(Eine Predigt des Kardinals Vincentas Sladkevičius, gehalten am 12. Juli 1988 in Marijampolė, aus Anlaß der Feierlichkeiten des seligen Erzbischofs Jurgis Matulaitis.)

»Ich bin von einer weiten Reise zurückgekommen, aus dem Zentrum unserer Christenheit, aus der ewigen Stadt Rom, und bringe Euch mit das Wohlwollen und die Liebe des Heiligen Vaters und darüber hinaus einen für unser Land bestätigten Kardinalstitel, also Anerkennung und Ehre. Wem gehört dieser Titel, diese Ehre und diese Auszeichnung? Nicht mir, meine Teuren, sondern Euch, dem ganzen Volk Litauens, dem christlichen Litauen. Ihm ist dieser Kardinalstitel, ihm ist diese Kardinalsehre, diese hohe Auszeichnung zuteil geworden! Ihr seid die Inhaber dieses Titels und dieser Ehren, ich bin nur der Träger, der dies alles in seinen Händen und in seinem Herzen hat. Ich selbst bin nicht würdig dieses Titels. Ihr, genauer unser ganzes Volk, hat durch sein 600-jähriges christliches Leben, durch seine Opferbereitschaft, durch sein Leiden, durch seine Treue zum Heiligen Stuhl, durch sein hohes sittliches Leben und die schöne erhabene litauische christliche Kultur diesen ehrenvollen Titel des Kardinals, diese Ehre und diese Auszeichnung verdient. Jetzt können wir sagen, daß unser Volk ein auserwähltes Volk ist. Der heilige Paulus hat seinerzeit gesagt: Ihr seid ein erlesenes Geschlecht, ein auserwähltes Volk, eine königliche Priesterschaft. Und wenn er heute hier stehen würde, dann würde er sagen: Ihr seid das auserwählte Volk.

Daß dieser Kardinalstitel nicht mir gehört, sondern Euch, daß es Euer Eigentum ist, das wollte auch der Heilige Vater mit seinen Worten unter­streichen: „Ich gratuliere in Liebe und erteile meinen Segen in Ihrer Per­son der Kirche Litauens und dem ganzen litauischen Volke. Ich empfehle die Kirche Litauens und das litauische Volk der heiligsten Jungfrau Maria, die die Litauer so lieben und die sie unter dem schönen Namen ,Mutter der Barmherzigkeit' anrufen. Die Ernennung eines litauischen Bischofs zu einem Kardinal der Römischen Katholischen Kirche in diesem Mariani­schen Jahr ist ein Geschenk Mariens an Ihr Volk... Seid Ihr dankbar und bemüht Euch, dessen würdig zu sein. Möge Euch die heiligste Jungfrau Maria von Ihrem göttlichen Sohn die Fülle Seiner Gaben und Seines Segens erflehen."

Als mir Papst Johannes-Paul II. am Mittwoch auf dem Petersplatz in Anwesenheit von Kardinälen, Bischöfen und einer großen Menge von Pil­gern den Kardinalsring angesteckt hatte, entstand vor meinem inneren Auge wie von selbst die unvergeßliche Szene aus dem Evangelium, in der wir Zachäus sehen, wie er sich bemüht, auf irgendeine Weise Jesus zu sehen; doch bei der Volksmenge konnte er es nicht, denn er war klein von Gestalt. Da lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um ihn zu sehen; denn da sollte er vorbeikommen. Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und sagte zu ihm: „Zachäus, steig schnell herab; denn heute muß ich in deinem Haus bleiben." Dieses Bild aus dem Evangelium spiegelt auf eine wunderbare Weise die Geschichte unseres Volkes wider. Die Litauer sehnten sich seit vielen Jahrhunderten, Jesus zu sehen. Die heidnische Religion der Litauer bezeugt, daß sie nach Gott gesucht haben, daß sie Gott in den Geheimnissen der Natur verehrten, in denen sich die Schönheit Gottes, seine Allmacht und seine Weisheit widerspiegeln; sie sehnten sich nach dem wahren Gott, nach dem, der nach den Worten des hl. Paulus ein Abbild des unsichtbaren Gottes ist. Leider haben die christ­lichen Völker jener Zeiten den Litauern nicht nur nicht geholfen, Jesus zu finden, sondern im Gegenteil, sie hinderten sie daran und verstellten ihnen die Sicht auf ihn, so wie die tobende Menschenmenge ihn vor Zachäus ver­stellt hatte. Papst Johannes-Paul II. schreibt in seinem apostolischen Brief zur Feier des 600-jährigen Jubiläums der Taufe des litauischen Volkes über die Lage jener Zeiten Folgendes:

