An den Generalsekretär des ZK der KPdSU, M. Gorbatschow Erklärung

der Marytė Gudaitytė, wohnhaft im Rayon Prienai, Dorf Skersbalys

In der Hoffnung, daß mein Ersuchen erfüllt wird, wende ich mich noch einmal an Sie.

Am 27. März 1985 hat mich die Direktion der Pranas-Maželis-Medizin-schule zu Kaunas in den Sicherheitsdienstpalast in Kaunas zu dem Sicher­heitsbeamten Jocas geschickt. Der Sicherheitsbeamte sagte mir während einer Unterredung, ich werde nicht mehr weiterstudieren dürfen, weil ich an die verhafteten Priester S. Tamkevičius und A. Svarinskas zum Weih­nachtsfest Glückwunschkarten geschrieben habe. Während wir uns noch unterhielten, kam noch ein Sicherheitsbeamter herein, der erklärte, daß ich nicht mehr werde weiterstudieren dürfen, weil man mir als Krankenschwe­ster kein Vertrauen mehr schenken könnte, denn es sei möglich, daß ich meinen Feinden (wie sie wörtlich sagten) an Stelle der Medikamente ein Gift verabreichen könnte.

Die Direktorin der Schule, Tamašauskienė, sagte zu mir, daß sie mich nicht von der Schule verweisen würde, sondern daß dies der Sicherheitsdienst verlange, und sie sei verpflichtet, seinen Anordnungen nachzukommen.

Ich bin am 9. April 1985 gemäß Anordnung Nr. 198 »wegen eines Ver­haltens, das sich mit einem sowjetischen Schüler nicht vereinbaren läßt« von der P. Maželis-Medizinschule verwiesen worden.

Am 12. 4. 1985 fuhr ich mit meinem Vater in das Ministerium für Hoch-und Fachschulbildung. Der Mitarbeiter des Ministeriums, Stanys, hat uns empfangen. Er erklärte uns, daß ich rechtens von der Schule verwiesen sei, daß ich aber nächstes Jahr mein Studium werde abschließen dürfen. An­schließend hat mich irgendein Beamter namens Šnipas zu sich gerufen. Er machte mir klar, daß das Schreiben der Briefe an die Priester Tamkevičius und Svarinskas ein großes Vergehen sei. Das sei eine antisowjetische Tätig­keit, und da ich und mein Vater Extremisten seien, sei meine Verweisung von der Schule rechtens.

Im Mai desselben Jahres schrieb ich eine Erklärung an Sie mit der Bitte, mir zu erlauben, die Schule abzuschließen. Ich bekam vom Bildungsmini­sterium eine negative Antwort.

Am 4. 4. 1986 fuhr ich wieder in das Ministerium für Hoch- und Fach­schulbildung. Stanys sagte zu mir, ich soll in die Pranas- Maželis-Medizin-schule nach Kaunas fahren. Am 5. 4. 1986 fuhr ich dorthin. Der Stellver­treter der Schuldirektorin Grigas sagte mir, daß ich an dieser Schule nicht werde weiterstudieren dürfen und riet mir, in einer anderen Medizinschule anzufangen. Am 11. 4. 1986 fuhr ich in die Medizinschule nach Utena. Als die Schuldirektorin alles über mich erfuhr, wunderte sie sich nur, wie ich noch im Kindergarten arbeiten dürfe, und erlaubte mir nicht, weiterzustu-dieren. Sie riet mir, mich an die P. Maželis-Medizinschule in Kaunas zu wenden.

Ich bitte Sie deswegen, helfen Sie mir, die Schule abzuschließen. Ich will Krankenschwester werden und den Menschen helfen.

(Auf diese Erklärung von M. Gudaitytė gab bis jetzt noch niemand eine Antwort, und bislang hat sie noch keine Möglichkeit, das begonnene Stu­dium abzuschließen — Anm. d. Red.)

Adutiškis (Rayon Švenčionys)

In der letzten Zeit ist die Verfolgung der Schüler wegen religiösen Prakti­zierens in Adutiškis besonders stark geworden. Die Lehrer, die sich mit der atheistischen Propaganda in der Schule nicht begnügen, gehen zu den Eltern der Schüler und versuchen sie einzuschüchtern, indem sie ihnen mit verschiedenen Strafen drohen, wenn sie ihre Kinder auch weiterhin in die Kirche gehen ließen. Besonders stark greift der Lehrer Krivickas die Eltern an.

