Ende Oktober 1985 fand die schon so oft verschobene traditionelle Begegnung des Schuljahrsbeginns der Seminaristen mit dem Bevollmächtigten des Rates für Religionsangelegenheiten P. Anilionis statt. In seiner Rede schilderte P. Anilionis die wichtigsten Erscheinungen des »religiösen Extremismus« in der Tätigkeit der Katholischen Kirche in Litauen. Zu Beginn berührte er eine innere Angelegenheit der Kirche, die Wahl des Priesterrates im vergan­genen Jahr. P. Anilionis behauptete, entgegen den Kanones der Kirche, daß die Bischofskonferenz das Recht habe, allen Priesterräten der Diözesen ein gemeinsames Statut aufzuzwingen. Der Verwalter der Diözese Panevėžys, Prälat Kazimieras Dulksnys und der Konsultator der Erzdiözese Vilnius, Priester Donatas Valiukonis wurden öffentlich wegen ihres Widerstands gegen die nichtkanonische Einmischung der Zivilregierung in die Zusam­mensetzung des Priesterrates und des Konsultorenkollegiums angegriffen. Prälat K. Dulksnys wurde beschuldigt, daß er die Priester nicht mäßige, wenn diese Aktivität im Kampf gegen Gottlosigkeit zeigen; er reagierte aber sofort, wenn Verdächtigungen im moralischen Bereich auf die Priester fallen. Das sei, angeblich, eine Begünstigung der Extremisten; eine derartige Taktik des Verwalters sei, nach Ansicht von P. Anilionis, eine Schande für die Katholische Kirche. Priester Rokas Puzonas wurde angegriffen, weil er dem Bevollmächtigten nach während der Pfingstfeierlichkeiten in Vepriai beim Begehen der Kreuzwegstationen acht Predigten gehalten habe. An dieser Stelle zitierte er das »Liturgische Gebetbuch«, wo gesagt wird, daß man sich bei der Pfingstprozession in Gedanken der Mutter Jesu, Maria, und den Aposteln anschließen soll, die im Abendmahlsaal beten. Wem aber soll man sich nach Priester R. Puzonas laut seinen Predigten anschließen? »Den Lei­denden«, wie der Redner sagte, den »Banditen wegen ihrer antisowjetischen Tätigkeit« und ihm, dem Priester selbst, der sich als in Sibirien Geborener vorgestellt habe!, regte sich P. Anilionis auf.

In ähnlichem Ton sprach der Bevollmächtigte auch über das Sammeln der Unterschriften an Weihnachten 1984 in der Kirche von Šakiai für die Frei­lassung des Priesters Jonas-Kąstytis Matulionis. Die Frauen, die ein klöster­liches Leben führen, kümmere angeblich nicht das Weihnachtsfest, das Fest der Geburt Christi, sondern vielmehr der Gefangene J. K. Matulionis. Das Sammeln von Unterschriften, um einen inhaftierten Priester zu verteidigen, habe nach Ansicht des Bevollmächtigten weder etwas mit Christus noch mit der Religion zu tun. Solche Exzesse des P. Anilionis stellen eine Aufforde­rung dar, das Evangelium Christi durch ein von den Gottlosen zensuriertes Evangelium zu ersetzen, das die zukünftigen Priester des sowjetischen Li­tauens eifrig verkünden sollten.

In keine geringere Ungnade ist auch der Pfarrer der Pfarrei Pociūnėliai, Priester Antanas Jokubauskas, wegen seiner Predigten gefallen, die er wäh­rend der St. Casimir-Feierlichkeiten in der Kirche St. Peter und Paul und während der Ablaßfeierlichkeiten in der Kapelle der Morgenröte in Vilnius gehalten hat. Er habe angeblich die Gläubigen aufgefordert, nicht den Hl. Casimir zu verehren, weil es neue Priester-Märtyrer, nämlich Alfonsas Svarinskas und Sigitas Tamkevičius gebe.

Der Redner behauptete lügenhaft, daß der Kanoniker Bronius Antanaitis den Priester A. Jokubauskas zu der Ablaßfeier vom Tor der Morgenröte gebracht habe. Kindisch klang der Gedanke des Bevollmächtigten, daß an­geblich bei der Predigt von Priester A. Jokubauskas während des litauischen Gottesdienstes der größte Teil der Zuhörer Polen gewesen seien, die sich über das nach dem Gottesdienst gesungene »Lietuva brangi« (Teures Li­tauen) von Maironis geärgert hätten.

Hat P. Anilionis sich nicht etwas zuviel erlaubt, wenn er behauptete, daß die Gläubigen der Stadt Vilnius über die Predigten des Priesters A. Jokubauskas verärgert seien? Welches Recht hat ein Atheist, im Namen der Gläubigen zu reden?

In dem Bemühen, die Zuhörer zu überzeugen, daß die Gottlosenregierung nicht versucht habe, vor den Jubiläumsfeierlichkeiten des hl. Casimir die Restaurierung an der St. Peter und Paul-Kirche zu behindern, erklärte der Bevollmächtigte, daß dies durch den Schriftverkehr der Priester dieser Kirche mit den Regierungsbehörden wie auch durch die registrierten Telefonge­spräche der Priester belegbar sei (So steht es also um die Zusicherung der Geheimhaltung der Telefongespräche!).

»Das schlimmste ist, daß sich der Extremismus auch im Priesterseminar zu Kaunas zeigt«, stellte der Bevollmächtigte P. Anilionis fest. Ein solcher Exzeß soll stattgefunden haben, als versucht wurde, Literatur in das Prie­sterseminar hineinzubringen, die das Oberste Gericht der SSR Litauen für antisowjetisch erklärt hat (es war das Buch »Žmogus be Dievo« — Mensch ohne Gott« von J. Girnius). Der Stil der Tätigkeit der extremistischen Prie­ster sei derselbe wie der der polnischen Priester-Extremisten: Z. B. wurde sowohl in Litauen also auch in Polen in den von extremistischen Priestern verwalteten Kirchen Laien erlaubt, in der Kirche zu reden: Nijolė Sadūnaitė in Viduklė, Petras Paulaitis in Josvainiai. Das sei angeblich ein Beweis, daß die ganze Tätigkeit der Extremisten nach geheimen Instruktionen der Zer­störungszentren der USA und der westlichen Staaten ausgeführt werde. Diese »Instruktion« aber, wegen der P. Anilionis empört gewesen ist, ist gar nicht so geheim; auf diese Möglichkeit weist der Kodex des kirchlichen kanonischen Rechts (siehe Can. 759 und Can. 766).

Zum Schluß bemühte sich P. Anilionis, zu beweisen, daß die Unnachgiebigkeit der Kirche der Zivilregierung gegenüber der Religion nichts Gutes gebracht habe und auch nicht bringen werde.

Es ist schmerzlich, daß manche der Dozenten des Priesterseminars in der Rede P. Anilionis nichts entdecken konnten, was im Widerspruch zur Re­ligion stünde, d. h. P. Anilionis versuche ja noch nicht, die Seminaristen zu Gottlosen zu machen. Hat aber jemand von der Leitung des Priesterseminars erklärt, daß diese »Belehrungen« des Bevollmächtigten nicht mit dem Evan­gelium Christi, mit der christlichen Moral und den Kanones der Kirche ver­einbar sind? Werden die Seelen der Priesteramtskandidaten, die noch keine festen Glaubengrundlagen haben, nicht von vornherein schon gelähmt?