„Von zwei Seiten bedroht - vom Osten, von wo die slawischen Völker her­eindrückten, und vom Westen, von wo der schreckenbringende Kreuzritter­orden drang, - schufen Ihre Ahnen schon Anfang des 13. Jahrhunderts einen unabhängigen Staat, der entschlossen war, seine Unabhängigkeit und Freiheit zu verteidigen. Diese besondere politische und geographische Lage macht begreiflich, warum sich die Litauer lange Zeit geweigert haben, das Kreuz von denen zu empfangen, die mit erhobenem Schwert gegen sie zogen und sie zu versklaven drohten." Erst im 14. Jahrhundert erreichte das litauische Volk durch die Fügung der Vorsehung Gottes jene Höhe, von der es Jesus nicht nur sehen, sondern auch seine Stimme - die frohe Botschaft hören konnte: „Heute muß ich in deinem Hause bleiben!" Damals, als das litauische Volk durch die Gaben des Sakramentes der Taufe Jesus angenommen hatte, überströmte die Fülle des Segens Gottes unser Volk - Jesus blieb unter uns wie im eigenen Hause. In diesem Hause wohnt er schon seit sechshundert Jahren und verbreitet darin seinen Segen und teilt in Fülle seine Gaben aus.

Unsere Heiligen, die wir verehren, denen wir folgen und die wir lieben, wie der hl. Casimir, der selige Erzbischof Jurgis Matulaitis, dessen Feier­lichkeiten wir heute so würdevoll begehen, die unzähligen Märtyrer, die um ihres Glaubens willen gestorben sind, an die wir denken mit Bewunde­rung und mit dem Entschluß, ihnen zu folgen, das ganze gläubige Volk, das sich durch seine Einfachheit und Beharrlichkeit im Glauben auszeich­net, sie alle bezeugen schon seit sechs Jahrhunderten ganz deutlich, daß Gott unser Volk mit seiner Gnade begleitet. Ein neues Zeichen seines Segens sehen wir auch in der Erhöhung eines seiner Söhne zu den Ehren und zum Amt eines Kardinals. Er ist in jeder Hinsicht der allerkleinste: Er ist geboren von armen Eltern, 24 Jahre war er aus seinem Bistum verbannt und hatte keinerlei Beziehungen zu den Bischöfen anderer Diözesen oder anderer Länder. Deswegen betrachten unsere Landsleute die Ernennung eines Litauers zum Kardinal völlig begründet als Ehrung und Auszeich­nung des litauischen Volkes selbst. Das ist gleichzeitig auch ein Zeichen der besonderer Liebe und Gewogenheit des Heiligen Vaters zu Litauen. Ich bin selbst Zeuge des ganzen gewesen, als ich an den Abendfeierlichkei­ten vor der Inauguration der Kardinäle teilnahm. Wohin auch immer ich mich begeben mußte, überall hörte man das Wort „Lituania" - Litauen, sein Land, und die Nöte, das Leiden, das Kreuz, das um des Glaubens willen vergossene Blut seiner Kinder wurden genannt. An den Tagen der Feierlichkeiten wurde unsere Sprache sogar im Vatikan wie eine der ersten Sprachen behandelt; auch das in litauischer Sprache gelesene Gemein­schaftsgebet wurde in die Zahl der Gemeinschaftsgebete eingebracht, obwohl viele Kardinäle aus allen Ländern der Welt anwesend waren. Es erklang als zweites nach dem Gebet der Amerikaner und Engländer. Das ist ein Zeichen, daß wir, auf Veranlassung des Heiligen Vaters, auf beson­dere Weise geehrt und anerkannt wurden. Ich bin davon überzeugt, daß das ganze Volk Litauens das empfunden hat, ihr, die ihr hier, im Lande unserer Eltern und Ahnen geblieben seid, und alle, die ausgewandert sind. Die litauische Sprache und das litauische Herz, bis dorthin wie erstarrt, fingen wieder an, in ihrer schönen nationalen Lebendigkeit zu pulsieren. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle einen Brief eines im Ausland lebenden litauischen Mädchens vorlesen: „Ich kenne Ihre Adresse nicht, aber ich hoffe, daß diese meine Worte Sie erreichen werden. Ich bitte Sie sehr um Verzeihung daß ich wage, Ihnen zu schreiben. Sie kennen mich nicht - ich bin eine Litauerin. Ich wurde in Schottland geboren und bin dort auch aufgewachsen. Mein Vater stammte aus Irland und meine Mutter ist Litauerin, deswegen ist Litauen, obwohl ich es noch nie gesehen habe und vielleicht auch nicht sehen werde, mir sehr kostbar. Ich freue mich beim Lesen einer englischen katholischen Zeitschrift, daß der Heilige Vater für Litauen einen Kardinal ernannt hatte, was für Litauen und alle Litauer in der ganzen Welt eine Ehre ist. Ich schreibe heute nur einen kleinen Brief, gratuliere Ihnen in Ihrem neuen Amt und wünsche Ihnen Gottes Segen und Erfolg in Ihrer Arbeit. Meine Wünsche verbinde ich mit meinem Gebet: Mögen Gott und die Mutter Maria Sie in ihrer heiligen Obhut bewahren. In Liebe und Gebet! Eine Ordensfrau, Karmeliterin, die den Namen Maria-Josepha vom Kinde Jesu angenommen hat." An den Tagen der Feierlichkeiten haben viele litauische Auswanderer ihr Litauertum wieder verspürt.