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Erläuterung zu dem Artikel »Konfliktas gimtadienio diena« — »Ein Kon­flikt am Geburtstag« von Aldona Svirbutavičiūtė.

Am 28. März 1987 antwortete die »Komjaunimo tiesa« — »Die Wahrheit der Kommunistischen Jugend« mit einem langen Artikel auf die Beschwerde der gläubigen Eltern wegen des Konflikts im Rayon Alytus, Dorf Mak-niūnai, wo 50 Kinder sich versammelt hatten, um den Geburtstag der Schwestern Gražulytė zu feiern und wo sie von Milizmännern, Lehrern und anderen »Aktivisten« grob überfallen und vernommen wurden. Die Tendenzen der »Offenheit« und der »Demokratisierung« unterstreichend, kommentiert die Korrespondentin dieser Zeitung weitläufig die Antwort des obersten Stellvertreters des Staatsanwaltes der LSSR, J. Bakučionis, auf die Beschwerde der Eltern. Aufmerksamkeit erweckten manche Eigen­schalten des Stils und des Inhalts dieses Kommentars, — und darüber möchten wir auch diskutieren.

Die Korrespondentin beginnt ihren Artikel mit den Gedanken einer Teil­nehmerin dieses Geburtstags, daß es lustig bei der Abendveranstaltung werde, wenn die Eltern es erlaubten, zu tanzen und zu singen. Daß es sich dabei, wie die Juristen sagen, um ein Vergehen handelt, wissen wir nicht. Aber... Etwas weiter werden Bruchstücke aus der Erklärung der Eltern zitiert: »Janina und Angelė Gražulytė haben unsere Kinder zu ihrem Ge­burtstag eingeladen. Wir haben sie unter der Bedingung gelassen, daß bei dem Beisammensein auch Erwachsene sind, und außerdem, daß die Kinder um 23 Uhr zu Hause sein müssen. 10 Minuten nach 22 Uhr fuhr ein Auto in den Hof hinein ...Die Beamten drangen mit Gewalt in die Räume ein, wo der Geburtstag gefeiert wurde... Dieses Eindringen begründeten sie damit, daß eine Streife durch die Kulturhäuser im Rayon Alytus gemacht werde. Anschließend begann der Milizmajor die Kinder zu vernehmen und einzuschüchtern. Er verlangte von ihnen, ihre Namen und Vornamen zu sagen... Wir, die Eltern, protestieren gegen solche Willkür der Beamten . . . Welches Vergehen haben die Kinder begangen, wenn sie ohne Alkohol in geschlossenen Räumen unter Aufsicht der Erwachsenen einen Geburtstag gefeiert haben? Was haben sie den Schreckliches verbrochen? Unter der Beschwerde waren 11 Unterschriften.«

Obwohl A. Svirbutavičiūtė, wie schon gesagt, nur Auszüge des Eltern­briefes wiedergibt, beeilt sie sich sofort, wie vor einem kurzen unverschönten (uns aber, den Katholiken Litauens, so gewohnten!) Anblick der Realität erschrocken, ihn zu verbergen: »Ich sage gleich: die Eltern sind im Unrecht. Sie wissen ganz genau, daß die Kinder die Verhaltensregeln der Minder­jährigen verletzt haben.« Wenn man weiter versucht, sich in die verwirrten, nebeligen Artikel zu vertiefen, bleibt das »Wesen« der Verletzung immer noch unklar. Die gesamte schwere »Artillerie« der Anklage liegt darin, daß die Kinder noch nach 22 Uhr zu Gast gewesen sind. Es ist aber sonderbar: Wir alle wissen doch, daß die Presse der Republik wie auch die der Rayons sich nicht selten darum Sorgen macht, daß die Mehrheit der sogenannten Diskotheken und Tanzveranstaltungen im günstigsten Fall etwa um 24 Uhr erst beginnen und bis 3 Uhr in der Nacht dauern. Und daran nehmen leider nicht nur die Volljährigen teil, von der Nüchternheit und Erwachsenenauf­sicht wollen wir lieber gar nicht reden — und um so mehr, weil über die »Kultur« der Schlägereien und die »Subtilität« der Nachtorgien auch die offizielle Presse schon halblaut spricht. Versuchen Sie doch einmal 50 junge Menschen zusammenzubringen und eine Geburtstagsfeier zu veranstalten, bei der sich die Jugend vergnügen, unter Aufsicht der Erwachsenen tanzen und von selber, aus eigenem Antrieb Volkslieder singen würde! Klingt das nicht beinahe wie ein Märchen, wenn man unsere Jugend vor dem Hinter­grund der heutigen verderblichen Demoralisierung anschaut? Sowohl die Teilnehmer der Streife als auch die Korrespondentin hätten wenigstens nach dieser Konfrontation mit einem solchen Phänomen während der Ge­burtstagsfeier bei der Familie Gražulis sich bei den Veranstaltern dieses Beisammenseins und bei den Eltern der Kinder bedanken und sich wundern können, welche Motivation, welche Art von Erziehung diese Jugend so edel geformt hat und welche weltanschauliche Stütze sie so zu halten vermag?

