Gintautas Iešmantas befindet sich bereits in Verbannung. Er schreibt:

»Schon seit fünf Jahren begleiten mich Ihre Worte und guten Wünsche auf meinem schweren Leidensweg. Sie haben mir Kraft und Freude gegeben, daß mein Opfer nicht in der Dunkelheit des Vergessens verlorengegangen ist, daß es Menschen gibt, die das Schicksal eines unbekannten Menschen kümmert. Heute bin ich schon in der Verbannung, — schon seit 5. April morgens, — und jetzt habe ich die Möglichkeit, mich bei Ihnen für diese unschätzbare geistige Unterstützung, die mir Ihre kurzen Grußsendungen brachten, für die Wärme der Seelen und Herzen, die mich in der Schnee­wüste des Urals trotz aller Hindernisse und eventuellen Unannehmlichkeiten erreicht haben, zu danken. Selbstverständlich ist mir nur ein Teil Ihrer Briefe übergeben worden, und im letzten Jahr habe ich überhaupt keinen bekommen, aber ich spürte, daß sie in meinem Leben da sind und mir helfen, in keinem Augenblick die Hoffnung und den Glauben zu verlieren. Sie waren mir eine berauschende Stimme aus der Heimat — so kostbar und so lieblich in dieser unseligen Ferne.

Die letzten sechs Monate habe ich im 36. Lager verbracht, (...) Pater Alfonsas, so nennen ihn die Gefangenen, ist immer lebhaft, guter Laune und voll Glaube und Zuversicht. Ich freue mich, daß mir das Schicksal die Mög­lichkeit gab, ihn kennenzulernen; denn er ist ein Mensch von bewunderns­werter geistiger Stärke, eines weiten Denkens und einer bezaubernden To­leranz. In meiner Erinnerung wird der Eindruck, den er auf mich gemacht hat, nie verblassen. Wenn man weiß, daß es solche Menschen gibt wie er, dann wird es leichter zu leben; man spürt dann, daß man unter der Last des bitteren Kreuzes, das einem auferlegt wurde, mit ungebrochenem Herzen und zu allem entschlossen durchhalten kann bis zum Ende.

Meine Verbannung sieht genauso aus wie die Verbannung der anderen. Sie ist ein Teil des auferlegten Weges dieser Art. Solange man im Lager ist, schwärmt man: Wenn du erst einmal herauskommst, wird es so oder so, aber immerhin besser. Und als ich gesehen habe, wohin sie mich gebracht haben, war ich buchstäblich zerschmettert. Die einzige Arbeit hier — die Bäume im Wald einschlagen, sie aus dem Wald herausziehen und zu Flößen zusam­menbauen. Es stimmt, es gibt hier auch ein Sägewerk, wenn auch nicht allzu groß. Keine Arbeit also, die für mich geeignet wäre. Am Anfang habe ich eine bekommen, aber als der Arzt erfahren hat, wer ich bin, fragte er mich gleich: »Kannst du diese Arbeit, verstehst du, was das für Arbeit ist?« Selbst verständlich hatte ich nicht die geringste Ahnung davon. Das berücksichti­gend, daß die Handfläche meiner rechten Hand krank ist und eine Operation nötig sein wird, schrieb er eine Resolution, in der er wünschte, mir eine Arbeit zuzuteilen, die nicht mit Heben schwerer Sachen verbunden ist. Auf diese Weise bin ich ein Wächter geworden (in demselben Sägewerk). Ich weiß es nicht, soll ich mich darüber freuen oder traurig sein, es ist aber wahrscheinlich der beste Ausweg. Ich habe viel freie Zeit, der Tag, der eine oder der andere Sonnabend oder Sonntag ausgenommen, gehört mir. Heute um 4 Uhr gehe ich zum zweiten Mal zu dieser Arbeit. Ich wohne in einem Internat zu zweien, zusammen mit einem Weißrussen aus Transkarpatien. Er lobt unvergleichlich viel die sowjetische Rgierung und schimpft über Kapi­talismus. Es ist aber seine Sache. Ich lasse mich ins Gespräch nicht ein, bin mit niemandem befreundet, schon gar nicht in meiner Lage, denn im Rayon Wuktil bin ich der einzige Vogel dieser Art. Mit dieser Haltung kommt man, wie sich gezeigt hat, am leichtesten durch. Die Ortschaft selbst ist nicht klein, man sagt, daß sie etwa dreitausend Einwohner hat. Aber sie ist nicht be­sonders schön ausgebaut. Nebenan fließt die Petschora, auf der im Sommer Schiffe fahren und Flöße transportiert werden. Es gibt, ich glaube, drei Le­bensmittelgeschäfte, ein Krankenhaus und eine Mittelschule. Die Häuser sind aus Holz, nur erdgeschössig, ausgenommen die Internate und Verwal­tungsbauten.

