Am 18. September 1979 füllte eine ungewöhnlich große Menschenmenge den Ge­richtshof von Astravas. Die meisten kamen aus Vilnius, Kaunas oder anderen li­tauischen Städten, und nur acht Personen befanden sich darunter, die von der Partei und Sicherheitspolizei abkommandiert waren. Der Gerichtssaal war klein: drei Bänke für das Publikum, wo ca. 30 Leute saßen. Alle anderen drängten sich zwischen den Bänken, an den Seiten und vorn im »Gerichtssaal«. Gerichtsbeamte forderten alle Stehenden auf, den Raum zu verlassen, doch niemand kam der Aufforderung nach. Sie waren zum Teil mehr als 100 Kilometer weit angereist und wollten dafür nicht draußen stehen, während diese ihnen nahestehende Per­son da drinnen verurteilt würde. Einige meinten, daß doch die Abgeordneten der Kommunistischen Jugend den Raum verlassen sollten, da sie die Angeklagte doch überhaupt nicht kennen würden. Diese blieben jedoch wie angewachsen auf ihren Bänken sitzen. Ein schwitzender junger Beamter erklärte, daß alle bleiben könn­ten, wenn der Saal nur größer wäre. Im Moment hielte der Gerichtshof eine Sit­zung im »Lenin-Saal«. Man könne daher nichts machen. Vereinzelt verließen Personen den Saal, andere blieben. Der Gerichtsdiener rief noch ein paar Mal und schwieg dann.

Ein älterer Mann mit einer Zigarette im Mund kam herein und ordnete Papiere auf dem Tisch. Es stellte sich später heraus, daß es der Gerichtsschreiber war. Ei­ne Gruppe Schulkinder wurde in den Saal geführt. Es waren die Zeugen. Die Kin­der wurden begleitet vom Lehrer Lukša, tätig am Gymnasium zu Giriai. Vor der Eröffnung der Verhandlung sprach der Anwalt von Astravas, Savič, mit Angelė Ramanauskaitė und versuchte, die Angeklagte zu überreden, ihn als Ver­teidiger zu nehmen. Er hatte keinen Erfolg. Der Anwalt schlug Fräulein Rama­nauskaitė vor, schriftlich niederzulegen, daß sie seinen Rechtsbeistand ablehnte, was sie auch tat.

In einem anderen Raum des Gerichtshofes saß ein Sicherheitsbeamter aus Mos­kau, der während der vorausgegangenen Verhöre einen ganzen Tag versucht hat­te, Fräulein Ramanauskaitė davon zu überzeugen, daß sie von den »Falken« (Priester, die der Regierung Widerstand leisten) zu allem verführt worden sei und die »Falken« in Wahrheit die eigentlichen Angeklagten seien. Der Prozeß begann um 11.00 Uhr. Der Staatsanwalt Abromovič aus Astravas, der Richter Chalko, die Beisitzenden Zelnuik (eine Frau) und Volkov und der An­walt Savič, dessen Beistand Fräulein Ramanauskaitė abgelehnt hatte, nahmen ih­re Plätze ein.

Der Richter erklärte die Verhandlung zur Anhörung des Falles Angelė Ramanaus­kaitė wegen Übertretung des Gesetzes laut Artikel 139, Absatz 1, des Strafgesetz­buches der Weißrussischen SSR für eröffnet. Boleslavas Ivaškevičius aus Kaunas, Universitätsgraduierter, Litauer, der Litauisch wie Russisch fließend beherrscht, wird als Dolmetscher bestimmt. Der Richter bittet ihn zu übersetzen.

»Die Strafsache wird angehört . . .«, beginnt der Dolmetscher. Es scheint, als ob er weder gut Litauisch noch Russisch spricht. Der Richter prüft, ob alle Zeugen anwesend sind: »Lukša, Tatjana?« »Hier.«

»Avgul, Valentina?« »Nicht hier.«

»Ravoit, Marija?« »Hier.«

»Kutko, Irina?« »Hier.«

»Štūro, Romana?« »Hier.«

»Urbanovič, Rima?« »Hier.«

»Urbanovič, Valentina?« »Hier.«

»Urbanovič, Leonid?« »Hier.«

»Petrik, Viktor?« »Hier.«

»Štūro, Lilija?« »Hier.«

»Kasevič, Viktor?« »Hier.«

»Syso, Darija Ivanovna?« »Hier.«

»Bogačiov, Nikolaj Ivanovič?« »Hier.«

»Krupica, Michail Ivanovič?« »Hier.«

Der Richter weist die Zeugen an, sich in einen anderen Raum zu begeben, bis sie aufgerufen werden. Sodann beginnt der Richter, die Angeklagte zu befragen: »Nach- und Vorname?«