Ich habe mich verpflichtet, nicht nur den Titel des Kardinals, sondern auch mein ganzes Volk, seinen Glauben, die Sprache der Eltern und Ureltern zu beschützen, zu verteidigen und zu bewahren, damit wir alle als Volk des Kardinalstitels würdig bleiben. Ich verstehe sehr gut, welche große Ver­antwortung und welche Schwierigkeiten auf mich warten. Ich sehe auch meine Schwäche und die Grenzen meiner Kräfte, die allen wohl bekannt sind, ich vertraue aber vollkommen, wie seinerzeit David, nicht auf Waffen, nicht auf meine Kräfte, sondern auf den Herrn: Gott ist mein Fels und meine Festung. Gottes Worte aus dem Evangelium stärken mich: „Es genügt dir meine Gnade; denn die Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollendung." Ich freue mich also mit dem Apostel Paulus über meine Schwächen, Schmähungen, Nöte, Verfolgungen, Bedrängnisse um Christi willen, denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark. Ich flehe den All­mächtigen Herrn an: „Gott, ungeachtet meiner Schwachheit und der Schwachheit meines Volkes, mache mich und mein Volk zum Zeichen Dei­nes Segens für alle und überall." Ich vertraue mich selbst und unser kleines Litauen der Obhut der teuersten Mutter Maria und der Fürbitte des seligen Erzbischofs Jurgis Matulaitis an.

Durch die Fürsprache der göttlichen Mutter geschah in jener Zeit zu Kanaa in Galiläa das große Wunder der Umwandlung, wo mit Erstaunen gesagt wurde: „Du hast das Gute aufgehoben bis zuletzt."