Ich beginne mich allmählich einzugewöhnen. Jetzt sieht alles schon anders aus. Aus Podtscherje nach Wuktil fahren Omnibusse (etwa 20 Kilometer weit), von Wuktil bis nach Uchta (etwa 118 km) fliegt ein Flugzeug und von Uchta nach Moskau verkehrt ein Linienflugzeug oder fährt ein Zug (Wor-kuta — Moskau). Später wird es wahrscheinlich nötig sein, sich ein einzelnes Zimmer zu besorgen. Hoffentlich werden die Winter nicht sehr kalt! Ich kann mich an die Kälte überhaupt nicht gewöhnen, hier aber erreicht sie sogar bis 50 Grad. Ich hoffe, daß alles gut gehen wird, um so mehr, weil, wie Sie schon gemerkt haben, auch hier »wacht mein guter Engel über mich« (...) Nehmen Sie meine besten Wünsche an!

P.S. Bei der Entlassung aus dem Lager haben sie mir alle meine Briefe weggenommen.«

Podtscherje, am 14. April 1986

Die Adresse von Gintautas Iešmantas:

169715 Komi ASSR Wuktilskij r-on

pos. Podtscherje, ul. Sowetskaja, obšč. N. 1 Gintautas Iešmantas

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Priester Sigitas Tamkevičius schreibt:

»(...) Ich danke allen für alles. So möchte man am liebsten an die Worte des Johannes Chrysostomos denken: »Du gibst Brot, und bekommst das ewige Leben, gibst Kleidung, und bekommst den Mantel der Unsterblichkeit, gibst vergängliche Güter, und bekommst dafür ewige... Du bekommst mehr, als du hergibst.«

Das kostbarste Geschenk für mich war die Heilige Schrift. Ich lese in meinen freien Stunden darin und überlege die Worte des Herrn in meinem Herzen. Solange ich in der Freiheit gelebt habe, gab es viele Arbeiten und Sorgen, und so blieb vieles undurchdacht und man hat sich zu wenig darin vertieft. Gott hat mich hierher in den Ural gebracht und mir so die Voraussetzung für lange Exerzitien gegeben, damit ich die Worte des Herrn besser höre und intensiver den Geschmack des Brotes des Herrn kennenlerne. Die drei Apostel riefen in der Nähe des Herrn aus: »Hier ist gut sein .. .!« Wo immer wir auch sind — in der Freiheit oder Unfreiheit, am Altar oder an den Töpfen in der Küche — die Nähe Gottes erfreut uns und gibt uns Trost. Steht mir mit Euren Gebeten bei, damit diese Nähe Gottes zur Wirklichkeit in meinem Leben werde ...

(...) In meinem Alltag gibt es nichts Neues. Der Wecker weckt jeden zwei­ten Tag zur Arbeit — dies ist mein Nazareth. .. Ich versuche mich in den Ernst und die Einkehr der Fastenzeit einzufügen. Wie schnell vergeht die Zeit. Manchmal überfällt mich die Angst: Gib mir, mein Herr, daß die schnell dahineilenden Tage nicht leer bleiben, daß ich wenigstens ein klein wenig zur Verbreitung des Königreichs Gottes dienen kann... Denen, die mich mit ihren Grüßen und mit ihrem Gebet besuchen, bin ich sehr dankbar.«

Am 14. Februar 1986

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Aus einem Brief der Jadvyga Bieliauskienė:

» ... Ich habe drei Rückschläge erlitten, bin also schwer krank gewesen — vielleicht ein Zeichen dafür, daß mein Opfer angenommen worden ist! Meine Seele aber durchstrahlte ein ungeahntes klares Licht, das mich in diesen Schwierigkeiten, die ich früher niemals erleben mußte, immer begleitete und auch jetzt noch begleitet in eine immer größere und tiefere Selbstentsagung hinein, die es mir in immer neuen Farben aufscheinen läßt; vielleicht be­gleitet es mich hinein bis in das letzte vollkommene Opfer, den Tod. Sollte dies geschehen, dann freut Euch und lobet den Herrn, daß er auch das demütige Opfer einer gänzlich Unwürdigen, die so oft auf Abwegen gewan­dert ist, annimmt für unsere Kleinsten, die Kinder, für die Rettung von der verderblichen Trunksucht und ihren Folgen, wie der Zerfall der Familien, verwahrloste Kinder oder Mißgeburten, die sinkende Moral, den Unglauben.

Die Gnade des Glaubens ermöglicht es auch dem einfachsten Gläubigen, das Leiden als eine unbedingt reinigende Kraft zu erkennen. Ich habe verstan­den, daß das Leiden jedoch nur dann fruchtbringend sein kann, wenn man es in Demut auf sich nimmt — erst dann öffnet es einem die Augen der Seele.

Der herzliche Wunsch, unseren gefallenen Liebsten wieder aufzuhelfen, gibt unserem Leiden einen Sinn, nämlich ihre Rettung; wir selber werden daher von der Angst vor dem Leiden befreit und wachsen in der Liebe. »Wer Angst hat, der liebt nicht genug«, sagt der Apostel der Liebe. Wie viele Unglückliche gibt es doch, die diese Welt verlassen, ohne zur Liebe erwacht zu sein! Ich bete deswegen inständig, daß der barmherzige Gott sie wenigstens in der Stunde des Todes noch erwecke ... Ich grüße alle, alle.

Immer mit Euch, meine Liebsten, zu Füßen des eucharistischen Jesus, un­seres Erlösers.«