren An­schläge zu lesen: »Achtung! Durchfahrt verboten! Quarantäneposten.« Das Ferienlager der Pioniere wurde aus Tytuvėnai verlegt; stattdessen richtete man im Wald die Zelte der Militäreinheiten und des Sicherheitsdienstes ein.

Am Flughafen in Šiauliai standen Hubschrauber bereit.

Die Autoinspektion war sogar noch aus anderen Republiken, wie Lettland

und Grusinien herbeigerufen worden.

Am 22. August wurden die Autos in Vilkaviškis, Kaunas, Endriejavas bei Klaipėda, in Kryžkalnis und anderswo kontrolliert, wobei der Gepäckraum geöffnet wurde. Aus der Dzūkija und Suvalkija konnte man nicht einmal Šakiai erreichen. Die Autoinspektion hielt die Autos an mit der Erklärung, daß im Rayon Šakiai die Quarantäne sei. Die Autoinspektionsposten hatten abgedruckte Nummern einiger Autos bei sich, die sie, wenn diese Autos er­scheinen sollten, unter irgendeinem Vorwand unbedingt abnehmen sollten. In Kybartai wurde die Autonummer vom technisch einwandfreien Wagen des Jonas Mickevičius abgenommen.

Auch nach Meškuičiai waren alle Straßen und Wege an diesen Tagen blok-kiert. Der Berg der Kreuze war sogar mit einigen Militär-Absperrungen ab­gegrenzt, damit niemand weder in kleinen Gruppen, noch allein dorthin ge­langen konnte.

Eine Reisegesellschaft fuhr auf dem Rückweg aus Riga nach Viduklė zum Berg der Kreuze. Kaum hatte sie die Hauptstraße verlassen, wurde sie auch schon von einem Milizmann und einem betrunkenen Sicherheitsbeamten angehalten. Sie nahmen dem Kraftfahrer seinen Führerschein weg und be­fahlen ihm, in die Miliz nach Šiauliai zu fahren. Endlich gelang es dem Reise­führer der Reisegesellschaft doch noch, den Führerschein zurückzubekommen und die Reise glücklich zu Ende zu führen.

Es wurde gesprochen, daß in Kelmė ein Sonderstab aus Moskau eingerichtet sei, um die Prozession von Šiluva zu erledigen.

Nach der Meinung der Ortseinwohner von Šiluva waren am 23. August in Šiluva mehr uniformierte Beamte anwesend als Einwohner des Städtchens selbst, die zivil gekleideten Sicherheitsbeamten nicht dazugerechnet. Die Rayonbeamten verlangten, daß die Pfarrer von Šiluva und Tytuvėnai ihre Kirchen am 23. geschlossen lassen sollen mit den Worten: »Es werden sowieso keine Menschen am Sonntag in euren Kirchen anwesend sein.« Am Sonntag waren beide Kirchen offen und die Gottesdienste fanden statt.

 

Eindrücke aus der Reise nach Šiluva

Eine Teilnehmerin berichtet:

Wir kamen mit einem Schnellbus aus Vilnius nach Raseiniai. Am Bahnhof von Raseiniai schlössen sich uns noch mehr Wallfahrer an. Wir waren schon neun Personen. Auf dem Busbahnhof überraschte uns die Bekanntmachung, daß die Linienbusse nach Tytuvėnai nicht fahren. Auf den Rat der Orts­einwohner, zuerst nach Kelmė zu fahren, und von dort mit dem Linienbus, der nach Pašiaušė fährt, in die Nähe von Tytuvėnai zu gelangen, machten wir uns auf diese sehr verlockende, gleichzeitig aber auch unheimliche Reise.