Auch um uns herum geschehen heute Zeichen der Umwandlung, auch in unserer Heimat. Heute dürft ihr mit der [litauischen] Trikolore auf unseren Straßen gehen, ihr dürft neben dem von uns so geliebten Lied „Maria, Maria" auch wieder die Nationalhymne Litauens singen. Das sind die ersten Zeichen der Umwandlung, wir warten auf mehr. Wir vertrauen auf Gott. Wir haben noch viel zu wenig von solchen Zeichen der Umwand­lung, wir sind hinsichtlich unseres Glaubens viel zu viel benachteiligt wor­den, wir haben viel zu viel eingebüßt, zu viel verloren und deswegen dür­fen wir heute nicht schweigen und stumm sein. Wenn es heute in unserer Heimat Litauen so viele geschlossene Kirchen gibt, wenn unsere Haupt­stadt ihre Kathedrale nicht hat, wenn die St. Casimir-Kirche zum Hohn in ein Atheistisches Museum umgewandelt ist, können wir denn, wir Litauer, schweigen und uns nur mit den kleinen Krümchen abfinden, die man uns vom Tisch heruntergeworfen hat?! Die atheistische Regierung versucht in ihrer Frechheit zu behaupten, daß wir selber unsere Kirchen schließen wollten oder sie sogar darum gebeten hätten, sie zuzumachen, wo doch in Wirklichkeit Stalin und seine Handlanger sie geschlossen haben. Das ist eine allgemeine Schande! Mit besonderer Frömmigkeit, mit geistigem Auf­schwung, vertrauen wir heute bei der Feier unseres seligen Erzbischofs Jur­gis Matulaitis auf die Gnaden Gottes und die Fürsprache der himmlischen Mutter Maria wie auch unseres seligen Erzbischofs Jurgis Matulaitis. Wir hoffen, daß das begonnene Wunder der Umwandlung in unserer Heimat in seiner vollen Schönheit und in seinem vollen Zauber, in ganzer Wiedergut­machung geschehen wird, das Gott, unserer Schöpfer, für die Treue zur Kirche, für den Gehorsam und die Liebe dem Heiligen Stuhl gegenüber verheißen hat. Unsere erste Pflicht ist es, uns an die Worte der himm­lischen Mutter zu erinnern: „Was er euch sagt, das tut." Wir wollen das tun, was Jesus uns sagt, wir wollen das tun, was er uns durch seine heilige Kirche lehrt.

Dort, in Rom, wurden wir nicht nur erhöht... Unser Litauen wurde auf eine ungewöhnliche Weise vergrößert. Aus der Geschichte wissen wir, daß die Krieger Litauens das Schwarze Meer erreicht haben, heute haben wir aber durch die Erhöhung zum Kardinal Italien erreicht. Eine Pfarrei im Lande Italien ist zu einer Pfarrei Litauens geworden. Durch die Ernennung zum Kardinal durch den Heiligen Vater ist die 18000 Seelen zählende Hl. Geist-Pfarrei unserem Lande Litauen zugesprochen worden. Dort durfte ich die hl. Messe feiern und das Wort Gottes verkünden.

Man braucht keine Kriege, man braucht keine Waffen, um die Welt zu erobern, wir können sie auf eine viel edlere, viel vernünftigere Weise erobern, durch unseren heiligen Glauben, durch unsere Treue zu Gott und der Kirche.

Am Schluß meiner Rede dort, in Italien, in Neu-Litauen, in der neuen litauischen Pfarrei, als ich mich an die Gläubigen wandte, die geistig die Unseren, also Litauer waren, sagte ich: „Ich bin zu Euch gekommen, um Euch zu segnen, um gemeinsam mit Euch hier nach Eurer Meinung und nach meiner Meinung zu beten; ich bin aus einem fernen Land zu Euch gekommen, aus meinem lieben Litauen. Das ist ein kleines Volk, das keine Freiheit mehr hat, das einen Kreuzweg geht, es lebt aber, es besitzt eine eigene reiche nationale Kultur, einen unbeugsamen christlichen Glauben und Treue zum Apostolischen Stuhl. Heimat und Kirche leiden, es ist wahr, aber sie fallen nicht um und verlieren nicht den Mut und die Hoff­nung, im Gegenteil, in lebendigem Glauben wiederholen sie mit dem heili­gen Paulus: ,Wir werden auf alle Weise bedrängt, aber nicht erdrückt, sind hilflos, aber nicht verzweifelt, verfolgt, aber nicht verlassen, niedergewor­fen, doch nicht verloren. Allzeit tragen wir das Hinsterben Jesu an unse­rem Leib, damit auch das Leben Jesu an unserem Leib sichtbar werde.' Heute erinnert sich auch die ganze Welt an das christliche Litauen, bewun­dert den tiefen Glauben unseres Volkes. Unser Glaube ist erprobt und durch das Leiden der unzähligen Bekenner bestätigt worden." Meine Rede schloß ich mit der Zuversicht, daß wir Teilhaber der gegenseitigen geistigen Errungenschaften werden könnten. „Ich möchte und ich bitte den Herrn darum, daß sich Eure und unsere Liebe und Treue zu Christus und seiner Kirche in einem gewaltigen CREDO - ICH GLAUBE ergießen möge; in der Freude des gemeinsamen Glaubens, der den Himmel bestürmt."

