Am 17. und 18. Januar 1985 fand vor dem Obersten Gericht der LSSR zu Vilnius die Gerichtsverhandlung gegen den Priester Jonas-Kąstytis Matulionis und den Jugendlichen Romas Žemaitis statt. Zu dieser »öffentlichen« Ge­richtsparodie wurden nur die allernächsten Verwandten der Angeklagten zugelassen. Die Bekannten, Freunde und Verwandten, die ständig von den Sicherheitsbeamten und den auf der Straße patrouillierenden Milizmännern beobachtet wurden, beteten in der Kapelle im Tor der Morgenröte. Das Gericht beschuldigte den Priester J. Matulionis gemäß § 199, Teil 3 des StGB, d. h. Organisation einer religiösen Prozession, Störung der Ruhe der Stadt, Behinderung des Verkehrs. R. Žemaitis wurde ebenfalls gemäß § 159, Teil 3 und § 210 des StGB, d. h. Widerstand gegen die Regierungsbeamten beschuldigt. (Als die Gläubigen in der Prozession zum Friedhof gingen, legte R. Žemaitis seine Hand auf die Schultern des Vorsitzenden des Stadt­exekutivkomitees, Gudžiūnas, und hinderte ihn auf diese Weise, zu dem Priester J. Matulionis hinzukommen — Bern. d. Red.).

Die Staatsanwältin Skaudienė beschuldigte die Angeklagten des Vergehens gegen das Statut der religiösen Gemeinschaften, betonte, daß für religiöse Prozessionen eine Sondererlaubnis der Rayon- und Ortsverwaltung unbedingt notwendig sei, daß die Prozession die Ruhe der Einwohner gestört und den Verkehrsfluß gehindert habe und daß R. Žemaitis dadurch, daß er die Kinder und die Jugendlichen zur Prozession eingeladen hatte, aktiv bei der Orga­nisation der Prozession mitgewirkt habe.

Aus der tausendfachen Menschenmenge, die an der Allerseelenprozession zum Friedhof teilgenommen hat, waren zu der Gerichtsverhandlung nur vier Zeugen vorgeladen: Der Pfarrer der Pfarrei, Priester Gintas Steponaitis, der aus ungeklärten Gründen nicht bei der Verhandlung erschienen ist, dann der Vorsitzende des Kirchenkomitees und die zwei Brüder des angeklagten Ju­gendlichen, Arvydas und Edmundas Žemaitis. Alle anderen Zeugen waren Milizmänner, Agenten, Kraftfahrer, eine ungläubige Frau, die aus unerklär­lichen Gründen an diesem Abend in die Kirche gekommen war, der Vor­sitzende des Stadtexekutivkomitees und andere. Die Angeklagten verzichteten auf die Verteidiger und verteidigten sich selber. Die Zeugen redeten stotternd und verwickelten sich in ihren Aussagen in Widersprüche. Als Priester J. Matulionis einen Kraftfahrer fragte, wie lange er wegen der Prozession habe stehen müssen, antwortete dieser, daß er etwa 5 Minuten gestanden sei, bis die Prozession an ihm vorüber war, und daß ihm wegen dieses Anhaltens keinerlei Schaden entstanden sei.

In seiner Verteidigungsrede erklärte Priester J. Matulionis, daß er am Aller­heiligentag kein Vergehen begangen habe. Er habe lediglich als Priester zu­sammen mit den Gläubigen eine religiöse Handlung vorgenommen, auf die im »Zeremonienbuch« hingewiesen werde. Der Angeklagte wunderte sich darüber, wie eine Prozession zum Friedhof, bei der um 20.20 Uhr die Aller­heiligenlitanei gesungen wurde, die Ruhe gestört habe (es ist zudem nicht klar, wessen Ruhe, da das Exekutivkomitee keine einzige Beschwerde erhalten hat), wo doch nicht einmal der oftmalige nächtliche Radau der Betrunkenen auf den Straßen der Stadt die Aufmerksamkeit der Miliz ernstlich auf sich zu lenken vermag. Auf die Anschuldigung, daß die Rayonverwaltung den Pfarrer Priester G. Steponaitis ermahnt habe, daß man nicht zum Friedhof gehen dürfe, und daß der Priester J. Matulionis dies gewußt habe, stellte der Ange­klagte klar, daß es nicht wahr sei, daß er von irgendeiner vorherigen Warnung etwas gewußt habe, und daß der Pfarrer G. Steponaitis ihm nichts derartiges gesagt habe. Während der Verteidigungsrede wurde Priester J. Matulionis sehr oft unterbrochen. In seinem letzten Wort wiederholte Priester J. Ma­tulionis teilweise Ausschnitte aus der Verteidigungsrede, wobei er den Mangel an Nächstenliebe und Toleranz in den gegenseitigen Beziehungen unterstrich. Er erinnerte auch an das grobe Verhalten der Beamten bei der Festnahme — die Flecken, die durch Schläge entstanden sind, waren bis zum Tag der Gerichtsverhandlung noch nicht ganz verschwunden. Priester J. Ma­tulionis bekannte sich nicht als schuldig, bereute seine Tat nicht und sagte, daß er überall, wo er nur sein werde, bemüht sein werde, seine Pflichten als Priester den Menschen gegenüber sorgfältig zu erfüllen. Der Jugendliche R. Žemaitis bedankte sich in seinem letzten Wort bei seinen Eltern für seine religiöse Erziehung, versprach, das Gebet nicht zu vergessen, und sich überall und immer anzustrengen, ein guter und beispielhafter Christ zu sein. Seine Festnahme stellte er unter die Worte Christi: »Haben sie mich verfolgt, so werden sie auch euch verfolgen . . . Der Jünger ist nicht über dem Mei­ster .. .« Er erinnerte das Gericht in seiner Rede daran, daß er schon auf der Schulbank nicht selten wegen seiner Überzeugungen gelitten habe, und als er sich einmal geweigert habe, die Rote Fahne zu tragen, habe ihm die Klas­senlehrerin sogar mit der Grenze Chinas gedroht.

Gerichtsbeschluß: Priester J. Matulionis wurde gemäß § 199, Teil 3 des StGB zu drei Jahren Freiheitsentzug verurteilt; die Strafe ist in einem Lager mit allgemeinem Regime zu verbüßen. R. Žemaitis wurde gemäß § 199, Teil 3 und § 201 des StGB zu zwei Jahren Freiheitsentzug verurteilt; die Strafe ist in einem Lager mit allgemeinem Regime zu verbüßen.