Wir stiegen an der Haltestelle von Jampolė aus. Bis nach Tytuvėnai waren noch 8 km geblieben. Was bleibt uns anderes übrig ... wir marschierten zu Fuß. Nach einer Weile begegneten wir einem, der uns sagte, daß wir Tytuvėnai niemals erreichen würden, wenn wir auf der Hauptstraße bleiben, weil schon seit Freitag Autos voll von Milizmännern auf allen Straßen herumsausen, und an allen Wegkreuzungen seien noch zusätzlich Miliz­männer postiert. Der gutherzige Niederlitauer riet uns, uns mit den einfach­sten Wegen zu begnügen, noch besser aber sich durch den Wald durchzu­schlagen. Kaum hatten wir die Hauptstraße verlassen, hörten wir schon die Geräusche eines Autos. Sie verfolgten uns. Wir bogen in das Wäldchen ein. Aus dem Auto sprangen sechs Uniformierte heraus, und nicht einmal ein­fache Soldaten, sondern vom Leutnant bis zum Oberstleutnant aufwärts. Sie riefen uns zu, wir sollen zu ihrem Auto kommen. Ohne sie jedoch zu beach­ten, gingen wir weiter. Da wurden die Ärmsten unruhig: Mit ihren Mützen winkend und mit Geschrei durch die Stacheldrahtumzäunungen der Weide­plätze schlüpfend, liefen sie uns nach. Wir dachten gar nicht daran wegzu­laufen. Was haben wir denn Böses getan? Die »Hüter der Gesetze« fingen mit strengen Gesichtern an, uns zu schelten, zu fragen, wohin wir gehen usw. und bemühten sich, uns zu erklären, daß dies hier ein Quarantäne­gebiet sei, das zu betreten verboten sei. Schließlich dachten sich die Beamten aus, uns ein wenig spazieren zu fahren, um die Angelegenheit »zu klären«. Die mutigen Frauen fingen an, die Milizmänner zu beschämen: »Schämt Euch, Brüder Litauer! Hier gibt es gar keine Pest! Schaut euch um! Das Vieh, die Kühe grasen hier auf der Weide. Gibt es vielleicht auch Kühepest hier?! Ihr wißt doch ganz genau, wohin wir gehen wollen.« Etwas milder gewor­dene Beamte forderten uns immer noch auf, in das Auto einzusteigen, als wir aber endgültig erwiderten: »Wir sind zu Fuß hergekommen, zu Fuß werden wir auch zurücklaufen!«, fuhren sie weg, ohne etwas erreicht zu haben. Wir gingen aber nach einer Weile auf die Hauptstraße zurück und kehrten in ein bäuerliches Anwesen ein. Die Hausfrau, die uns bis auf die Straße entgegengekommen war, erzählte uns von ihrem Schreck, von dem sie sich noch nicht erholt hatte: »Ich kam gerade nach Hause zurück und sah die Miliz. Ich bin erschrocken und dachte mir, was hat mein Mann, der daheim gewesen ist, gerade angestellt, daß ein Auto voll Miliz dahersaust?!« Die Frau nahm uns liebevoll auf und bewirtete uns; es kamen noch einige Nachbarn hinzu. Alle lachten über die Pest, die am Freitag nachmittag be­gonnen hat und am Sonntag schon wieder vorbei sein soll.. . Die Ortsein­wohner berichteten, daß in Tytuvėnai viel Miliz zusammengezogen sei, und rieten uns, nur einzeln, oder höchstens immer zu zweit weiterzugehen und nur unbekannte Fußwege und die Deckung der Gebüsche zu benützen, wenn wir nach Tytuvėnai kommen wollten. Das war nicht so einfach, denn wir kannten den Weg nicht, und die Nacht brach schon herein. Plötzlich sagte eine von uns entschlossen: »Ich gehe! Wer geht mit?« Noch zwei Frauen schlössen sich ihr an. Nach einer Überlegung schlössen wir uns auch an. Irgendjemand überlegte unterwegs laut: »Vielleicht lassen sie uns als Mädchen durch.« Schnell zogen wir unsere Jacken aus, ließen die Haare auseinander, damit wir jünger aussehen und beeilten uns weiterzugehen. Und auf einmal sehen wir — ein Schlagbaum steht vor uns! Neben ihm steht einer mit einem weißen Mantel, sichtlich ein Tierarzt, zwei betrunkene und noch eine zwei­felhafte Gestalt torkelt herum. Wir spielen die Mutigen und versuchen, ohne Scheu zu zeigen, durch die Sperre zu gelangen. »Die Papiere!« schrie einer von ihnen. »Welche Papiere? Wir gehen nach Hause!« wunderten wir uns. »Wohin? Wie heißt das Dorf? Ihre Namen?« rasselte in einem fort der »Hü­ter der Gesetze«.