Herr, ich glaube, mach mich noch mehr gläubig. Herr du weißt, daß ich und mein ganzes Volk entschlossen sind, Dich von ganzem Herzen, mit ganzer Kraft zu lieben, hilf uns, damit wir Dich immer mehr lieben. Maria, unsere Heiligste Mutter, unterstütze dieses unser Gebet bei Deinem gött­lichen Sohn Jesus Christus. Amen.«

Dieses Jahr hat Litauen eine erfreuliche Nachricht nach der anderen aus dem Vatikan erreicht. Während des „ad limina" Besuches der Bischöfe Litauens beim Heiligen Vater wurde S. Exz. Bischof Vincentas Sladkevičius zum neuen Vorsitzenden der Bischofskonferenz unseres Landes ernannt. Das christliche Litauen freut sich von Herzen über diese Entscheidung des Heiligen Stuhles. Die Ernennung dieses Bischofs, der so lange Jahre in der Verbannung war, in dieses hohe kirchliche Amt, inspiriert die Priester und die Laien Litauens zum weiteren Kampf für die Sache Christi und zur Treue zu Ihm; das gibt ihnen Freude und Kraft, verstärkt aber gleichzeitig auch die Gewißheit, daß der Weg des Kampfes und des Leidens der letzten Jahrzehnte, wo man sich entscheiden mußte, die Schikanen und die Ver­folgungen der Regierungsgottlosen in Kauf zu nehmen, und manche sogar ihre Freiheit und ihr Leben riskierten, doch der richtige gewesen ist.

Anders haben die Behörden der sowjetischen Regierung darauf reagiert. Der Stellvertreter des Vorsitzenden für die Angelegenheiten der Katholi­ken des RfR in Moskau, Kuznecow, verheimlichte deutlich sichtbar sein Mißfallen nicht, als er die aus Rom zurückkehrenden Bischöfe Litauens empfing. Er untersagte ihnen die Weiterreise nach Litauen, bevor sie nicht den Vorsitzenden des RfR, Chartschew, getroffen haben. Er brachte die Bischöfe in ein Hotel, hat aber selbst nicht mit ihnen persönlich beraten, sondern mit den Begleitern Msgr. Antanas Bitvinskas und Priester Pranciš­kus Vaičiakonis, die ihnen gegen ihren Willen zugeteilt worden waren. Erst als sich die ersten Spannungen gelegt hatten, durften die Bischöfe am Sonntag (1. Mai) nach Litauen zurückfahren unter der Bedingung, daß weder der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Bischof Vincentas Sladkevi­čius, noch sein Stellvertreter, Bischof Antanas Vaičius, ohne Zustimmung Moskaus ihr Amt antreten. Unter anderem wurde Bischof V. Sladkevičius in Moskau mit noch einer Überraschung „begrüßt": Als er zusammen mit Bischof A. Vaičius das Hotel für kurze Zeit verlassen hatte, drangen unbe­kannte Personen in ihre Zimmer ein, „überprüften" den Koffer von Bischof Sladkevičius und nahmen die aus Rom mitgebrachten offiziellen Schreiben an sich.