»Angelė Ramanauskaitė, Tochter des Mykolas.« »Wann sind Sie geboren?« »Am 11. Februar 1956.« »Wo geboren?«

»Rayon von Lazdijai, Bezirk Kapčiamiestis.«

»Nationalität?«

»Litauisch.«

»Parteimitglied?«

»Nicht Parteimitglied.«

»Verheiratet?«

»Nein.«

»Wo arbeiten Sie?«

»Als Laborantin im Volksinstitut für die Fortbildung von Landwirtschaftsexper­ten.«

»Wo wohnen Sie?«

»In Kaunas, Raudondvaris, Pakalnės g. Nr. 29.« »Haben Sie die Anklageschrift erhalten?« »Ja, letzten Freitag.« »Am 14.?« »Ja.«

»Die Anklageschrift wurde am 6. September abgeschickt.« Der Richter ist er­staunt, daß Fräulein Ramanauskaitė die Schrift erst so spät erhielt. Der Dolmet­scher hat große Mühe bei der Übersetzung und ruft dadurch ständiges Gelächter im Saal hervor.

Der Staatsanwalt Urbanovič erhebt den Einwand, daß die Verhandlung vertagt werden solle, weil Fräulein Ramanauskaitė die Anklageschrift zu spät erhalten hätte. Die Angeklagte bittet um Aufklärung, warum die Verhandlung vertagt werden soll. Der Richter erklärt, daß die Angeklagte die Schrift wenigstens drei Tage vor der Verhandlung hätte erhalten müssen. Dies wäre hier nicht der Fall. Der Richter hält inne, zählt, stellt fest, daß wirklich drei Tage verstrichen sind und läßt die Verhandlung fortsetzen. Die Zusammensetzung des Gerichts wird genannt:

»Präsident des Volksgerichts Chalko, Volksbeisitzende Zeniuk und Volkov, Oberstaatsanwalt und Staatsanwalt des Rayons Astravas, Abromovič. Die Inter­essen der Angeklagten werden von Anwalt Savič wahrgenommen.« Der Dolmetscher übersetzt:

»Die Strafsache ... wird verhandelt... Ostrovec ... Wie sagt man das auf Litau­isch? Ah... Volksgerichtshof von Astravas... Vorsitzender Richter... Chal­ko ... Volksbeirat Zeniuk und Volkov ... vorgetragen von Staatsanwalt Abromo­vič für das Rayon Astravas... der Fall, der von Anwalt Savič verteidigt wird...« »Ich verweigere, die Dienste des Anwalts anzunehmen«, sagt Fräulein Ramanaus­kaitė.

Der Richter unterbricht sie und klärt sie auf, daß sie ihre Meinung bezüglich des Anwalts später sagen könne.

»Angeklagte Ramanauskaitė, betrauen Sie die Mitglieder des Gerichtes — Sekre­tär und Staatsanwalt — Ihren Fall zu untersuchen?«

»Glauben Sie an den Staatsanwalt . . .«, übersetzt der schwitzende Dolmetscher. »Ich stimme zu, daß sie den Fall untersuchen«, antwortet Fräulein Ramanauskaitė. Über die Vertrauenswürdigkeit des Gerichtes befragt, murmelt der Anwalt: »Ich vertraue.«

Der Richter klärt die Angeklagte über ihre Rechte auf, während der Dolmetschter übersetzt:

»Sie haben das Recht . . . Beschwerde einzulegen ... Sie haben das Recht . . . Schlußwort . . . hm . . .«

»Haben Sie alles über Ihre Rechte verstanden?« fragt der Richter. »Ich habe nichts verstanden.«

Der Richter erklärt noch einmal geduldig, daß die Angeklagte das Recht habe, Zeugnis abzulegen, Erklärungen zu geben, Fragen zu stellen, bei der Argumenta­tion des Gerichtes mitzuwirken, ein Schlußwort an das Gericht zu richten. Der Dolmetscher übersetzt dieses Mal besser. »Haben Sie verstanden?« fragt der Richter. »Ich habe verstanden.«

Angelė Ramanauskaitė verzichtet auf einen Anwalt. Der Staatsanwalt erhebt sich und erklärt, ein Anwalt habe das Recht, anwesend zu sein, da die Verhandlung durch einen Dolmetscher geführt wird und der Staatsanwalt den Fall dem Gericht vorträgt.

»Ich verlange, daß der Anwalt den Saal verläßt«, sagt die Angeklagte, doch der Richter erlaubt Anwalt Savič nicht, sich zu entfernen.