»Nach der Haltestelle Kiškėnai nach rechts ...« »Darf man nicht! Wie sind die Namen?«

Kaum habe ich meinen Namen gesagt, als einer von ihnen zu schreien be­gann:

»Du lügst!«

Als meine Freundin verhandelt hatte, daß sie aus Vilnius zu ihren Eltern unterwegs sei, und den Personalausweis nie mehr mitnehme, da sie schon einmal eine Strafe zahlen mußte, weil sie ihren Personalausweis ver­loren hatte, wurde der Tierarzt etwas sanfter: »Lassen wir sie gehen! Nur der da, ob der sie auch durchlassen wird? ...« er zeigte auf einen Uniformier­ten. Dieser ließ gar nicht mit sich reden. Einer von den vieren versuchte sogar, sich zu rechtfertigen: »Wir sind hier aufgestellt.. . unsere Pflicht. .. Wenn wir Sie auch durchlassen, dann werden wir den Sicherheitsdienst an­rufen und melden müssen, daß wir zwei von ihnen durchgelassen haben.« Gerade fuhr ein Milchwagen vorbei. Der Milizmann riet uns, dieses Männ­lein zu bitten, er möge doch unseren Vater herbringen, wir dürften indessen (oh welche sonderbare Gnade!) hier auf ihn warten. Wir aber antworteten darauf: »Wir werden also hier auf der Erde sitzen und Euch anglotzen! Wenn wir schon im Straßengraben warten müssen, bis er uns unseren Vater her­bringt, dann kehren wir lieber nach Vilnius zurück, um unsere Pässe zu holen!« erklärten wir und kehrten zurück. Wir fanden, Gott sei Dank, wieder gute Leute. Die Hausfrau bewirtete uns wieder, und ihr Mann beschloß, uns auf Feldwegen in Richtung Tytuvėnai zu begleiten. Er nahm sein Fahrrad mit, wir aber zogen unsere Schuhe aus und setzten barfuß unsere Odyssee fort. Wenn wir uns einem Anwesen näherten, hieß er uns weiterzugehen, und nach einer Weile kam er uns nach. Nachdem er uns eine schöne Weg­strecke begleitet hatte, wünschte er uns Erfolg, und kehrte zurück.

Inzwischen kam die Sonne hinter der Wolke heraus, das Wetter war einfach herrlich... Wir begegneten unterwegs Knaben, die uns mit verwunderten Augen betrachteten, als seien wir aus dem Weltall gekommen: Wie war denn das möglich, daß wir so nahe an Tytuvėnai gelangt sind! Die Jungen berich­teten uns, daß überall Miliz sei, die durch die Ställe und Scheunen schnüffeln, sogar die Kellerräume durchsuchen, ob sich nicht irgendwo fremde Leute aufhalten, und wenn sie Fremde antreffen — nehmen sie sie gleich mit. Schon vor einer Woche wurden den Einwohnern kleine Zettelchen zugestellt, daß niemand zugereiste Pilger zur Übernachtung aufnehmen solle. Sie drohten mit Strafen. Als wir uns erkundigten, wo man eine Ubernachtungsmöglichkeit bekommen könnte, rieten sie uns, überhaupt nicht danach zu suchen. Wir erfuhren außerdem, daß in das Technikum einige Kompanien Soldaten her­gebracht worden waren. . . Als es etwas dunkler wurde, gingen wir auf ein Haus zu. Die Frau, die draußen stand, begann mit den Händen abweisend zu winken und uns zu vertreiben; wir sollten aus ihren Augen verschwinden. Arme Menschen, wie eingeschüchtert sie sind... ! Die Einwohner von Ty­tuvėnai haben doch immer die Pilger gerne aufgenommen. Obwohl auch im vorigen Jahr die Milizmänner durch die Häuser gingen, haben die Einwohner des Städtchens die Pilger, die in die Kirche gekommen waren, selber einge­laden, bei ihnen zu übernachten! In den anderen Häusern sind schon die Lichter angegangen, sie spendeten uns aber keine Wärme. .. Wir versuchten noch weiter unser Glück, wir baten noch einige; sie wiesen uns nur ... einen Gerstenschober auf dem Felde zu. Was blieb uns anderes übrig? — Wir gingen dorthin. Ein Mädchen schickten wir voraus, das Trockengestell zu inspizieren.