Wie wir aus dem Protestschreiben der Eltern wissen, geschah leider genau das Gegenteil. Wo liegt der Grund der Unzufriedenheit der Beamten? Durch bedeutungsvolle Andeutungen des Artikels und durch vereinzelte Phrasen aus der Vernehmung der Kinder schlüpft langsam die Wahrheit heraus .. . »Wir haben bei der Familie Gražulis gemeinsam ein Gebet ge­sprochen und getanzt...«, »Im Saal war ein hölzernes Kreuz an der Wand...«, »Was hat die Teilnehmer dieses Zusammenseins miteinander verbunden? Vielleicht Verwandtschaft? — Nein« — stellt die Verfasserin des Artikels klar, »denn nicht nur die Mitglieder der Familie Gražulis haben daran teilgenommen.« Vielleicht Freundschaft? Aber befreundet kann man, nach Ansicht der Verfasserin, nur mit Gleichaltrigen sein, hier waren aber auch ältere und sogar Unbekannte dabei! Welch eine Krimina­lität! Traut euch nicht, ihr Litauer, euch zu versammeln, wenn ihr nicht Mitglieder einer Familie seid, wenn euch (o Schreck!) möglicherweise nicht die Verwandtschaft, nicht das Alter, nicht der Beruf, sondern das an der Wand hängende Kreuz Christi verbindet! Was spielt das für eine Rolle, wenn Es auch die Quelle ihrer Nüchternheit, ihrer Lieder und ihrer jugend­lichen Freude ist! Was spielt das für eine Rolle, wenn Es auch die Quelle ihrer Verehrung den Eltern gegenüber, ihrer Verbundenheit mit ihnen, ihrer Gemeinsamkeit, ihres Vertrauens zu ihnen ist! Traut euch bloß nicht! Solltet ihr es aber trotzdem wagen, dann warten auf euch Streifen und Ver­höre, wie sie in Makniūnai beschrieben werden. Es ist aber zu bezweifeln, ob wir dieses von der Verfasserin vorgelegte Reglement der Geburtstagsfeier — nur die Mitglieder der Familie, nur Gleichaltrige, keine jüngeren als die Jugend selbst, keine Unbekannten — auch bei den durch Begegnungen mit Soldaten bekanntgewordenen Abendveranstaltungen in Kulturhäusern anwenden können, die unter Vorwand einer »internationalen Erziehung« von den Schulen veranstaltet werden? Wie wir sehen, sind die Kriterien der Beurteilung unterschiedlich, und dieser Unterschied trennt unsere Gesell­schaft mit einem tiefen Riß in zwei ungleich beurteilte Teile, bei denen es nicht mehr nur um die äußere Gestaltung einer Geburtstagsfeier geht.