»Dann lassen Sie ihn sitzen«, gibt die Angeklagte nach, »aber ich brauche ihn nicht.«

Der Staatsanwalt fordert den Pflichtverteidiger Klimčienė auf, der Verhandlung beizuwohnen. Der Anwalt meint, daß die Anwesenheit des Pflichtverteidigers überflüssig sei, da der Staatsanwalt durchaus in der Lage sei, den Fall allein vor­zubringen. Doch das Gericht bejaht den Vorschlag des Staatsanwaltes. Lehrer Klimčienė des Giriai Gymnasiums sitzt neben dem Staatsanwalt. Der Richter verliest die Anklageschrift:

»Angele Ramanauskaitė, Tochter des Mykolas, ist angeklagt, Artikel 139, Absatz 1 des Strafgesetzbuches der Weißrussischen SSR verletzt zu haben: Am 30. Juli 1979 leitete die Staatsanwaltschaft in Astravas ein Verfahren ein, wegen religiöser Unterweisung kleiner Kinder, was eine Verletzung der gesetzlichen Anordnungen darstellt.

 

Bei der Voruntersuchung stellte sich folgendes heraus: Nachdem sie aus der Litau­ischen SSR in das Dorf Giriai, Rayon Astravas, gekommen war, versammelte Angelė Ramanauskaitė, Tochter des Mykolas, in der Wohnung des Bürgers Luk­ša am 18., 19. und 20. Juli 1979 minderjährige Schulkinder aus den unteren Klas­sen des Gymnasiums von Giriai um sich und unterrichtete sie in Religion mittels religiöser Literatur.

Die Angeklagte Angelė Ramanauskaitė bestritt ihre Schuld bei dem Verhör und bestätigte, daß sie am 17. Juli 1979 aus Kaunas nach Giriai gekommen war. Der Grund ihrer Reise war, litauische Folklore zusammenzutragen. Sie sagte, daß sich einige religiöse Bücher bereits im Besitz ihres Vaters befunden hätten und der Rest ihr von einem Priester geschenkt worden war, als sie noch ein Kind war. In Giriai traf die Angeklagte die Kinder, brachte sie alle zusammen und sprach mit ihnen über das Lernen, über die Kenntnisse der litauischen Sprache und lehrte sie einige Spiele. Sie leugnete, die Kinder in Religion unterrichtet zu haben. Am 18. und 19. Juli 1979 besuchte sie die Wohnung von Lukša, unterrichtete die Kinder jedoch nicht in Religion. Die Schuld von Angelė Ramanauskaitė ist jedoch völlig erwie­sen durch den Tatbestand einer Straftat.

 

Der Zeuge T. V. Lukša bestätigte, daß ein junges Mädchen, das sich Angelė nannte und Studentin aus Kaunas sei, mehrere Male nach Giriai, Rayon Astravas, bekommen sei. Angelė sei am 18. Juli in seine Wohnung gekommen und hätte ge­sagt, sie wolle Jungen und Mädchen zusammenbringen und sie in der Wohnung des Zeugen in Religion unterweisen. Als sie Anfang 1979 zum zweiten Mal kam, gab Angelė dem Zeugen ein religiöses Büchlein. Angelė hätte am 18., 19. und 20. Juli 1979 minderjährige Kinder unterrichtet. Sie erzählte ihnen von Gott und lehr­te sie Gebete.

 

Die Zeugin M. R. Ravoit sagte aus, daß am 17. Juli 1979 sie und einige Freunde ein Mädchen, das sich Angelė nannte, in Giriai, Rayon Astravos, getroffen hät­ten. Sie hatte sie bereits im Winter 1979 getroffen. Angelė bat die Zeugin, in die Wohnung von Lukša am 18. Juli 1979 um 15.00 Uhr zu kommen, wo Angelė ih­nen dann Religionsunterricht erteilen würde. Als die Zeugin zum verabredeten Zeitpunkt kam, waren dort Schulkinder aus Giriai. Angelė erzählte von Gott und lehrte sie Gebete. Das alles fand am 18. und 19. und 20. Juli 1979 statt. Die Zeugin I. E. Kutko sagte aus, daß am 17. Juli 1979 sie und ihre Freundinnen ein unbekanntes Mädchen in Giriai getroffen hätten. Sie sagte ihnen, sie sei Stu­dentin, und lud sie ein, um 15.00 Uhr in die Wohnung von Lukša zu kommen. Sie sagte weiter, daß dort auch andere Kinder sein würden. Viele Schüler aus Giriai und Dorfbewohner kamen zu dem Zeitpunkt in die Wohnung von Lukša. Das Mädchen sprach von Gott, lernte mit ihnen Gebete und lud sie ein, an folgenden Tagen wiederzukommen.

