Nijolė Sadūnaite auf dem Weg ins Lager

Gleich nach der Gerichtsverhandlung brachte der Bruder von Nijolė Sadü­naitė" seiner Schwester warme Kleidung ins Gefängnis. Der Offizier des KGB-Isolators in Vilnius, Petrauskas, verweigerte jedoch die Annahme. Noch am Abend desselben Tages aber wurde die Gefangene nach Mordovien abtransportiert.

Sieben Tage und Nächte verbrachte Nijolė Sadūnaitė in einer Zelle des Ge­fängnisses in Pskov, einem feuchten, kalten, dunklen und verdreckten Keller­loch, in dem es selbst an Luft mangelte. Während des einwöchigen Aufent­halts — zum Liegen hatte man ihr einen schmutzigen Strohsack hingeworfen, Decken oder Kissen wurden verweigert — erkältete sich Nijolė in diesem kaltfeuchten Gewölbe. Ihre Bitte um Hustenmedizin beantwortete die Auf­sicht mit Anbrüllen: „Krächze doch weiter." Die Gefangene wagte danach nicht mehr, um medizinische Hilfe zu bitten. Eineinhalb Tage dauerte der Aufenthalt in Jaroslavl, wo Nijolė mit einer Kriminellen eingesperrt war. In Gorki verbrachte sie sieben Tage in einer Zelle mit Kriminellen. Die Transit­haft in Ruzajevka dauerte 24 Stunden, schließlich noch fünf Tage und Nächte Haft mit Kriminellen im Gefängnis Potma. Die Zellen waren voller Wanzen, die sich nicht weniger gnadenlos erwiesen als die Bewachung. Schließlich verbrachte Nijole Sadūnaite in Potma noch zweimal 24 Stunden in Einzelhaft.

Die Reise von Vilnius nach Mordovien dauerte vom 20. Juni bis zum 18. Juli. Im Falle des Bahntransportes erfolgt meist Einschließung in Eisenkäfigen, zusammen mit Kriminellen. Die Reiseverpflegung bestand aus Brot, sehr sal­zigem Fisch und Wasser. Nijolė aß weder Brot noch Fisch, sondern trank nur Wasser. In Pskov, Jaroslavl, Gorki, Ruzajevka und Potma gab tes sehr kleine Essensportionen, von denen sie dann kostete.

Im Herbst 1975 wurde das Lager in Mordovien von Geheimdienstlern aus Vilnius besucht. Nijole Sadūnaitė wurde erneut vernommen und gefragt, ob sie das Schlußwort ihrer Gerichtsverhandlung an irgend jemanden in Vilnius weitergegeben habe oder im Geheimdienstisolator in Vilnius, unterwegs nach Mordovien oder erst hier, im Lager? „Während der neuneinhalb Monate Vernehmungshaft im KGB-Isolator Vilnius habe ich die Frage nicht beant­wortet und werde es auch hier nicht tun." Die Geheimdienstler meinten dar­auf, sie wollten ja gar nicht wissen, welcher Person sie den Text übergeben habe, nur den Ort der Übergabe. Auch auf diese Frage ging Nijolė nicht ein. Schließlich mußten die Barnten aufgeben und meinten, sie seien überhaupt nur so nebenbei vorbeigekommen und hätten noch anderes in der Gegend zu besorgen. Die Besucher erkundigten sich abschließend noch nach der allge­meinen Stimmung, ob sie sich nicht etwas langweile, was sonst in der Straf­kolonie los sei — und verschwanden. Während der gesamten Haftzeit er­hielt Nijolė nicht einen Brief aus den USA, obwohl ihr Verwandte u. a. wie­derholt geschrieben haben. Genauso war es bei Briefen aus England und an­deren Staaten. Auch die aus Litauen abgesandten Briefe kamen nicht alle an. Aus Norwegen wurden ihr Lebensmittel (Schokolade) geschickt, die sie nie erhalten hat. Von der Sendung erfuhr sie überhaupt erst, als man von ihrem kärglichen Gefangenenlohn acht Rubel Paketgebühr abzog. Drei Monate später übergab die Lagerverwaltung das Paket Nijolės Bruder. Im Lager Mordovien wurde im Juli 1975 der ukrainische Dichter Vasili Stusas grausam zusammengeschlagen. Nach Bekanntwerden dieses Vorfalls trat Nijolė Sadūnaitė mit weiteren vier politischen Gefangenen, aus Protest gegen die Willkür der Lagerverwaltung, vom 1. bis 5. August in den Hun­gerstreik.