In der Zeitschrift »Jaunimo gretose« — »In den Reihen der Jugend« wurde in der 1. und 2. Nummer dieses Jahres mit ernster Aufmerksamkeit und sogar peinlicher Genauigkeit versucht, in die innere Welt der litauischen Punks — angefangen bei der farbigen Haartracht und den mit Nieten be­spickten Unterjacken bis zu ihrer Philosophie und Rezeptur, wie man sich mit der »Chemie«, die billiger als Schnaps ist, betäuben kann — vorzudrin­gen. Das sei angeblich das Globalproblem der Gesellschaft. Wo kommen sie her? Warum sind sie so?! Hat aber vielleicht eine bescheidene Nachricht in der Presse daran erinnert, daß es in Litauen Tausende katholischer Ju­gendlicher gibt, die nach positiven Idealen leben, die auch ohne Schnaps vergnügt sein können, das im Artikel erwähnte Volkslied schätzen, Inter­esse für das kulturelle Erbe zeigen und es bewahren; die fähig sind, keusch zu lieben und harmonische, glückliche Familien zu gründen? Hat vielleicht ein einziger Soziologe, eine einzige Veröffentlichung Interesse gezeigt, wo­her sie das alles haben und welches Prinzip solche Eigenschaften im Men­schen entwickelt, wenn die Umgebung ganz öffentlich sittenlos und dagegen ist? Keineswegs, — wir sind von den Punks noch weit entfernt, und wenn auch für uns jemand Interesse zeigt, dann höchstens die KGB-Beamten oder die ihnen ähnlichen Streifenangehörigen . .. Selbstverständlich begeh­ren wir keine Belobigung der Regierung, denn wir leben Gott zuliebe so und nicht ihretwegen. Und trotzdem — wir haben schon lange die Ungleich­heit der ausdrucksvollen Anschauungen gemerkt. In einer Wand in der Hauptstraße prangt schon jahrelang ein fremdes Fluchwort. Soll nur einmal jemand versuchen, »Freiheit für den Glauben!«, »Freiheit den politischen Gefangenen!« hinzuschreiben! Noch in derselben Nacht werden nicht nur der Verputz, sondern auch die Steine abgekratzt.. . Wegen dieser offen­sichtlichen Beurteilungsunterschiede muß nvan zugeben: Die Familie Grazulis hat recht, wenn sie in der Erklärung (über die die Korrespondentin so ver­ärgert ist) schreibt, daß »die Gläubigen verfolgt werden«, »terrorisiert werden«, wenn sie fragt: »Wo ist die Gewissensfreiheit?« Und, wie man sieht, gibt es nicht ohne Grund soviel Verzweiflung in den Augen der von der Verfasserin befragten kleinen Schüler, die Svirbutaviciūte bemerkt zu haben meint.

Svirbutavičiūtė schließt ihren Artikel mit einer für die atheistische Pädagogik sehr charakteristischen Belobigung eines Jungen, der »ein Mann ist«, weil er »Beim Versuch der Großmutter, ihn zu überreden, in die Kirche zu gehen — hoppla, durchs Fenster und ab...«. Und weiter: »Die Kinder suchen sich ihren Weg aus. Sie sollen ihn selber wählen und selbständig aussuchen. Man lasse sie sich den geraden Weg aussuchen, ohne Irrwege.«

Jawohl, Korrespondentin, die von Ihnen beschriebenen Kinder haben ihren Weg ausgesucht — wie Sie selber gemerkt haben — ohne Alkohol, mit litauischen Liedern, unter Aufsicht der Eltern. Aber sowohl Ihnen, wie auch den Teilnehmern der Streife, erschien er uneben und voller Irrwege. Sie bieten an, einen anderen auszusuchen. Nur die Geradlinigkeit dieses Weges, den Sie leichtsinnig anbieten — »hoppla, durchs Fenster und ab...« ist zweifelhaft. Aber wenn Sie schon über die Wege zu reden begonnen haben, dann erlauben Sie mir mit dem herrlichen Schlußakt des Films »Atgaila« — »Die Reue« von Tangiz Abulatsch abzuschließen. Erinnern Sie sich noch — zu der Hauptdarstellerin kommt ein altes Weibchen angehumpelt und fragt, ob diese Straße zum Tempel führe. Es bekommt die Antwort, daß es die Straße sei, die nach dem Diktator benannt wurde, der den Tempel zerstört habe und daß sie zu keinem Tempel führe. Das alte Weibchen staunt: »Wozu dann überhaupt noch so eine Straße, die zu keinem Tempel führt?!«