 

Weiterhin folgten Zeugenaussagen von V. V. Avgul, R. B. Štūro, V. B. Urbano-vič, L. B. Urbanovič, V. P. Petrik, L. B. Štūro, V. G. Kasevič und der Bericht vom 20. Juli 1979.

Wie im Untersuchungs- und Festnahmeprotokoll festgehalten wurde, ist Fräulein Angelė Ramanauskaitė Literatur religiösen Inhalts abgenommen worden. Im Protokoll vom 13. August 1979 steht, daß die sichergestellte Literatur dazu be­stimmt war, minderjährige Kinder in der Wahrheit der Religion zu unterweisen. Aufgrund der obengenannten Tatsache wird Angelė Ramanauskaitė, Tochter des Mykolas, geboren am 11. Februar 1956 in Litauen, in Kapčiamiestis, Rayon von Lazdijai, Litauerin, gute Allgemeinbildung, ledig, nicht vorbestraft, Laborantin in dem Kaunas-Volksinstitut für die Fortbildung von Landwirtschaftsexperten, wohnhaft in Kaunas, Raudondvaris, Pakalnės, g. Nr. 29, angeklagt, am 18., 19. und 20. Juli 1979 Kinder in der Wohnung des Lukša in Religion unterwiesen zu haben unter Benutzung religiöser Literatur, indem sie eigens zu diesem Zweck aus der Litauischen SSR in das Dorf Giriai, Rayon Astravas, gefahren ist. Sie machte sich damit strafbar laut Artikel 139, Absatz 1 des Strafgesetzbuches der Weißrus­sischen SSR.«

 

Nachdem die Anklageschrift verlesen war und der Dolmetscher alles in etwa über­setzt hatte, fragte der Richter Fräulein Ramanauskaitė: »Haben Sie die Anklage verstanden?« »Nein.«

»Sie sind angeklagt, nach Giriai gekommen zu sein, um dort am 18., 19. und 20. Juli 1979 Religionsunterricht bei minderjährigen Gymnasiasten in der Wohnung des Lukša erteilt zu haben. Verstehen Sie die Anklage?«

»Nein. Ich meine, daß über Gott und Religion zu reden und Kinder Gebete zu leh­ren kein Verbrechen ist«, erklärte die Angeklagte. »Geben Sie Ihre Schuld zu?« »Nein.«

Der Staatsanwalt schlägt daraufhin dem Gericht folgenden Verhandlungsablauf vor: Zuerst die Angeklagte Ramanauskaitė zu hören, dann die Zeugen Sizo, Kru-pica und andere und zuletzt Bogačiov. Beide, der Rechtsanwalt und die Ange­klagte, stimmen dem Vorschlag zu. Der Richter bestätigt den Entschluß des Ge­richtes, zuerst Fräulein Ramanauskaitė, dann die Zeugen zu hören und zum Schluß die Beweise vorzulegen.

Der Richter wendet sich an die Angeklagte und verlangt ihre Bestätigung zu den Beschuldigungen.

 

»Alles wurde in meiner Aussage bei dem Verhör festgehalten. Ich weigere mich, noch weiter an der Verhandlung teilzunehmen«, sagt die Angeklagte. »Sie weigern sich, das zu bestätigen?« »Ich verweigere es.«

Der Richter unterbricht die Verhandlung für fünf Minuten. Lärm brach im Ge­richtssaal aus. Einige Leute schimpften mit dem Dolmetscher: »Litauer wollen Sie sein und sprechen nicht einmal richtig litauisch?« Dieser bekräftigte, daß er wirk­lich Litauer sei.

 

Ein Kuchen, den jemand mitbrachte, geht von Hand zu Hand. Jeder nimmt et­was und bietet es den »Gästen« an, welche von der Partei geschickt wurden. Diese winken ab, sie wollen nichts. »Haben Sie keine Angst, er ist nicht vergiftet. Neh­men Sie.« Er wird anderen angeboten. Einige nehmen und essen davon. Während der Pause steigt ein langbeiniger junger Mann durch das Fenster. Eine große Gruppe junger Leute aus Kaunas hatte keinen Einlaß in den Gerichtssaal gefun­den. Jemand von der Kommunistischen Jugend rief sofort den Gerichtsdiener. Dieser schimpfte, daß das noch schlimm enden würde. Der Major der Miliz, der zu dem Prozeß abkommandiert worden war, ermahnte jeden, und damit endete der »Vorfall«. Jemand hatte scheinbar den übereifrigen weißrussischen Beamten beruhigt; die Menge sollte nicht provoziert werden.