Wir warfen zuerst eine tote Ratte aus dem Trockengestell hinaus. Was soll­ten wir jetzt anderes tun? Wir breiteten etwas Stroh am Boden aus als Unter­lage und krochen alle sechs hinein. Sich hinzusetzen ist noch einigermaßen möglich, aber sich hinzulegen, brauchte man gar nicht zu versuchen, — kein Platz. Oben auf dem Trockengestell befand sich noch etwas Stroh, unten aber war keines mehr, der Wind kam von allen vier Seiten. Es wurde kalt. Für so eine Übernachtung waren wir nicht vorbereitet. Die ganze Nacht konnten wir nicht einschlafen, aber die Stimmung war gut. Man hat wirklich das Gefühl, daß das alles einer Bußewallfahrt ähnlich ist. Gott sei Dank! Gegen 5 Uhr krochen wir aus dem Trockengestell heraus und fingen an herumzulaufen, um uns etwas aufzuwärmen. Nachher, den Rat der guten Menschen befolgend, teilten wir uns zu je zwei Personen auf, und es ging weiter...

Kaum haben wir uns bewegt, als plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, vier Milizmänner vor uns standen:

»Guten Morgen! Zu wem wollen Sie? Wie ist der Name? Bitte Ihre Pa­piere!. . .«

»Nun ja, wenn es schon nicht erlaubt ist, dann können wir auch zurück­gehen .. .« versuchten wir uns herauszureden. Wir hatten nicht einmal gemerkt, daß ein Auto zu uns gefahren war. »Oh, das sind doch dieselben, die gestern zu ihrem Vater gehen wollten« erkannte uns einer von ihnen.

Sie brachten uns auf irgendeinen Hof und befahlen uns auszusteigen. Sie führten uns eine Treppe hinauf... und auf jeder Stufe der Treppe glotzten uns die Milizmänner an. Im Arbeitszimmer finden wir schon einige Grei­sinnen und einen angetrunkenen Mann vor. Es wurde mir sogar leichter ums Herz, und ich dachte mir: »Hier werde ich mich wenigstens aufwärmen können, schade, daß wir nicht gestern schon mitgefahren sind, wir hätten wenigstens die Nacht warm verbringen können.« Jämmerlich schauten wir aus! Unsere Kleider waren voll mit Gerstengrannen. Sie notierten unsere Familiennamen, Adressen, Arbeitsstellen beziehungsweise die Schule, woll­ten wissen, wozu wir hierher gekommen sind. Dann riefen sie uns einzeln zu einem Verhör. Hier wieder dieselbe Prozedur, dieselben Fragen! An­schließend setzten sie uns alle in einen Autobus und fuhren uns irgendwohin fort. Die Frauen erzählten, daß die Milizmänner nach allen jagten, die in die Kirche zu gelangen versuchten, und sie »zur Klärung« brachten ... Unterwegs beteten wir den Rosenkranz und andere Gebete. Wohin sie uns bringen wollen, sagte uns niemand. Die anderen festgenommenen Frauen berichteten, daß eine von ihren Gruppen in der Nacht von einem Milizmann aus Grusinien (russisch für Georgien — Anm. d. Ubers.) bewacht worden war. Er habe gesagt, daß er schon vor zwei Monaten gewußt habe, daß er nach Litauen werde fahren müssen, um dort gegen die Jugend vorzugehen. Es stellte sich heraus, daß diese Frauen schon am Sonnabend nach Tytuvėnai aufgebrochen waren, kaum aber hatten sie Šiluva verlassen, kamen schon die Milizmänner und brachten sie in die Milizabteilung, wo sie sie die ganze Nacht festhielten. Der angetrunkene Mann aber sei ein Einheimischer. Er war zu den Nachbarn gegangen und hatte keinen Personalausweis mitge­nommen. Sie steckten auch ihn in die Arrestzelle.