Auch der Bevollmächtigte des RfR in Litauen, Petras Anilionis, zeigte kein Wohlwollen, im Gegenteil. Er schimpfte den neuen Vorsitzenden der Bischofskonferenz wegen seines ersten „unerlaubten" Schrittes aus: Den Beschluß der Bischofskonferenz, Veränderungen in der Leitung des Prie­sterseminars zu Kaunas vorzunehmen, ohne den Bevollmächtigten zu fragen. Erst nachdem man begriff, daß die Verschärfung dieses Konfliktes die bekanntgewordene Politik der Umgestaltung und Demokratisierung im Ausland in ein schiefes Licht bringen könnte, wurde beschlossen, diese Verordnung Roms zu akzeptieren.

Kaum war ein Monat vergangen, als schon wieder eine neue erfreuliche Nachricht aus Rom kam: Der Vorsitzende der litauischen Bischofskonfe­renz, Bischof V. Sladkevičius, ist zum Kardinal ernannt worden. Eine Woge der Freude rollte über Litauen hinweg. Das christliche Litauen, das den Bischof V. Sladkevičius bescheiden nach Rom begleitet hatte, empfing ihn am 7. Juli morgens mit großer Begeisterung und der litauischen Trikolore, als er auf dem Bahnhof in Vilnius und in Kaunas als Kardinal ankam. Besonders eindrucksvoll verlief der Empfang in Kaunus. Zum Empfang des zurückkehrenden litauischen Kardinals kamen die Bischöfe L. Povilo­nis, J. Preikšas, A. Vaičius, die Professoren des Priesterseminars, eine Schar von Priestern und Seminaristen zum Bahnhof. Auf dem Bahnsteig warte­ten festlich gekleidet die Gläubigen, die aus Kaunas, Telšiai, Ukmergė, Kybartai, Marijampolė und anderen Ortschaften Litauens gekommen waren. Am Bahnhof wehten die Trikolore Litauens und zwei Flaggen des Papstes wie auch farbige Transparente: „Wir danken Gott und dem Papst für den Kardinal", „Wahrhaftig der Papst liebt Litauen", „Für die Lebenden gibt es keinen Friedhof, und für einen lebendigen Strom keine Hinder­nisse", „Man begräbt Christus, Christus aber lebt." Den aus dem Zug aus­steigenden Kardinal empfingen die Versammelten mit dem Lied „Marija, Marija", Mädchen in der schmucken Nationaltracht mit Rauten- oder Feld­blumenkränzen gratulierten dem Kardinal mit bunten Blumensträußen, darunter Wiesenblumen und Kornähren symbolisch eingesteckt, und deklamierten ihre Gratulationsworte. In den Augen manches hohen Wür­denträgers der Kirche schimmerten bei dieser überwältigenden Feierlich­keit Freudentränen. Historische Minuten: Litauen empfängt seinen ersten Kardinal. In Gebeten wurde Litauen und seine Kirche Maria anvertraut, und nach dem Singen der Nationalhymmne „Lietuva, Tėvyne mūsų" („Litauen, unsere Heimat") und des Liedes „Lietuva brangi" („Teures Litauen") begleiteten die Gläubigen Kardinal V. Sladkevičius, die Bischöfe und Priester bis zum Priesterseminar. Hier gratulierten dem Kardinal wie­der die versammelten Gläubigen. Etwa zwei Stunden lang klangen im Hof des Priesterseminars litauische Lieder, religiöse Gesänge und es wurde für die eingekerkerten Priester Alfonsas Svarinskas und Sigitas Tamkevičius gebetet. Nachdem sich der Kardinal von der Reise etwas erholt und gestärkt hatte, begleiteten ihn die Gläubigen in die Kathedrale von Kaišia­dorys, wo Priester und eine Menge Gläubige ihn erwarteten. Um 12 Uhr feierte Kardinal V. Sladkevičius gemeinsam mit Erzbischof L. Povilonis und den Bischöfen J. Preikšas, A. Vaičius, R. Krikščiūnas, V. Michelevičius eine Dankmesse. In seiner Rede las der Kardinal die Grüße des Heiligen Vaters Johannes-Paul II. vor und forderte die Gläubigen auf, den in sie gesetzten Erwartungen zu entsprechen und dem Willen Gottes treu zu bleiben.