Sie fuhren uns immer weiter und weiter und schließlich ließen sie uns heraus. Sie ließen uns aussteigen und sagten: Jetzt geht hin, wo ihr wollt! Wir marschierten vorwärts. Wo wir uns aber befanden, wußten wir nicht. Der erste, der uns begegnete, erklärte uns: »Von hier aus sind alle Wege weit entfernt, und hier verkehren keine Linienbusse.« Gott verläßt uns aber nicht — ganz unerwartet holte uns ein Personenauto ein und hielt an. Als der gutherzige Fahrer über uns Bescheid wußte, brachte er uns in vier Fahr­ten zur Autobahn. Vom Kryžkalnis das Zuhause zu erreichen, ist nur eine Kleinigkeit: Wir setzten uns in einen Omnibus, und nach einigen Stunden erreichten wir unser altes Vilnius.

Es gab nur wenige Glückliche, die ihr eigentliches Ziel — Tytuvėnai — erreichten. An Šiluva konnte man überhaupt nicht denken. Eine kleine Wall­fahrergruppe, die am 22. August von Kaunas aus losmarschiert war, erreichte am Sonntag nach vielen Erlebnissen die Kirche von Tytuvėnai. Im Städtchen selbst fand die Jagd nach Wallfahrern statt, auf dem Kirchhof setzte die Miliz den Gläubigen nach. Die Einwohner von Kaunas, die alle Schlupf­winkel kannten, gelangten schließlich glücklich bis in die Kirche. Nach allen Sonntagsgottesdiensten gingen die Angereisten in das Städtchen hinaus. Als die Einheimischen die Unbekannten auf der Straße erblickten, versuchten sie mit ihnen ins Gespräch zu kommen, wunderten sich, wie sie nach Ty­tuvėnai gelangt sind, bewunderten ihren Mut und machten ihnen klar, wie viele Kräfte an Regierungsbeamten Tytuvėnai und die Umgebung belagert halten. Die meisten Beamten spazierten mit Rundfunkgeräten ausgerüstet umher. Für die Nacht wurde auf einem hohen Turm ein mächtiger Schein­werfer eingeschaltet, um den Rand des Städtchens und die nähere Umgebung zu beleuchten.

Wie nicht anders zu erwarten, wurde die Wallfahrergruppe von einer Schar von Milizmännern umzingelt. Diese fuhren sie zur Kommandostelle und wollten von ihnen wissen, wie sie in das Städtchen gelangt sind, wo sie über­nachtet haben, wer ihnen den Weg gezeigt hatte usw.

»Es ist schon eine Schande«, sagten die Wallfahrer, »daß wir als freie Bürger eines zivilisierten Landes zugeben müssen, daß wir wie umherstreifende Zigeuner mitten auf dem Feld die Nacht verbringen mußten.«

Die Tatsache, daß beinahe alle Wallfahrer die Hochschulbildung hatten, versetzte die Beamten in Erstaunen.

Die Angereisten wurden sowohl gemeinsam, als auch einzeln verhört. Es war klar, daß der Zweck der Quarantäne war, die religiöse Prozession nach Šiluva zu verhindern. Anschließend verlangten die Wallfahrer, mit der Ko­mödie der Verhöre aufzuhören, die schon etwa drei Stunden gedauert hatte. Nach unklaren Redewendungen und Unterbrechungen, und sogar ohne ein Protokoll gemacht zu haben, erkundigten sich die Milizmänner endlich, in welche Richtung sie weiterfahren möchten. Obwohl die Wall­fahrer schon vermuteten, daß sie betrogen werden, baten sie, man möge sie bis nach Raseiniai bringen. Die Milizmänner setzten die Wallfahrer in einen leeren Omnibus und transportierten sie unter Begleitung der Miliz leider nicht in Richtung Raseiniai, sondern in Richtung Radviliškis... Es hat sich gezeigt, daß diese Vorausahnung der Menschen richtig war. Als sie zum ersten Schlagbaum der Quarantäne gelangt waren, ließen sie die Leute aussteigen. Mit Mühe und Not erreichte die kleine Wallfahrergruppe Rad­viliškis und von dort aus ihr Zuhause.

Warum ergriff die sowjetische Regierung solche Maßnahmen, um die rein religiöse Prozession zu verhindern?

Eine Antwort darauf könnte möglicherweise die Äußerung eines Tschekisten

sein:

»Auch in Polen begann alles mit dem Rosenkranz!«