Der Empfang des zurückkehrenden Kardinals in Moskau war diesmal warm. Der Vorsitzende des RfR, K. Chartschew, übergab dem Kardinal gleich die erste Aufgabe der sowjetischen Regierung: die Erzdiözese Vil­nius aus der Kirchenprovinz Polens herauszulösen, wenn sie auch im „Annuario pontificio" als solche nicht genannt wird, und die Erzdiözese als Metropole de jure direkt Rom unterstellt ist. Da die Katholiken Litauens von einer realen Einmischung der kirchlichen Leitung Polens in die kirch­lichen Angelegenheiten unseres Landes nichts gemerkt haben, betrachten sie diese Frage nicht als aktuell.

Am 12. Juli, dem Tag des seligen Erzbischofs Jurgis Matulaitis, kam ganz Litauen, wie vor einem Jahr, nach Marijampolė. Diesmal aber nicht nur, um vor dem Sarg des Seligen zu beten, sondern auch, um dem Kardinal zu gratulieren. In Nationaltrachten, mit Flaggen Litauens und des Papstes geschmückt, fuhr die Jugend vor den Feierlichkeiten in Autos dem kom­menden Kardinal Vincentas Sladkevičius entgegen. Alle Straßen, die zur Kirche führten, waren voll mit Menschen. Alle warteten geduldig darauf, bis sie mit stürmischem und herzlichem Applaus, durch Zurufe und Lieder dem höchsten Hirten der Katholischen Kirche Litauens ihre Zuneigung und Liebe zum Ausdruck bringen durften. In Art einer Prozession, an der alle Bischöfe Litauens, etwa 200 Priester und eine tausendfache Menge von Gläubigen teilgenommen haben, unter dem Klang des Liedes „Dievas mūsų prieglauda ir stiprybė" („Gott ist unsere Zuflucht und Stärke") wurde S. Eminenz Kardinal V. Sladkevičius in die Kirche von Marijampolė beglei­tet, wo er den feierlichen Gottesdienst des seligen Erzbischofs Jurgis Matulaitis leitete. Während der Predigt, die der Kardinal V Sladkevičius selber hielt, brach sogar einige Male die Solidarität des gläubigen Volkes mit einem in den Kirchen Litauens ungewohnten Applaus durch. Die Gläubigen waren begeistert von der Bescheidenheit ihres Kardinals, seiner außerordentlichen Liebe zur Heimat und dem Volke.

Nach der hl. Messe beteten die Bischöfe, die Priester und die Gläubigen, unter der Leitung des Kardinals vor dem Sarg des seligen Erzbischofs Jurgis Matulaitis eine zu seinen Ehren erstellte Litanei.

Die Freude der Feierlichkeiten wurde ein wenig getrübt dadurch, daß außer den Vertretern der Pfarrei Marijampolė den Delegationen der von auswärts gekommenen Gläubigen nicht erlaubt wurde, ihrem Oberhirten öffentlich in der Kirche zu gratulieren. Nach dem Gottesdienst begleiteten Hunderte von Gläubigen den Kardinal bis zum Pfarrhaus, wo sie vor dem Eingang des Pfarrhauses eine spezielle Veranstaltung vorbereiteten. Ein Gebinde aus Danksagungen an Gott, aus Bezeugungen der Treue zur Kir­che und eine Fülle von Vorsätzen wechselte mit Volksliedern und religiö­sem Gesang. Der Schwierigkeiten und der Verantwortung des Amtes des Kardinals Litauens bewußt, erneuerten die Gläubigen ihren Entschluß, der von Christus gestifteten Kirche, die durch ihre Oberhirten sichtbar wird, treu zu bleiben. Nachdem die Menschenmenge ihrem Oberhirten, Kardinal V. Sladkevičius, gratuliert hatte, hielt sie sich noch lange in der Kirche, auf den Straßen und Plätzen auf. Die Feierlichkeiten des seligen Erzbischofs Jurgis Matulaitis, die am 12. Juli fast bis zum Abend dauerten, erinnerten durch ihre Größe und erhabene feierliche Stimmung an eine Nationalfeier.